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»Herr Wagenbach, was lesen Sie?«

Klaus Wagenbach in der Berliner Buchhandlung Uslar & Rai | Foto: Thomas Hummitzsch

Der Verleger Klaus Wagenbach stellte in Berlin kürzlich seine fünf Lieblingsbücher vor. Ein Abend zwischen Franz Kafka und einer »dicken Merkel«, die als oberste Teutonin ihre Kampfzone in alle Richtungen ausweitet, um am Ende doch nur Monopoly mit allen Beteiligten zu spielen.

Seit einiger Zeit veranstaltet die Berliner Buchhandlung Uslar & Rai die etwas andere Art der Buchvorstellung. Literaturschaffende werden regelmäßig eingeladen, statt ihrer eigenen Publikationen ihre Lieblingsbücher vorzustellen. In der Vergangenheit sprachen unter anderem bereits Roger Willemsen, Knut Elstermann, Eva Menasse oder Clemens Meyer über ihre Favoriten in der weiten Welt der Literatur. In der vergangenen Woche war mit Klaus Wagenbach nun erstmals nicht nur ein Autor, sondern auch ein Verleger eingeladen, was, wie sich zeigen sollte, dem Format noch einmal eine besondere Note geben sollte. Einen zusätzlichen Reiz bot die Konstellation des Austauschs zwischen Katharina von Uslar und Klaus Wagenbach, denn mit der Buchhändlerin bat eine ehemalige Adeptin aus dem Wagenbach-Verlag den Grand Seigneur zum Gespräch.

Der inzwischen 83-jährige Wagenbach kaperte im besten Sinne die Veranstaltung für den eigenen Verlag, indem er seine fünf Favoriten aus dem eigenen Haus vorstellte – was, positiv gesprochen, auch daran liegt, dass Wagenbach während seines über 50-jährigen Verlegerdaseins seine Lieblingsbücher einfach selbst verlegten konnte.

Dem nach ihm benannten und inzwischen von seiner Frau Susanne Schüssler geleiteten Verlag eilt der Ruf voraus, »schöne Bücher« zu verlegen, denn »hässliche Bücher zu machen, lohnt sich nicht«, erklärte Wagenbach. So war der Abend für das erschienene Publikum angesichts »der furchtbaren Tatsache, dass Weihnachten ist«, aber natürlich auch aus vielen weiteren Gründen, durchaus inspirierend. Denn der zum gehoben-freundschaftlichen Parlando neigende Wagenbach sprach im Laufe des Abends mindestens ebenso viel über seine Erfahrung als politisch denkender Mensch und linker Verleger sowie den Zustand des Literaturbetriebes, wie über seine fünf Favoriten, deren Zusammenstellung schließlich nur eine Momentaufnahme seiner Lieblingslektüren  darstellte.

Zum besseren Verständnis einige Schlagworte zur Vita Wagenbachs: Seine Lehre als Buchhändler hat er bei Suhrkamp und S. Fischer absolviert, bei letztgenanntem Verlag entdeckte er schließlich auch seine Leidenschaft für Franz Kafka. In den 1960er Jahren gründete er seinen eigenen Verlag. Als linker Verleger sympathisierte er mit der Studentenbewegung, auch als sie radikalere Wege einschlug. Sein Anwalt Otto Schily konnte ihn erfolgreich durch einige Prozesse boxen, eine Verurteilung zu neun Monaten Haft auf Bewährung wegen der Veröffentlichung des RAF-Manifests wusste aber auch Schily nicht zu verhindern. Wagenbach sprach am Grab seines engen Freundes, dem linken italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli, er hielt die Grabrede für Ulrike Meinhof und den Grünen las er frühzeitig die Leviten. Seit den 1980er Jahren tritt er vorwiegend als verlegender Italien-Kenner und Kafka-Experte in Erscheinung.

Über Franz Kafka schrieb er seine Promotion und später mehrere Bücher, was ihm den Ruf einbrachte, die »dienstälteste, lebende Witwe Kafkas« zu sein. Kein Wunder also, das ein Buch des Abends der Bildband Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben war, der erstmals zum 100-jährigen Kafka-Jubiläum 1983 erschienen und nun anlässlich der 130 Jahre Franz Kafka wieder topaktuell ist. Das besondere an diesem Bildband ist, dass er nicht nur alle verfügbaren Fotografien von und mit Franz Kafka enthält, sondern auch Aufnahmen der Orte enthält, an denen Kafka war und die für ihn und in seinem Schreiben eine Rolle spielten. Etwa der väterliche Geburtsort Wossek, wo vermeintlich auch Kafkas Roman Das Schloss spielt. Wagenbach plauderte fröhlich über seine Reisen nach Böhmen, amüsierte sich über die »vollkommen obsoleten« Germanistendiskussionen rund um Kafka und schwärmte einmal mehr von »seinem Kafka.« Man könnte ihm dabei ewig zuhören, so amüsant, klug und erfahren ist das, was er zu berichten weiß.

Vor dem Hintergrund seiner Biografie erstaunlich ist, dass Wagenbach zu seinen Favoriten ein vor zwei Jahren erschienenes Buch zählt, dass seinen Titel vom kapitalistischsten aller Spiele leiht – Andreas Tönnesmanns Monopoly. Das Spiel, die Stadt und das Glück. Das klingt erst einmal seltsam, aber wenn man sich mit diesem Kleinod der Stadtsoziologie näher beschäftigt, dann wird deutlich, warum es dieses Buch dem linken Verleger so angetan hat. Dem Autor geht es weniger um die drei großen Ks des Kapitalismus – Kalkulation, Kontrolle und Krieg – als vielmehr um die Funktion des Glücks in der modernen Idealstadt. Tönnemann deutet das ruinös-aufrüttelnde »Nimm-dein-Glück-in-die-eigene-Hand-Monopoly« in eine stadtsoziologische Vision um, die in der Literatur als Utopia bekannt ist und in der das Glück des Einzelnen eine große Rolle spielt. Jenes Glück, das frei nach Erich Fried »alles wieder, alles bedeuten« kann, auch wieder Hoffnung.

Weniger Glück als vielmehr das Gespür eines feinsinnigen Verlegers ist es zu verdanken, dass der erste Roman des Franzosen Michel Houellebecq 1999 in Wagenbachs Verlag erschienen ist. Bei allen großen Verlagen soll dessen Debüt Ausweitung der Kampfzone gelegen haben, aber keiner hat den Edelstein hinter diesem Rohling funkeln sehen. Keiner außer Wagenbach, dem noch heute manche von Houellebecqs Sätzen durch den Kopf gehen. Sätze wie »Sie können nicht mehr nach Vorschriften leben. Sie dringen in die Kampfzone ein« legten Houellebecq den Grundstein für seine Karriere. Von seinem Erstling, dem sie entnommen sind, profitierte auch sein deutscher Erstverleger. Mit einer Auflage von »ein paar Hunderttausend« war dieser Titel – ähnlich wie ein gutes Jahrzehnt später Alan Bennetts »Die souveräne Leserin« – ein Glück für den Verlag. Die Schwierigkeit bei Bestsellern sei nicht, so Wagenbach, die durch das Fenster hereinschießenden Geldmassen aufzufangen, sondern den Sack zuzumachen und zu »thesaurieren«. Dieses nach paläantologischen Forschungen klingende Verb würde man wohl heute mit dem unschönen Verbum haushalten übersetzen. Und warum braucht es das? Weil „ein Verlag vor allem aus Ver-Lust-Projekten“ besteht, gestand der Wagenbach schmunzelnd. Und wenn man sich gern VER-Lust-IERE, brauche man auch einige Reserven.

Wie etwa bei seinen zahlreichen Italien-Büchern, die sich bei aller Lust am Ende manchmal dann doch als einträgliche Titel herausstellten. Sein ebenfalls favorisierter, »brauchbarer« Band Nach Italien. Anleitungen für eine glückliche Reise ist ein Beispiel dafür. Darin bringt er gemeinsam mit zahlreichen anderen Autoren, ausgehend von Straßenschildern und touristischen Informationen, in appetitlichen Häppchen Italiens Geschichte, Kultur und Lebensart nahe – und somit auf sämtliche Stolperfallen aufmerksam macht. Alice Vollenweider erklärt darin, wie man im Restaurant kulturtypisch zu seinem Platz kommt oder wie es mit der kulinarischen Kritik nach dem Mahl zu halten ist. Ein Höhepunkt des Buches ist zweifellos Leonardo Galantis Grammatik der italienischen Gestik. Ob Anfänger oder wohlerprobter Gast im Land der Zitronen – diese Sammlung amüsant-informativer Texte bietet die optimale Grundlage für den reisenden durch Bella Italia irrenden Teutonen.

Man kann den Abend mit dem warmherzigen, selbstironischen, klugen und redseligen Klaus Wagenbach als Selbstmarketing kritisieren, man könnte aber auch einfach sagen, dass man einige vergnügliche Momente mit dem Vertreter einer Verlegergeneration erlebt hat, von der die letzten (etwa Michael Krüger vom Hanser-Verlag) gerade die Branche verlassen. Eine Generation, die mit der Geschichte Deutschlands groß geworden und gereift ist. Was das genau heißt, kann man in der Nicht-Festschrift Die Freiheit des Verlegers nachlesen, die Wagenbach Anlass bot, über die gegenwärtigen politischen Verhältnisse zu sprechen. Und wie! »Obendrauf sitzt eine dicke Merkel und kümmert sich nicht«, sprach er und hatte die Lacher auf seiner Seite. Er unkte, dass die Republik mit #GroKo 3.0 eine Regierung bekommen werde, die absehbar die meiste Zeit damit verbringe, den Koalitionsvertrag interpretierend auf der Suche nach den eigenen Vorhaben zu sein. Den Zuhörer fliegt der Gedanke an, dass das irgendwie kafkaesk ist.

Klaus Wagenbach, auch das wurde an diesem Abend deutlich, ist keiner, der sich von der Hektik der Zeit anstecken lässt. Er besitzt noch die Ruhe, die Dinge in wesentlich und unwesentlich trennen zu können. Davon zu profitieren, ist eine ebenso wohltuende wie Wehmut weckende Erfahrung.

2 Kommentare

  1. […] Dies verschärft zunächst die Krise im Land. Es kommt zu gewaltsamen Zusammenstößen an den fundamentalistischen Rändern, rechtsextreme »Identitäre« und selbsternannte »Ureinwohner Europas« auf der einen Seite, jungen Dschihadisten auf der anderen. Die Atmosphäre im Land ist angespannt, die Angst vor einem Bürgerkrieg wächst. Einmal mehr beweist sich Houellebecq hier als enfant terrible der grande nation. Er fängt hier all das ein, was Frankreich politisch in Unruhe hält. Das Versagen der Politik angesichts der sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen lässt er in soziale Deprivation und religiöses Wiedererwachen kippen. Die Suche nach nationaler Identität verlagert er aus der Mitte der Gesellschaft heraus an ihre Ränder. […]

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