Eine Reise zweier Schwestern nach Bulgarien wird zur Abrechnung mit dem Vater und seiner Heimat. Selten wurden einem Land derart die Leviten gelesen, wie Bulgarien in Sybille Lewitscharoffs Roman »Apostoloff«, für den sie 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt.
Als es im Jahr 2005 um die Aufnahme der neuen osteuropäischen Staaten in die Europäische Union ging, da war die Aufregung groß. Billigarbeiter, Demokratiedefizit, fehlende politische und legislative Kultur u. v. m. wurde den Staaten vorgehalten. Um die Euro-Tauglichkeit von zwei Staaten wurde besonders erbittert diskutiert: Rumänien und Bulgarien. Die Armenhäuser von Europa wurden 2007 in die Union aufgenommen, da die EU die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in beiden Ländern anzweifelte. In der liberalen Schweiz wurde jüngst gar ein Volksbegehren initiiert, das die dreiste Ausweitung der die Personenfreizügigkeit, die für die Bewohner aller EU-Staaten in der Schweiz gilt, auf die Bulgaren und Rumänen verhindern wollte.
Ist die Angst vor den Bulgaren und Rumänien irrational oder berechtigt? Um diese Frage zu klären, scheint ein Reiseroman aus Bulgarien gerade recht zu kommen – zumal seine Autorin bulgarischer Herkunft ist. Sibylle Lewitscharoff’s Apostoloff kommt als ein solcher Reiseroman daher, ist aber viel mehr als das. Die Geschichte liest sich als Psychogramm einer Familie, einer Gesellschaft, einer Zeit. Das Grundszenario ist einfach erzählt. Zwei Schwestern bereisen die Heimat ihres nach Deutschland emigrierten Vaters. Jedoch nicht einfach so, aus Interesse oder Neugier, sondern als spontaner Teil eines Pflichtprogramms. Der bulgarische Millionär Tabakoff hat sie dafür bezahlt, dass sie die sterblichen Überreste des Vaters gemeinsam mit den Gebeinen einiger Mitglieder der bulgarischen Exilgemeinde in Stuttgart-Degerloch nach Sofia überführen. Während die jüngere Schwester unablässig von der Rückbank wettert, macht die andere dem Reiseführer schöne Augen. Die Reise nach und durch die väterliche Heimat wird zu einer Tour de force durch die euro-bulgarische Historie und einer Abrechnung mit der Vaterfigur. Und auch dessen Immigrantenkultur, die spezielle Mischung aus bulgarisch sein und schwäbisch sein wollen, bekommt ordentlich ihr Fett weg.
Sybille Lewitscharoff kennt das Leben am endlosen Übergang, das Schweben in den multikulturellen Aggregatzuständen nur zu gut. In der Personenkonstellation des Romans spiegelt sich die Familie der Autorin nahezu im Eins-zu-Eins-Format. Als Tochter eines nach Stuttgart ausgewanderten bulgarischen Arztes und Tochter einer schwäbischen Mutter spricht sie wie ihre Hauptperson kein Wort bulgarisch. Aufgewachsen im Schoß der deutsch-bulgarischen Gemeinde Stuttgarts geht sie zum Studium nach Berlin, Paris und Buenos Aires. Sofia kam nicht infrage. Erst ein Stipendium der in Osteuropa vielfältig engagierten Robert-Bosch-Stiftung veranlasste sie, eine Geschichte über ihre bulgarischen Wurzeln zu schreiben.
Apostoloff ist jedoch kein bulgarischer Werbeprospekt, sondern eine Abrechnung mit den bulgarischen Verhältnissen sondergleichen. Diese werden als eine absurd hässliche Mischung aus stalinistischer Architektur, zivilisatorischer Unkultur und politischer sowie sozialer Unart beschrieben: »Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur sofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen.« Durch dieses verbaute, verpatzte und verdreckte Land werden die beiden Schwestern in Lewitscharoffs Roman kutschiert – von Rumen Apostoloff. »Als uns ergebener Nervösling fährt er durch sein verzweifeltes Land, das bei Nacht noch viel verzweifelter ist«. Er versucht, den verbitterten Töchtern die bulgarischen Juwelen zu präsentieren, doch selbst das Schwarze Meer wird zur giftigen Müllhalde stilisiert: »Plastikflaschen liegen herum, Gummiteile, Kinderschaufeln, Sandalen, gestrandete Quallen, eine verendete Möwe mit sandverkrustetem Kopf.« Vergeblich »süßholzt und baedekert« er über seine vom Kommunismus geprägte Heimat. Einzig bei der älteren Schwester scheint er mit seinem Bemühen einen positiven Eindruck hinterlassen zu können, denn gen Ende der gemeinsamen Reise stellt die Erzählerin ein »sanftes Leiden« in den Augen ihrer Mitfahrer fest.
Über allem schwebt die Verbitterung der Töchter über »dieses Aas von Vater«, der sich mit einem feigen Suizid aus ihrem Leben und seiner Verantwortung gestohlen hat – warum weiß keiner so genau. Seither behelligt er seine Töchter ungebeten im Schlaf, durch den er wie ein Schaf schleicht und seinen Galgenstrick hinter sich herzieht. Dass die so provozierte Schlaflosigkeit die Erzählerin in einem mafiotisch geprägten Bulgarien zu Zynismus und Aggressivität neigen lassen, verwundert kaum. Und so brennt während des ganzen Romans über dem Bulgarienbild (das eigentlich das Vaterbild ist) »das liebe, treue Familienhasslicht« der jüngeren Schwester. In jeder Suppe findet sie ein Haar, ganze Heerscharen von Läusen laufen über ihre, natürlich völlig alkoholfreie Leber und keinen Stein lässt sie auf dem anderen.
Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 1998 Sibylle Lewitscharoff zeigt einmal mehr, warum ihre Bücher so große Erfolg haben. Wie sie die innere Psychologie ihrer Personen mit dem bulgarischen und dem paneuropäischen Schicksal verbindet, von den Untiefen der inneren Not spielerisch zu den Abgründen der bulgarischen Politik wechselt, ist von beispielloser Grandiosität. Nüchterne Reisebilder, philosophische Anspielungen und Auszüge aus Martin Amis historisch-philosophischer Diktatorenstudie Koba der Schreckliche reihen sich intelligent aneinander und lassen unter dem meckernden Gebrabbel der Erzählerin einen klugen Subtext über das Mehr und das Weniger des Bulgarischen im Europäischen und des Europäischen im Bulgarischen entstehen.
Mit Apostoloff ist Sibylle Lewitscharoff ein osteuropäischer Road-Movie gelungen, der von einem abwesenden Vater und seinen Töchtern, der verschworenen Gemeinschaft der schwäbischen Bulgaren in Stuttgart-Degerloch und einem Land am Boden inmitten der europäischen Gemeinschaft erzählt. Im Mittelpunkt steht dabei die Angst der Töchter vor der Auseinandersetzung mit der Bedrohung des Vatertods, der durch das permanente offensichtliche und unterschwellige Thematisieren auf Distanz gehalten und lächerlich gemacht wird. Doch seine Bedrohung bleibt, wie der Satz deutlich macht, mit dem Lewitscharoff ihren Roman und die Erzählerin ihre Vaterbewältigung beendet: »Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Haß.«