200.000 Menschen wurden im Zuge der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktionen zwischen 1939 und 1945 ermordet. Götz Aly hat die Geschichte dieser Massenmorde untersucht und mit seiner Studie »Die Belasteten« den Opfern den Gedenkstein gesetzt, der ihnen bis heute verweigert wird.
Wenn man auf der Basis der durchschnittlichen Kohortenfertilität vorsichtig kalkuliert, dann hat jeder achte Deutsche einen nahen Verwandten bei den Vernichtungsaktionen von Behinderten, psychisch Kranken, Dementen, geistig Gebrechlichen und von Geburt an Geschädigten, von Tuberkulosekranken, »Asozialen« und Kriminellen durch die Nationalsozialisten verloren. Zehn Millionen Deutsche hätten einen Grund, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, den Schicksalen ihrer Verwandten nachzugehen, die Geschichte aufzuarbeiten, doch über die Euthanasiemorde im Dritten Reich wurde in der deutschen Gesellschaft ein Tuch des Schweigens geworfen. Wurden die »Behinderten«, »Geisteskranken« und »Krüppel«, so die NS-Terminologie, von den Nationalsozialisten als »unwertes Leben« vernichtet, so werden sie heute ein zweites Mal als Unpersonen behandelt, indem man ihr Schicksal ignoriert – politisch und gesellschaftlich.
Götz Aly macht diesem gesellschaftlichen Totschweigen mit seiner Studie Die Belasteten ein Ende. Seit der Geburt seiner Tochter Karline, die als Baby an einer Streptokokkeninfektion erkrankte und einen schweren zerebralen Schaden davontrug, beschäftigt ihn das Thema der »Euthanasiemorde«, schreibt er in seinem Vorwort. Der Tochter hat er sein Buch gewidmet, sicherlich auch, weil sie ihm täglich vor Augen hält, dass, wenngleich sie es »nicht leicht hat im Leben«, sie doch eine unverwechselbare Persönlichkeit ist.
Hat man sich durch Götz Alys erschlagende Studie gelesen, bleibt man mit dem Gedanken zurück, dass die Auseinandersetzung mit dem kalkulierten Ermorden von versehrten Menschen durch die Nationalsozialisten vor dem Hintergrund dieser täglichen Erfahrung umso erschlagender gewesen sein muss, denn die hier aufgezeigte Willfährigkeit und eilfertige Bereitschaft, schon bei geringsten Abweichungen von der standardisierten Entwicklung zum schnellen Töten zu greifen, ist einfach nur erschütternd.
Götz Alys Studie ist vor allem ein Exempel für eine empirisch unterfütterte und faktenbasierte Untersuchung der Euthanasiemorde unter den Nationalsozialisten. Dies versetzt ihn in die Lage, dem nachzukommen, was seiner Ansicht nach das wichtigste überhaupt einer solchen Studie sein kann: »Sie [die Opfer] sollen nicht länger von Amts wegen totgeschwiegen werden. Dazu gehört zuallererst die öffentliche Nennung ihrer Namen.« Das erklärt auch, warum er ausführlich aus »Patientenakten« und Briefen zitiert und weshalb in diesem Buch manchmal einfach nur Listen mit Namen von Menschen abgedruckt sind, die im Namen der »Sterbehilfe« zwischen 1939 und 1945 ermordet wurden. Götz Aly gibt sich nicht zufrieden, das Thema der Euthanasie anzugehen und historisch abzuarbeiten, sondern er verfolgt hier auch ein moralisches Anliegen: er will den als Unpersonen ermordeten Menschen ihre Persönlichkeit zurückgeben – öffentlich, für alle sichtbar.
Aly rückt mit seiner Studie ein historisches Bild zurecht, das sich in den Köpfen der Deutschen festgesetzt hat. Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass die Euthanasiemorde an den versehrten und geschädigten Menschen im Dritten Reich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rasseideologie stattgefunden haben. Seine Rechercheergebnisse haben aber ein anderes, in anderer Weise schockierendes Bild zutage gefördert. Die Nationalsozialisten ermordeten zwischen 1939 und 1945 insgesamt 200.000 Menschen, weil diese als nutzlose Subjekte als unnötige »Belastung« für das Volkskollektiv galten. Der eugenischen Bevölkerungspolitik im Dritten Reich lag eine ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkulation zugrunde, die es aus Sicht der Nationalsozialisten erforderlich machte, sich »von der sozialen und materiellen Last chronisch Kranker zu befreien«; was hieß, die »funktionsgestörten Glieder« zugunsten der »funktionstüchtigen Mehrheit« zu beseitigen.
Adolf Hitlers oberster Propagandist Goebbels begründete die ideologische Grundlage der sozio-ökonomischen Argumentation der Nationalsozialisten zu den Euthanasieaktionen, als er erklärte, es sei »unerträglich, dass während eines Krieges Hunderttausende für das praktische Leben gänzlich ungeeignete Menschen, die vollkommen verblödet sind,und niemals mehr geheilt werden können, mitgeschleppt werden und den Sozialetat des Landes dermaßen belasten, dass für eine aufbauende Tätigkeit kaum noch Mittel und Möglichkeiten übrigbleiben.« Und je länger der Krieg dauerte und je größer die Not im Land wurde, umso großzügiger weiteten die Nationalsozialisten den Personenkreis aus, der von den Massenmorden betroffen war. Tuberkulosekranke, arbeitsunfähige Zwangsarbeiter, schwererziehbare Jugendliche, Kriminelle sowie Demente oder anderweitig Verwirrte gerieten als in den Fleischwolf der Euthanasiemaßnahmen, weil sie die Krankenhausbetten für die kriegsverwundeten und produktiven Teile der Bevölkerung belegten, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu liefern. »Die Beteiligten ermordeten die Insassen psychiatrischer Anstalten … aus naheliegenden Nützlichkeitserwägungen, aus purem Utilitarismus.«
Die massive Vernichtungsaktion von tausenden arbeitsunfähigen kranken Menschen war ohne die tätige Mithilfe des medizinischen Personals aber nicht möglich, »das Morden geschah im klinischen Alltag, zwischen allen anderen üblichen therapeutischen und pflegerischen Tätigkeiten«. Götz Aly zeigt auf, wie sich der Gedanke, dass die Beseitigung der »geistig völlig Toten« – so die Bezeichnung für die von Geburt an schwer geistig behinderten Menschen – keine unmoralische Handlung ist, selbst von Krankenschwestern, Ärzten und Psychologen verinnerlicht wurde. »Ich möchte auch annehmen, dass wir Assistenzärztinnen alle positiv zur Euthanasie an geisteskranken Kindern standen. Ich habe jedenfalls nicht gemerkt, dass irgendeine von uns der Euthanasie ablehnend gegenüberstand«, zitiert Aly die in Hamburg aktive Ärztin Ingeborg Wetzel.
Das medizinische Personal war in die Vernichtungsaktionen in vorderster Reihe eingebunden. Krankenschwestern und Ärzte wurden an der Auswahl der Todgeweihten Personen aktiv beteiligt, machten Vorschläge zur effizienteren Abwicklung der Umlagerung in die Massenmordeinrichtung und waren sogar in den Gaskammern mit aktiv. Dazu kam das »wissenschaftliche Interesse« von Medizinern und Psychologen, den Ursachen der Schädigung auf den Grund zu gehen. Götz Aly belegt detailliert und gewissenhaft, wie Wissenschaft und Massenmord Hand in Hand gingen. Die Angestellten der kaiserlichen Wissenschaftseinrichtungen bestellten sich förmlich ihre Leichen oder deren Organe, um ihre kruden Forschungen zu betreiben. »Insgesamt habe ich 697 Gehirne erhalten, … ob ich sie freilich alle histologisch genauer untersuchen werde, steht dahin«, schrieb Julius Hallervorden vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin an den medizinischen Leiter der Aktion T4, dem zentralen eugenischen Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten, Hermann Paul Nitsche.
Aly zeigt, wie die Professoren und Doktoranden der kaiserlichen Forschungseinrichtungen noch Jahre später mit den mithilfe der Euthanasieprogramme geschaffenen Grundlagen wissenschaftliche Arbeiten publizierten. Die Kombination von Morden und wissenschaftlichen Fortschritt wurde schließlich zum fast wichtigsten Standbein der Euthanasiemaßnahmen, weil es neben dem sozioökonomischen Argument noch eine weitere moralische Rechtfertigung lieferte. Eine perverse Logik, die erschreckenderweise in vielerlei Hinsicht aufging. So brachten Ärzte die Angehörigen durch tendenziöse und ungenaue Angaben dazu, dass diese oftmals selbst dann »Behandlungen« zustimmten, wenn diese mit einem außerordentlich hohen Todesrisiko belastet waren. Man sprach dann nicht von Mord oder Euthanasie, sondern von »sehr eingreifenden Therapien« und davon, »eine Heilung mit allen Mitteln versuchen zu wollen«.
Die Massenmorde von Behinderten und verschiedentlich versehrten Menschen im Dritten Reich ist eine gesellschaftliche Last, die es gemeinsam zu tragen und zu schultern gilt. Die Grundlage für die längst überfällige Auseinandersetzung mit dem Thema hat Götz Aly mit seiner beeindruckenden Studie geliefert. Es ist an den politisch Verantwortlichen und der Gesellschaft, den Faden aufzugreifen und Verantwortung für die Last anzunehmen, die das jahrzehntelange Schweigen verursacht hat.