Comic

Grandios über den Dingen

Wer denkt, im Genre Comic alles gesehen zu haben, der hat Martin Panchauds »Die Farbe der Dinge« noch nicht gesehen. Mit Piktogrammen, Symbolismus und Infografiken erzählt der Schweizer Illustrator eine ergreifende Geschichte von Liebe und Leid. Einen im besten Sinne ungewöhnlicheren Comic wird es diese Saison nicht geben.

»Was ist das für ein Buch?«, steht schon auf dem Buchcover dieses ungewöhnlichen Comics, das neue Maßstäbe in der Neunten Kunst setzt. Dabei hält es zunächst kaum eine Regel, die für das Genre gilt. Es gibt keine Sprechblasen, keine Panel im eigentliche Sinne und auch keine figurativen Zeichnungen. Stattdessen werden Sprechakte durch gerade Linien zu Textblöcken dargestellt, der Seitenaufbau folgt räumlichen, zeitlichen oder gegenständlichen Aspekten und die Figuren sind nicht mehr als farblich markierte Kreise. Und dennoch funktioniert das alles perfekt, man könnte diese Geschichte wohl genialer kaum erzählen.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Simon Hope, ein übergewichtiger Teenager, der von seinen Altersgenossen mit allen Mitteln gemobbt wird. Er lebt mit seiner Mutter Daisy und seinem Vater Dan zusammen. Sie kämen gut über die Runden, würde Dan Hope nicht das ganze Geld auf der Pferderennbahn verjubeln. Entsprechend schlecht ist die Stimmung zwischen den Eltern. Doch die Ironie des Schicksals will es, dass Simon von einer Wahrsagerin einen todsicheren Tipp für das berühmteste Pferderennen der Welt bekommt und alles Geld setzt, dass er zuhause auftreiben kann. Und tatsächlich gewinnt sein Pferd und er damit sage und schreibe 16 Millionen britische Pfund. Das Problem ist nur, dass er zu jung ist, um den Gewinn ohne die Einwilligung seiner Eltern abzuholen. Doch zuhause hat sich ein Drama ereignet, er findet seine Mutter schwer verletzt zuhause auf, der Vater ist verschwunden.

Auszug der Seite, auf der Martin Panchaud das Royal Ascot-Pferderennen darstellt

Die Geschichte folgt nun Simon Hope, der irgendwie an die Unterschrift eines seiner Elternteile kommen muss. Da seine brutal zugerichtete Mutter im Koma liegt (und er zudem noch erfährt, das Geld für eine bessere Behandlung hilfreich sein könnte), konzentriert er sich auf seinen Vater. Zugleich muss er sich mit der Polizei, dem Jugendamt und dem Kinderheim herumschlagen, in das er eingewiesen wird. Die Geschichte nimmt noch mehr Fahrt auf, als das britische Boulevardblatt Sun mit einem verschwommenen Foto des Jungen über dessen gigantischen Gewinn berichtet. Schlagartig scharen sich Menschen um Simon, die ihm ihre Hilfe anbieten, ohne ihre eigentlichen Motive offenzulegen.

Der Schweizer Martin Panchaud hat eine Story mit zahlreichen dramatischen Wendungen geschrieben, die es in sich hat. Man muss sagen, dass dieses Buch auch ein flotter Roman wäre, würde man die Bilder streichen. Denn die abstrakten Grafiken, mit denen die Erzählung illustriert wird, erfordern ein perfektes Skript, dass auch ohne Illustration funktioniert.

Die Farbe der Dinge 1

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Diese perfekte Story eröffnet die Möglichkeit, die Grenzen der Grafik auszuloten und mit ihr zu spielen. Von der Grundausrichtung muss man sich diesen Comic wie einen Vogelflug vorstellen. Als Betrachter schwebt man über den Dingen. Man schaut von oben auf das Geschehen und beobachtet die kreisrunden Figurenpiktogramme dabei, wie sie sich durch den zweidimensionalen Raum bewegen (die als farbige Kreise dargestellten Figuren erinnern an den Kinderwitz vom Mexikaner auf dem Fahrrad, illustriert mit einem Kreis für den Sombrero und zwei Strichen, die das Vorder- und Hinterrad andeuten). Für die Geschichte tragende Gegenstände werden aus den nüchternen Grafiken herausgehoben und als Illustrationsgrafiken neben die panelähnlichen Raumelemente gestellt. Das reicht von Turnschuhen, Kaffeebechern und Whiskygläser (mit unterschiedlichen Füllungen) bis hin zu Krankenhausgeräten, Wichsmaschinen und Waffen.

Martin Panchaud; Die Farbe der Dinge. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne. 224 Seiten. 35,00 Euro. Hier bestellen

Über diese Grafiken werden oftmals Funktionalitäten oder zeitliche Abläufe dargestellt, die als kleine Exkurse von der linearen Handlung abschweifen und Details vertiefen. Auf Einzelseiten bekommt man beispielsweise die Verwundbarkeit der Leber bei Faustkämpfen, die Bauanleitung für die «Muschi to go» Modell «Kranführer Billy» oder das Funktionsprinzip der Elektroschockpistole TASER X26 erklärt, wissend, dass diese Dinge im Hintergrund der Erzählung eine Rolle spielen. Das gleiche gilt für den Blauwal B-52, dessen Schicksal sich die Geschichte immer wieder zuwendet und der im Finale noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Die Zeichnungen von »Die Farbe der Dinge« sind derart nüchtern, dass es schon wieder spektakulär ist. Denn nichts wäre einfacher, als sich Ausnahmen zu erlauben, wenn man merkt, dass diese Linie schwer zu halten ist. Genau das hat sich Panchaud jedoch nicht erlaubt. Er ist ein Meister der Form, was er auf seiner Website mit seiner kindlichen Dyslexie erklärt, die dazu geführt habe, dass er sich geradezu wissenschaftlich mit dem Lesen und Deuten von Farben und Formen auseinandergesetzt hat. Mit dieser Expertise hat er einen ganz eigenen Stil entwickelt und hier für jede erzählerische Herausforderung eine grafische Lösung gefunden, die sich im Bereich der Infografik bewegt. Sensationell ist nicht allein diese grafische Stringenz (die fern an Chris Ware erinnert), sondern der Effekt, der in der Kombination der nüchternen Illustration mit dem von Christoph Schuler flüssig ins Deutsche übertragenen Text entsteht. Die emotional packende Story führt dazu, dass man als Leser wie in einem guten Roman dazu angeregt wird, die abstrakte Grafik mit der eigenen Fantasie zu füllen. In welchen emotionalen Zuständen sich Simon befindet und wie das aussieht, muss jede:r vom Text – die Typographie leistet hier nur an wenigen Stellen Unterstützung – in die eigene Imagination übertragen.

Am Ende dieser Erzählung hat jede:r Leser:in zwar die gleiche Geschichte gelesen, in den Einzelheiten und Details aber eine ganz eigene Version im Kopf durchlebt. Dass und wie das funktioniert, ist einfach nur grandios.