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»Beste literarische Aufklärung«

Der Übersetzer Eike Schönfeld hat bereits Klassikerautoren wie Vladimir Nabokov, J.D. Salinger, Oscar Wilde und Sylvia Plath ins Deutsche übertragen. Für den Insel-Verlag hat er sich nun George Orwells Klassiker »1984« vorgenommen. Einige Entscheidungen haben ihn dabei besonders beschäftigt.

Warum lohnt sich die Lektüre von George Orwells Romanen heute noch?
»1984« lohnt auch heute noch die Lektüre, weil es sehr anschaulich und mit der passenden Sprache (nüchtern, präzise, mit schönen Prisen Witz und Sarkasmus hier und da) die Mechanismen des Autoritarismus und seines Terrors freilegt. Nicht zufällig war das Buch nach Trumps Amtsantritt 2017 schnell ausverkauft und musste eilig nachgedruckt werden. Aber überall auf der Welt, auch und gerade in der westlich-kapitalistischen, sprießen die – gewählten – Autokraten, und auch wenn ihre Regimes nicht die Ausmaße von Orwells Dystopie erreichen, zeigen sie doch, wie die Hirne mittels Sprache beziehungsweise deren Missbrauch vernebelt werden. Der Roman ist also beste literarische Aufklärung. Und sein Autor war, auch wenn er immer wieder von rechts vereinnahmt wird, demokratischer Sozialist.

Welche Folgen hat die aktuelle Bedeutung seiner Romane für eine Neuübersetzung?
Für mich eigentlich keine Folgen. Ich habe mich durchaus im Bewusstsein der Aktualität und Bedeutung des Romans an die Arbeit gemacht, bin aber letztlich wie bei jeder anderen Übersetzung vorgegangen: Möglichst genaue Wiedergabe von Gehalt und Atmosphäre des Romans (seines Inhalts sowieso) mit meinen Worten, die zwangsläufig einer anderen Zeit als die Orwells angehören, aber dennoch nicht allzu modern sein sollten.

Gab es bestimmte sprachliche Wendungen oder Begriffe, für die Sie aktuellere Entsprechungen finden mussten?
Begriffe oder Wendungen abzuwandeln oder zu aktualisieren setzt voraus, dass ich meine Vorgängerversionen gelesen bzw. mich daran orientiert oder davon abgegrenzt habe. Das habe ich bei keiner meiner bisherigen Neuübersetzungen gemacht, also auch hier nicht, von sehr sporadischen kurzen Blicken in Michael Walters Übersetzung abgesehen. Das ist keine Geringschätzung der Arbeit der Kollegen, sondern die Vermeidung ihres – unausweichlichen – Einflusses, positive wie negativ.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen Eike Schönfeld. Insel Verlag 2021. 382 Seiten. 20,00 Euro. Hier bestellen

Wie unterscheidet sich Ihre Übersetzung von Walters Text?
Ich kann zwei Punkte nennen, die bei mir anders als bei Walter geworden sind und über die ich lange gegrübelt habe: Bei mir duzen sich die Mitglieder der Partei, so wie es auch die Kommunisten und Sozialdemokraten taten und weiterhin tun, andere wie Mrs. Parsons oder Mr. Charrington werden gesiezt. (Eine Sache, die bei Übersetzungen aus dem Englischen immer latent knifflig ist.)
Der andere ist der Hauptslogan »Big Brother Is Watching You«. Da fand ich Walters »Der große Bruder sieht dich« etwas zu harmlos. Letztlich habe ich mich für »… hat dich im Blick« entschieden, weil das Zwingende, das Drohende des Plakats eben der Blick ist und der Spruch auch einen ganz guten Rhythmus hat.
Das Wort »Neusprech« gefällt mir eigentlich nicht, aber da der Begriff schon seit den achtziger Jahren eingeführt ist, Tendenz stark steigend, zunehmend auch abseits von »1984«, hat sich weiteres Nachdenken darüber im Grunde erübrigt.

Welche Passage hat Sie beim Übersetzen mit Blick auf die Gegenwart besonders bewegt?
Da gab es viele. Beispielsweise, wie sehr in 1984 das Private bis hin zum Sex (als privater Widerstand) als politisch dargestellt wurde; wie gut die Gehirnwäsche funktionierte, zumal bei Kindern, die dann selbst ihre Eltern denunzierten, was ja in Nazi-Deutschland geschah; wie sehr heute Fake News und Twitterlügen so wie die Propagandalügen im Buch verfangen; wie im Buch die Dauerüberwachung von den meisten akzeptiert war, so wie wir heute unsere Nutzerdaten bereitwillig den GAFAM-Konzernen des Überwachungskapitalismus überlassen – verglichen damit war die Volkszählung vor gut estiert wurde, geradezu läppisch.

1 Kommentare

  1. […] Michael Walters Übersetzung »Der große Bruder sieht Dich« übernehmen. Gisbert Haefs und Eike Schönfeld fanden das zu harmlos und entschieden sich für »Der große Bruder beobachtet Dich« (Haefs) und »Der große Bruder hat […]

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