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Resonanzraum Welt

© Thomas Hummitzsch

Eine junge Frau bricht ihre Zelte in Paris ab, um sich selbst im Land ihres Vaters zu suchen. Raphaëlle Reds ausgezeichneter Debütroman »Adikou« verändert den Blick auf gängige Herkunftsdiskurse und zeigt die Verstrickungen von Biografie und Geschichte auf.

»Du wirst zur Ruhe kommen/bald wird es besser gehen/du wirst dich rasch einleben«, brabbelt eine junge Frau im Flieger vor sich hin. Sie fühlt sich unwohl in ihrer Haut, hadert mit ihrer Herkunft, die so verschwommen ist wie die Luft in diesem drückend heißen Sommer in Paris, in dem diese Geschichte ihren Ausgang nimmt.

Im Zentrum dieses Bildungsromans steht Adikou, Tochter einer französischen Mutter und eines togolesischen Vaters, die mit ihrer Identität hadert. Auf der Suche nach Antworten macht sie sich auf den Weg in das Heimatdorf ihres Vaters, nicht wissend, was sie genau dort zu finden hofft. Aber schon bei der Einreise beschleicht sie eine leise Beklemmung. »Der Name des Vaters, der im Pass und auf den Visa steht, ist eine Gefahr«, im Namen der Mutter, mit dem sie unterschreibt, schwingt der französische Kolonialismus mit.

Raphaëlle Red: Adikou. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Rowohlt Verlag 2024. 224 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen https://www.rowohlt.de/buch/raphaelle-red-adikou-9783498003821
Raphaëlle Red: Adikou. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Rowohlt Verlag 2024. 224 Seiten. 24,- Euro. Hier bestellen.

Sie selbst wird Adikou gerufen, wie das Samenkorn des afrikanischen Muldenspiels. Ohne hier viel über die Bedeutung des Namens zu spekulieren, löst auch er die innere Zerrissenheit der Heldin nicht, die weder den Namen richtig aussprechen kann noch sich sonst wohl in ihrer Haut fühlt. Sie ist weder Schwarz noch weiß und fühlt sich doch beständig auf ihre exotische Hautfarbe reduziert. Name, Hautfarbe und alles, was mit ihnen mitschwingt, bilden eine Last, die innerhalb wie außerhalb der Familiengeschichte Wurzeln schlägt. Das Schicksal der von den Weißen Versklavten trägt sie auf ihren Schultern, während sie – mit Nina Simone und Frantz Fanon im Kopf – von der afrikanischen Küste gen Amerika blickt. Als ihr schließlich ihr Vater erscheint, bleibt unklar, ob das Einbildung, Tagtraum oder Delirium ist.

Das liegt auch an der Erzählhaltung dieser als Road Novel getarnten Selbstfindungsreise, der nicht aus der Innenperspektive der Titelheldin erzählt wird, sondern von einer mysteriösen Erzählerin, deren Verhältnis zu Adikou sich erst im Laufe des Romans aufhellt. Die Erzählung ist daher auch nicht linear, sondern anekdotisch, fragmentiert, was wiederum die Zerrissenheit der Titelfigur spiegelt. Über die Perspektive gelingt es der Autorin auch, gängige Narrative über Familie, Herkunft und Identität aufzubrechen und produktiv für die Themen Feminismus, Klassenzugehörigkeit und koloniale Kontinuitäten zu öffnen. Etwa wenn Adikou an Ewe, der Sprache ihres Vaters, scheitert oder sich in den Schutzräumen, die amerikanische Universitäten für Schwarze Studierende eingerichtet haben, unwohl fühlt, weil sie sich selbst nicht Schwarz fühlt. Die »Diskrepanz zwischen ihrem Blut, das vermeintlich von hier stammte, und ihrem Körper, der so unangepasst war«, wird ihr im Togo immer wieder bewusst werden.

Shortlist für den 5. Prix Premiere

Raphaëlle Reds Roman hat auch das Publikum überzeugt und ist im Frühjahr mit dem zum fünften Mal ausgeschriebenen Prix Premiere ausgezeichnet worden. Die Jury, in der mit Nicola Denis und Karin Uttendörfer auch zwei Übersetzerinnen saßen, hatte eine Shortlist mit drei Titeln erstellt, über die das Publikum abstimmen konnte. Neben »Adikou« waren außerdem »Die Schlafenden« von Anthony Passeron in der Übersetzung von Claudia Marquardt und »Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen« von Lucie Rico in der Übersetzung von Milena Adam nominiert. Mit dem Preis würdigt das Institut Français in Deutschland Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur, die zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt werden, sowie deren Übersetzer:innen.

Die Autorin ist in Frankreich geboren und in Berlin aufgewachsen. Sie schreibt auf Französisch, Deutsch und Englisch. Für das Schwarze Literaturfestival »Resonanzen«, 2022 von Sharon Dodua Otoo erstmals initiiert, schreib sie die Kurzgeschichte »Calvins Väter«, die sich auch in dem Dokumentband befindet. Auch dies eine Erzählung, die sich um Herkunft und Zugehörigkeit, das Leben in der Diaspora, Kolonialismus und das Erbe der Väter dreht. Die titelgebende Figur ist ein junger Mann, der sich mit new work in einer Werbeagentur über Wasser hält. »Es würde unsympathisch klingen«, heißt es im Text, »deshalb spricht er die Worte auch nicht aus, aber Calvin ist ziemlich beschäftigt damit, nirgendwo anzukommen. Damit verbringt er viel Zeit. Nicht wie sein Vater will er sein, keinem Punkt zulaufen. Den eigenen Körper nirgendwohin schleppen, wo ihm Schaden angerichtet werden kann. Nichts in die Welt setzen, was verlassen wird. Lieber zerlaufen wie Licht in der Sonne.«

Ausgezeichnet mit dem Prix Premiere

Ihren Debütroman hat Red in Französisch verfasst, Patricia Klobusiczky hat ihn klingend ins Deutsche gebracht. In das Lektorat des deutschen Textes war sie mit eingebunden, wie Red im Gespräch zum Hörbuch, das parallel zur Buchausgabe erschienen ist, erzählte. Es sei eine »sehr außergewöhnliche Erfahrung« gewesen, noch einmal tagelang mit dem fertigen Text zu verbringen – nicht nur aufgrund der anderen Sprache, sondern weil es selten sei, den eigenen Text nach Publikation noch einmal ganz zu lesen. »Dann mehrere Tage hintereinander wieder mit diesem Text zu sein, und dabei richtig einzutauchen statt mit Stift in der Hand nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, das war schon was. Und es hat mich nochmal darin bestätigt, dass ich sehr gerne laut vorlese!«

Dieses hörbare Lesen spiegelt sich auch in der empfindsamen Übersetzung, die auf der Wortebene immer wieder bedacht den subtilen Anspielungen an die koloniale Geschichte und die damit einhergehenden Glaubenssätze nachgeht. Hier zahlt sich die »enge Zusammenarbeit« von Autorin und Übersetzerin bei der Übertragung des Romans aus. Beide sind in einer französisch-deutschen Umgebung aufgewachsen, sie verfügen über umfassende Kenntnisse der Diskurse zur französischen und deutschen Kolonial- und Mentalitätsgeschichte. Das schuf Vertrauen, laut Red haben sie sich viel über die unterschiedlichen historischen Lasten und daraus resultierende Tonlagen im Französischen und Deutschen ausgetauscht.

Raphaëlle Red: Adikou. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Gelesen von Raphaëlle Red. Argon Verlag 2024. 327 Minuten. 15,95 Euro. Hier bestellen https://www.argon-verlag.de/hoerbuch/raphaelle-red-raphaelle-red-adikou-9783732476541
Raphaëlle Red: Adikou. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Gelesen von Raphaëlle Red. Argon Verlag 2024. 327 Minuten. 15,95 Euro. Hier bestellen.

Patricia Klobusiczky hat dieser poetischen Geschichte einer Frau, die nach ihrer Identität sucht, einen ganz eigenen Ton verliehen. Man fühlt sich einem permanenten Vibrato ausgeliefert, nie bekommt man diese Prosa so richtig zu greifen. Was in anderen Fällen ein Manko ist, trägt hier entscheidend zum Gelingen dieses Debüts bei, dessen Kraft aus der Uneindeutigkeit des Textes hervorgeht. Das komplexe Ringen um dieses schillernde Etwas namens Identität, die durch Zugehörigkeit ebenso geprägt wird wie durch Zuschreibung und in der Selbst- und Fremdbestimmung permanent ins Verhältnis gesetzt werden, entzieht sich eben einer Klarheit.

Das erklärt auch den Ton, der gleichermaßen zärtlich wie wütend ist, lässig und angespannt, rotzig und intellektuell. Darin spiegelt sich, wie Emotionalität und Rationalität, Wut und Wissen, Biografie und Geschichte permanent um Hoheit ringen. Das kann an der Titelheldin natürlich nicht spurlos vorbeigehen. Deshalb ist »Adikou« auch ein sehr physischer Roman, voller Traurigkeit, Wut und Schmerz. Und voller Fragen darüber, was es bedeutet, ein Kind dieser so kaputten Welt zu sein. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe wird eine Schlangenhaut angedeutet. Schlange werfen aus Gründen des Wachstums ihre Hülle regelmäßig ab. Auch Adikou legt sich im Laufe des Romans eine neue Hülle zu, in die sich die Geschichten ihrer Haut tief eingeschrieben hat.

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