Seit Anfang Dezember setzt sich das Dresdener Kunsthaus mit den gegenwärtigen Perspektiven von Künstlern auf die Frage nach der Identität in Europa auseinander. Ein Teil der Ausstellung »Vot ken you mach?« widmet sich den jüdischen Identitäten im zeitgenössischen Comic.
Als ein Buch, um Juden zu retten, wird das Skizzenheft des expressionistischen Malers Marc Chagall in Joann Sfars zweibändigem Comic Chagall in Russland vorgestellt. Sie müssten nur in die Seiten springen, dann seien sie in Sicherheit, lässt Sfar seinen Comichelden zu dessen jüdischen Freunden sagen, während im Bildhintergrund schon die Gewehr und Fackeln schwingenden Kosaken angeritten kommen, um das Pogrom in Kischinjow zu verüben.
Chagalls Skizzenheft kann man auch als eine Metapher für Sfars Comics deuten, in denen das Judentum einen festen Platz hat und als Kulturgut »gerettet« wird. Der Franzose mit jüdischen Wurzeln hat mit seinen Erzählungen der jüdischen Kultur wie kaum ein zweiter Comiczeichner einen Gedenkstein gesetzt. Es gibt neben Sfar aber unzählige andere Comiczeichner, die in ihren Werken Fragen der jüdischen Identität ausloten. Allein in den vergangenen Jahre sind zahlreiche Comics dieser Ausrichtung erschienen, die Publikationsliste belegt dies eindrucksvoll: sie reicht von Sarah Glidden (Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger) und Ben Katchor (Der Jude von New York) über Joe Kubert (Yossel, 19. April 1943), Rutu Modan (Das Erbe, Blutspuren) und James Sturm (Markttag) bis hin zu Reinhard Kleist (Der Boxer) und Simon Schwartz (Drüben). Dazu kommen die wiederaufgelegten Klassiker von Robert Crumb (Kafka, Immer Ärger mit den Frauen), Will Eisner (Ein Vertrag mit Gott, Lebensbilder, Das Komplott) oder Art Spiegelman (Maus, Breakdowns, Im Schatten keiner Türme, Metamaus), in denen sie das Jüdischsein verhandelt haben.
All diese Comics stehen im Mittelpunkt von »Wurzellose Kosmopoliten«, einer zum vertiefenden Lesen einladenden Präsentation von Comics zur jüdischen Identität in Europa, den USA und in Israel, die vor wenigen Tagen im Kunsthaus Dresden eröffnet wurde. Ergänzt werden sie einerseits von Klassikern wie Hugo Pratts Corto Maltese, in dem das Thema der jüdischen Identität in der Person des Wissenschaftlers Jeremiah Steiner nur am Rande behandelt wird, und andererseits von wenig bekannten Titeln wie Dino Battaglias vor über zwanzig Jahren erschienene Golem-Adaption, die den Leser direkt und ohne Umschweife mit dem Thema konfrontiert.
Die jüdische Identität wird hier weit gefasst und als ein flottierend-schwebendes Etwas verstanden, dessen identitätsstiftende Wurzeln immer wieder auch ins Leere greifen. Wenn jüdische Erinnerung nach Ausschwitz lediglich »ein Konstruktionsprozess« ist, dann ist der Comic das ideale Medium, dies zu verhandeln. Denn mit den gezeichneten Bildern sperrt er sich gegen jeden Anflug von Realismus und Authentizität, während er zugleich alle Möglichkeiten der Verdichtung von Mythologie, Tradition, Narration und Interpretation nutzen kann. Die über 30 Comics, die in einer Art Bücherhain im Foyer des Dresdener Kunsthauses ausliegen, zeugen vielfältig davon.
Die Comicschau, die im Titel auf die von Josef Stalin initiierte antijüdische Kampagne von 1948 bis 1953 Bezug nimmt, hat durch die Debatte um Martin Heideggers Schwarze Hefte und den darin entdeckten antisemitischen Tönen – der Philosoph spricht u. a. von der »Weltlosigkeit des Judentums« als Ausdruck der wurzellosen Moderne – eine ungeahnte Aktualität gewonnen. In Dresden wird Heideggers hanebüchene These aber nicht direkt aufgelöst, sondern die Besucher müssen die Wurzeln und Anker des Judentums selbst in den ausgelegten Comics finden.
Eine kleine geheftete Begleitbroschüre bietet erste Hinweise, wo diese Wurzeln sein könnten – etwa in den jüdischen »(Migrations-)Spuren in Amerika« oder den etablierten Traditionen der Juden in »Europa bis 1933«. Anhaltspunkte, nach Wurzelwerk zu suchen, liefern zweifellos auch die Comics, die sich direkt mit den Themen »Shoah/Antisemitismus« oder »Juden und Europa heute« auseinandersetzen. Allein entdecken muss sie der aufgeschlossene Besucher allein, blätternder- und lesenderweise. Das kann von Vorteil sein, da es zur bewussten und vertieften Auseinandersetzung mit den Comics herausfordert. Die Wirkung kann aber auch nachteilig sein, da in der Comiclektüre ungeübte Leser möglicherweise hilflos und überfordert von dannen ziehen könnten.
Die begleitende Sonderschau »Luftmenschen. Zwischen Algier und Odessa unterwegs in den Bilderwelten des französischen Zeichners Joann Sfar« ist eine sinnvolle Ergänzung zu den »Wurzellosen Kosmopoliten«. Die bis Ende März ausgestellten großformatigen Einzelseiten aus Sfars historisch-jüdischen Comic-Serien Professor Bell, Die Katze des Rabbiners, Klezmer, Chagall in Russland sowie der zuletzt erschienenen herzerweichend-urkomischen Komödie Vampir bieten den Boden, in dem sich trefflich nach den Wurzeln des kosmopolitischen Judentums suchen lässt. Schließlich hat es in Sfars Werk Zuflucht und Rettung gefunden.
Die Schau stellt in acht Etappen zahlreiche der Sfar’schen Persönlichkeiten vor, die auf die eine oder andere Art fliegen können und als solche die Verbindung zwischen den jüdischen Lebenswelten in Algier, Jerusalem, Odessa und Paris sichern. Diese an Chagalls »Luftmenschen« erinnernden Figuren stellen gleichermaßen die »Wurzellosigkeit« wie den Kosmopolitismus des Judentums in Sfars Erzählungen sicher. Dreh- und Angelpunkt ist dabei Paris als Sehnsuchts- und Fluchtort, der die Geschichten des Franzosen – gewissermaßen vor seiner Haustür – zusammenführt. Deutlich wird dabei, dass sich die mythenreichen Erzählungen des Franzosen zu einem jüdisch-kulturellen Gesamtkunstwerk verdichten, mit dem Sfar seinen Lesern das weltläufige Kulturjudentum erschließt.
Diese serienübergreifende Narration kann man am besten mit einem ebenso vergnüglichen wie melancholischen Bild beschreiben: darauf zu sehen ist Sfars Chagall, der malend festhält, wie die Katze des Rabbiners mit Professor Bell zu Klezmer tanzt. Dieses Bild steht symbolisch für die geistige, intellektuelle und persönliche Freiheit, die sich aus der griechischen Philosophie und der Dialektik der europäischen Moderne speist. In deren Spannungsfeld haben die fliegenden Kosmopoliten, hat das Kulturjudentum, ihre Wurzeln geschlagen. Dies belegen nicht nur Joann Sfars Werke, sondern der spielerisch-intellektuelle Umgang der vorgestellten Comicautoren mit der jüdischen Identität.
Im Jüdischen Gemeindehaus in Dresden werden unter dem Titel »Dresden 5774/Normal jüdisch« außerdem vier Comicstrips der Zeichnerin Elke R. Steiner ausgestellt. Darin erzählt sie auf engstem Raum die Lebensgeschichten von vier jüdischen Dresdenern – auch dabei geht es um das Finden einer Identität, in der das eigene Jüdisch-Sein eine Rolle spielt. Die schwarz-weiß umgesetzten Erzählungen der in der ehemaligen Sowjetunion geborenen Dresdener Juden zeigen einerseits, dass es eine jüdische Normalität in Dresden gibt, machen andererseits aber auch deutlich, mit wie vielen Vorurteilen und Herausforderungen Juden in Deutschland immer noch konfrontiert sind.
Die bunte Mischung von »Wurzellose Kosmopoliten« als aktivierende Comicpräsentation an verschiedenen Orten bietet ein Maximum an Zeichen- und Erzählstilen, an Sujets und Herangehensweisen. Comic-Neulinge, die sich von der Text-Bild-Lektüre nicht so leicht abschrecken lassen, können sich hier ideal an der Lektüre der Neunten Kunst versuchen. Die berücksichtigten Comics belegen in ihrer Vielfalt, dass zumindest ein Teil der jüdischen Kultur in ihren Seiten Schutz gefunden hat.
Die Comicausstellungen sind Teil des Kulturprojekts »Vot ken you mach?«, in dessen Zentrum eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden steht. Noch bis zum 4. Mai 2014 werden dort u. a. Werke von Yael Bartana, Amit Epstein, Karolina Freino, Eduard Freidmann, Sharone Lifschitz, Anna Schapiro, Shira Wachsmann und Claire Waffel gezeigt. Zum Rahmenprogramm gehören außerdem Filme, Konzerte, Lesungen und Gespräche sowie die drei Comicausstellungen:
- »Wurzellose Kosmopoliten« | Kunsthaus Dresden. Vom 21.1.2014 – 4.5.2014
- »Luftmenschen« | Kulturrathaus Dresden. Vom 21.1.2014 – 28.3.2014
- »Dresden 5774/Normal jüdisch« | Jüdisches Gemeindehaus am Hasenberg. Vom 14.1.2014 – 23.3.2014
[…] hatten bei der Eröffnung der Ausstellung Ihrer Bilder in Dresden bereits darüber […]