PaTrick Bahners beweist sich in »Entenhausen. Die ganze Wahrheit« als Georg Simmel der Carl Bark’schen Galaxie und legt eine geografisch, rechtsphilosophisch, ethnologisch und kulturhistorisch fundierte Arbeit zur Heimatstadt der Ducks vor.
Man könnte die Untersuchung einer comicalen Welt kaum grundsätzlicher betreiben, als es Patrick Bahners in Entenhausen. Die ganze Wahrheit tut. Sein Buch erweist sich keineswegs als populärwissenschaftlicher Ausrutscher des renommierten Beck-Verlags – seines Zeichens der Sachbuchverlag der Republik – sondern als konsequente Erweiterung eines hochanspruchsvollen Programms um eine zusätzliche Facette: die der Neunten Kunst.
Entenhausen ist die vermeintlich berühmteste Stadt der Welt. Doch bei allem Wissen um ihre eigensinnigen Bewohner weiß man zugleich herzlich wenig: Wo genau liegt dieses Zentrum des altmodischen Kapitalismus? Warum altern seine Bewohner nicht? Welche physikalischen, moralischen und juristischen Gesetzmäßigkeiten gelten in dieser dorfähnlichen Metropole? Gibt es eine kulturhistorische Verankerung und, daraus folgend, eine gesellschaftliche Entwicklung? Warum haben die Bewohner Entenhausens keinen Sexualtrieb, wenn sie doch Liebe empfinden können? Und wieso gibt es zahlreiche Erinnerungs- und Gedenkzeremonien, aber keine Beerdigungen?
Mit Fragen wie diesen befasst sich PaTrick Bahners interdisziplinäre Studie Entenhausen. Die ganze Wahrheit. Nicht zum Selbstzweck, sondern weil »der wissenschaftliche Donaldismus der Phantasie nicht freien Lauf lassen [darf]«. Seine »Forschungsreise« in sieben Kapiteln ist ein weiterer Anlauf, Entenhausen nicht nur geografisch, sondern auch denklogisch und geistesgeschichtlich zu verorten.
Eine der zentralen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt, ist die nach der Gültigkeit des irdischen Raum-Zeit-Gefüges. Kann man Entenhausen im Rahmen der Gesetze der Relativitätstheorie einen Ort zuweisen oder muss man dazu das Raum-Zeit-Kontinuum verlassen? Antworten können nur die Informationen geben, die Carl Barks als Übermittler der Entenhausen-Stories und Erika Fuchs als Übersetzerin ins Deutsche liefern. Bahners kennt diese Geschichte wie zahlreiche seiner Wissenschaftlerkollegen in- und auswendig, was zu dem facetten- und bilderreichen Lesevergnügen beiträgt, das man mit seinem Werk hat.
Grundvoraussetzung, dieses Vergnügen auch zu empfinden, ist die Annahme, dass Entenhausen auch tatsächlich existiert. Ohne diese Grundlage ist ein ernsthafter Donaldismus, also die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den von Carl Barks geschaffenen Untersuchungsgegenständen, nicht möglich. Darüber hinaus gilt es, zu akzeptieren, dass die Bewohner Entenhausens keine Tiere im zoologischen Sinne sind, sondern in der donaldistischen Taxonomie jeweils als höhere und niedere Art vorkommen. Dies erklärt auch, warum Donald Schweine halten oder Schafe hüten kann, obwohl er selbst als Ente daherkommt.
Die Sache mit der Relativität ist in Entenhausen, nun ja, relativ. Auf der einen Seite spricht einiges dafür, dass Entenhausen auf einer Kopie der Erde in einer etwas anderen interstellaren Konstellation verortet ist, auf der sich auf wundersame Weise die gleichen Ereignisse vollziehen, wie auf der Erde. Man müsste also den relativen Raum verlassen und in eine Parallelwelt eintauchen, um Entenhausen zu finden.
Gegen diese als Zwei-Welten-Leere in der Welt des Donaldismus bekannt gewordene Theorie spricht allerdings die Masse der Parallelen zwischen der irdischen und der entenhausischen Welt. Eine irdische Existenz Entenhausen ist liegt daher recht nahe. »Die drei Erhaltungsgesetze für Masse, Impuls und Energie, Varianten des Satzes «Ex nihilo nihil fit», halten auch in Entenhausen die Dinge zusammen«, stellt Bahners fest. Und das gilt selbst dann, wenn Daniel Düsentrieb einen Atom-Dezimator erfindet.
Wo also ist Entenhausen, wenn es auf der Erde liegt. Die zahlreichen Ortsangaben in den von Carls Barks überlieferten Geschichten deutend zieht Bahners die Kreise um seinen Untersuchungsgegenstand immer kleiner. Weil einiges dafür spricht, dass Entenhausen erstens in Amerika liegt, zweitens eine Hafenstadt ist, sich drittens kulturell an England ausrichtet und viertens im malischen Timbuktu nicht nur seinen Gegenentwurf, sondern auch seinen geografischen Bezugspunkt hat, kann man die Stadt recht genau finden. »Wer Entenhausen lokalisieren will, muss lediglich einen Kreis mit dem Radius von 6983 Kilometern um Timbuktu schlagen. Wo die Kreislinie die nordamerikanische Küste schneidet, liegt Entenhausen.«
Folgt man dieser Logik, liegt Entenhausen auf den Koordinaten, wo wir Boston finden. Verwunderlich ist die amerikanische Lage kaum, denn die Stadt ist ein zweites Las Vegas. Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich, doch am Ende gewinnt nur einer. Die zahlreichen Wettbewerbe zelebrieren wie kein zweites Ereignis das amerikanische Motto »Höher, Schneller, Weiter«. »Entenhausen ist eine agonale Stadt«, schreibt Bahners, in der alles zur Wette geschieht.
Das herrschende Wirtschaftssystem ist natürlich ein kapitalistisches, wenngleich mit einigen Besonderheiten. Da Dagobert Duck sein Geld hortet und nicht zurück in den Geldkreislauf fließen lässt – zum Glück, denn andernfalls drohte der Stadt eine Hyperinflation –, muss irgendwo der Goldene Esel versteckt sein. Dessen Stall konnte aber selbst Bahners nicht auf den zahlreichen kartografischen Grundlagen ausmachen, die ihm zur Verfügung standen.
Die fehlende Sexualität in Entenhausen scheint wiederum nicht auf die Bezugsgröße Amerika zurückzuführen sein, wenngleich die dort herrschende puritanische Prüderie Anlass genug böte. Aber in einer Welt, in der nicht gestorben wird, braucht es keinen Nachwuchs, so dass die evolutionäre Funktion des Sexuellen wegfällt. Sexualität um der puren Lust Willen spielt in der Duckschen Welt wiederum keinerlei Rolle, weil sich hier das Vergnügen aus dem Abenteuer und dem Wettkampf speist, nicht aus der Befriedigung animalischer Triebe.
Famos an Bahners bahnbrechender Studie ist die geisteswissenschaftliche Einordnung der herrschenden Verhältnisse, wofür er sich bei den Klassikern des philosophisch-geistesgeschichtlichen Diskurses bedient. Ob Platon oder Sokrates, Vergil oder Erasmus, Rousseau oder Kant, Hegel oder Marx, Blumenberg, Jaspers oder Elias – ihre Schriften dienen ihm als Referenzen zur Funktionalität der Entenhausener Gesellschaft, die Bahners wie kein zweiter vor ihm entblättert.
Entenhausen ist in seiner Gesamtheit »ein gestuftes System von Fluchtorten und Fluchtarten«, schreibt Bahners in seiner grandiosen, simmelschen stadt- und gesellschaftssoziologischen Studie, dessen »Fluchtkultur«es möglich mache, dass neben der Welt-, Land- und Stadtflucht ganz selbstverständlich die Ausflucht existiert. Und das ist doch am Ende für alle am tröstlichsten.
Dieser Beitrag erschien bereits in einer ähnlichen Form am 7. Januar 2014 auf den Comicseiten im Berliner Tagesspiegel.
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