Biografie, Philosophie, Sachbuch

Michel Onfrays »Anti Freud«: Diffamierung statt vernünftige Kritik

Der unter Atheisten hoch angesehene französische Philosoph Michel Onfray verunglimpft den von Humanisten geschätzten Psychologen Sigmund Freud in seinem neuen Buch. Im April erschien »Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert« – ein Werk, das Frankreich aufgebracht hat.

Da der Psychoanalyse in den intellektuellen Debatten und im philosophischen Kanon Frankreichs eine größere Bedeutung als in Deutschland zukommt, hat Onfrays Werk nicht ganz so hohe Wellen im hiesigen Feuilleton geschlagen. In atheistischen Kreisen allerdings hat sich Onfray, der 2002 seinen Lehrerberuf an den Nagel hängte, um die Université populaire in Caen zu gründen, durch seine Veröffentlichung Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss von 2006 einen Namen gemacht. Im Anti Freud, der als »nietzscheanische Analyse Freuds« nicht zufällig im Titel an den Anti-Christ erinnert, hat sich Onfray »das gleiche Ziel (gestellt) wie in Wir brauchen keinen Gott, diesmal jedoch anhand eines Stoffes namens Psychoanalyse«. Abgeliefert hat Onfray eine persönliche Abrechnung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse als Wissenschaft und Therapie in einem über weite Strecken aggressiven und bösartigen Ton.

Den Anti Freud habe Onfray bewusst als eine »Psychographie« verfasst, denn er »halte (s)ich gleichermaßen von den Hagiographien und den Pathographien fern«. Herausgekommen ist aber genau das, was er abstreitet, es zu sein: ein 544-seitiges Werk, welches Freud sowohl als einen zu stürzenden Heiligen, der »Gott und Stammesfürst zugleich war«, als auch als einen von Inzest und »vom Vatermord besessene(n)« psychisch kranken Menschen portraitiert.

Onfrays leitende These ist die, dass Freud ein selbsternannter und von seinen Schülern anerkannter Halbgott oder Gott war und ist. Und in diesem Sinne deutet er Freuds ganzes Schaffen: Mit seinen Gesammelten Werken habe dieser eine »Heilige Schrift« abgeliefert, darin die Fallstudien von Anna O., Dora, dem Kleinen Hans, dem Wolfsmann und Rattenmann als »Evangelium«. Die wiederholten Vergleiche von Freud mit Jesus, Moses und Gott schlagen bei Onfray in Gleichsetzungen um, die von ihm nicht mehr kritisch reflektiert werden: »Die Parallelen nehmen kein Ende: Freud als monotheistischer Gott; sein Leben als das Leben von Gottes Sohn in Menschengestalt; seine Universalisierung nach Art einer Kirche«. Dadurch bekommt der Anti Freud eine pathetisch-lächerliche Note und Onfray stellt sich als ernstzunehmender Autor in Frage. Seine Methode erinnert über weite Strecken an die nach Skandalen gierende Klatschpresse.

Um Freud als psychisch kranken Geist zu zeichnen, zückt Onfray immer wieder die moralisch aufstachelnde Karte des Perversen, Pädophilen. Freud habe mit der psychoanalytischen Lehre »nur ein Ziel (verfolgt): mit seiner Krankheit nicht mehr allein zu sein«. Er habe eine ganze Welt erfunden, »um mit seinen Hirngespinsten leben zu können«. Onfray versucht dies vor allem auch anhand der Familiengeschichte Sigmund Freuds darzulegen – ein auf den ersten Blick psychoanalytisches Vorgehen, das Subjekt als ein individualhistorisch gewordenes zu verstehen. Doch mit einem respektvollen Umgang mit den inneren und äußeren Objekten des Anderen hat Onfrays Methode wenig zu tun. Vielmehr erinnert sie über weite Strecken an die nach Skandalen gierende Klatschpresse, die im Privatleben des Betreffenden herumwühlt, ihm vermeintlich lustige Kosenamen gibt und besonders gern nach sexuellen Ungehörigkeiten fahndet. Beispielsweise wird Freud zum »Gold-Sigi« seiner Mutter Amalia erklärt. Oder es wird betont, Sigmund Freud könnte auch der Sohn von Amalia und ihrem gleichaltrigen Stiefsohn aus der ersten Ehe ihres Mannes Jacob sein. Zu den ödipalen und inzestuösen Szenarien, mit denen Onfray hantiert, während er deren wissenschaftliche Gültigkeit gleichzeitig bestreitet, gehört auch Freuds eventuelle Affäre mit seiner Schwägerin Minna. Über diese empört sich der Autor und stellt Mutmaßungen über die Gelegenheiten an, wie sie hinterrücks und dreist ausgelebt wurde. Zudem bezeichnet er das mit einer neunjährigen Lehranalyse beim Vater durchaus zu problematisierende Verhältnis von Sigmund Freud und seiner Tochter Anna als »eine ontologisch inzestuöse Beziehung« und suggeriert, die Differenz von Realität und Phantasie verwischend, dass Freud hier nun ausleben konnte, was er sich sehnlichst mit der eigenen Mutter gewünscht hatte, ihm aber verwehrt geblieben sei. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob Onfrays Anti Freud nicht vielleicht ein Gegenschlag zur unterstellten Vernichtung der Philosophie durch Freud ist.

Foto: Onfray © Le Lombard
Foto: Onfray © Le Lombard

Methodisch orientiere sich Onfray im Gegensatz zu Freud – wie er mehrfach hervorhebt – an »Wissenschaftlichkeit und Rationalität« und liefere mit dem Anti Freud eine »wertfreie Darstellung«, also kein »moralisches Urteil«. Das ist auch deshalb schwer zu glauben, weil sich Onfrays emotional aufgeladene Sprache beständig aufdrängt. Freud habe ideologisch mit seinen Überlegungen zu Führer und Masse, Urvater und Urhorde seine private Faszination für Mussolinis Faschismus theoretisch unterfüttert und er sei gewissermaßen selbst ein Nazi, der in seinen Schriften einen »totalen Krieg gegen die Philosophen« führe. (Dass sich der Philosoph Onfray in dieser Logik auch selbst angegriffen fühlt, ist zu vermuten.) Suggestiv hängt sich an diese Nazivergleiche der Gedanke, dass man in einem solchen Falle nichts anderes tun kann, als die drohende Vernichtung mit einem Gegenschlag zu beantworten – so wie es die Alliierten militärisch mit Nazideutschland tun mussten und wie es sich Onfray mit Freud zu tun bemüßigt fühlt. So scheint Onfray im Anti Freud eine Art intellektuellen Überlebenskampf zu inszenieren, bei dem nur einer siegen kann: er selbst oder Freud.

Mit solch existentiellen Konstellationen versucht Onfray den Blick dafür zu vernebeln, ob es sachlich richtig ist, was er stimmungsmachend über Freud schreibt. Viel Zeit zum Überlegen bleibt dafür anfangs nicht, denn der Autor hat ein ganzes Arsenal an unsympathischen oder unheimlichen Gestalten auf Lager, welche der Begründer der Psychoanalyse alle gleichzeitig verkörpern und zu denen man sich verhalten soll: Freud sei als Therapeut ein »Zauberer, Hexer und Guru«, ein Legendenschreiber und Fälscher bezüglich seiner Theorieentwicklung und seiner Fallstudien und der Vollstrecker eines Autodafés seiner frühen Veröffentlichungen und Briefe. Aus Onfrays Sicht wurde Freud von Größenwahn und Narzissmus getrieben. Er wollte seine eigene Legende schreiben und alle, die ihn zu Lebzeiten daran hinderten und eigene Ansichten vertraten, wie Carl Gustav Jung beispielsweise, habe er aus dem Weg geräumt. Letztlich sei es Freud nur um Geld, Erfolg und Berühmtheit gegangen und seine geistige Zurechnungsfähigkeit sei nach seinen Kokainselbstexperimenten in den 1890er Jahren ohnehin fraglich gewesen.

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Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Klaus Verlag 2011. 544 Seiten. 24,99 Euro. Hier bestellen

Über einige Motive für seinen intendierten Sturz Sigmund Freuds als intellektuell ernstzunehmenden Vertreter von Aufklärung und Religionskritik gibt Michel Onfray im Anti Freud selbst Auskunft. Er sieht den Psychoanalytiker als Gegner der Ideen Nietzsches und Proudhons, mit denen Onfray sich in seinem Denken am meisten identifiziert, und zimmert das Bild eines reaktionären, größenwahnsinnigen und psychisch kranken Analytikers.

Freud habe Nietzsche als seinen eigenen geistigen Vater nicht öffentlich anerkannt und in seinen Schriften verleugnet, weil er an diesen – so Onfrays Erklärung – intellektuell nicht heranreichte, dies nicht ertrug »und deshalb denjenigen den Flammen vorwarf, den er verehrte«. Dass Freud Nietzsches Einfluss auf sein Denken tatsächlich nicht in seinen Schriften angemessen auswies, ist unter Freud-Kennern unbestritten. Ob nun aber das Motiv Freuds in seinem pathologischen Narzissmus und in seinem Faible für den geistigen Vatermord liegt – wie Onfray meint – ist zweifelhaft.

Politisch teilt Onfray Proudhons Liebe zum Volk. Er wirft Freud vor, dass er eine Seelenkur nur für die Reichen erfunden habe und sich nicht wirklich für die Menschen und ihr Leid interessiert habe. Zudem sei »Freud kein Aufklärer (gewesen), der das Volk als Souverän einer Demokratie sehen wollte, sondern ein antiphilosophischer Denker, für den sich die Macht in einer Person konzentrieren musste – war es früher der König, so zu Freuds Zeiten eben der Diktator.«

Onfray zimmert im Anti Freud eine kranke Schimäre und diskreditiert sich selbst als ernstzunehmender Theoretiker mit seinen oft absurden Überspitzungen und unreflektierten Projektionen. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Theorie und ihrer Geschichte kann er nichts Solides beitragen.