Groß ist die Aufregung um den neuen Roman von Juli Zeh. Nicht nur, weil ihr »Unterleuten« vor einem großen Umbruch steht, sondern weil eine heitere Debatte um Realität, Fiktion und Metafiktion rund um den Roman entstanden ist. Im Interview spricht die Autorin über ihr »Unterleuten«, den Trend der Landflucht sowie den Zustand der Literaturkritik.
Am Anfang steht eine mysteriöse E-Mail. Gloria Frank heißt die Absenderin, bei der es sich womöglich um eine junge frankreichbegeisterte Frau, vielleicht aber auch um eine Phantasiefigur handelt, die mehr Aufrichtigkeit (engl. frank) im Moment des Ruhmes (Glorie) verlangt. Sie habe meine Besprechung von Juli Zehs Roman gelesen – mutmaßlich geht es um ein Porträt in dem Berliner Stadtmagazin tip Berlin – schrieb sie mir am 4. April, sei sie doch ebenfalls ganz angetan gewesen. Allerdings sei sie inzwischen eher irritiert aufgrund einiger Bezüge auf das Buch Dein Erfolg eines gewissen Manfred Gortz, in dem sich die halbe Dorfbevölkerung von Zehs Brandenburger Idyll befinden soll. »Kann das ein Plagiatsfall sein?“, fragt die engagierte Leserin und gesteht, dass sie eine Aufklärung »total spannend« fände.
Offenbar schrieb sie diese E-Mail nicht nur mir, sondern auch der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sicher zahlreichen anderen Redaktionen, in denen man sich seither um Erhellung bemüht. Doch so ganz einfach ist das nicht, wie sowohl SZ als auch FAZ feststellen müssen. Während sich die SZ in den unendlichen Weiten des Internets verläuft, in dem Unterleutens Gesellschaft einige Freunde findet, scheitert die FAZ an der Dialektik der Autorin, der es im Interview zur »Causa Unterleuten« gelingt, auf jede Frage eine gleichermaßen viel- wie nichtssagende Antwort zu finden (beide Beiträge sind unbedingt zur Lektüre empfohlen).
Inzwischen ist die zentrale Frage die, ob es Manfred Gortz überhaupt gibt oder Zeh (und ihr Verlag) getreu eines ihrer Vorgängerromane dem Spieltrieb bei der Vermarktung des unterhaltsamen Pageturners freien Lauf lässt. Die neueste Entwicklung ist das Auftauchen eines Mannes, der sich als jener Manfred Gortz ausgibt, der ein Buch mit dem Titel Dein Erfolg im Goldmann-Verlag veröffentlicht hat. Auf seinem Youtube-Kanal hat er sich nun gemeldet und »aus aktuellem Anlass ein Statement vorbereitet«. Die Zweifel werden bleiben. Der Account hat nur zwei Follower. Das Video ist das erste überhaupt – und das bei einem Mann, der zuvor als Berater Erfolgsseminare gegeben haben soll. Seinen Text liest er ab, beim Titel des eigenen Buches gerät er ins Stocken, der Duktus ist der eines Märchenonkels.
Ich persönlich glaube, dass es sich um eine sehr geschickte Vermarktungsstrategie handelt. Vielleicht hat sich ein Julius Finger als Ghostwriter die Weisheiten des Manfred Gortz aus den Fingern gesaugt, als der Roman längst fertig war? Einen Plagiatsfall schließe ich aus, auch weil Zeh nicht erst seit der amüsanten Diskussion der »Causa Unterleuten« immer wieder vieldeutig auf die vermeintliche Vorlage hingewiesen hat. Mir schrieb sie am Ende unseres Austauschs folgenden Satz: »Ach so, ich würde Ihnen noch ganz dringend empfehlen, Dein Erfolg von Manfred Gortz zu lesen. Das ist der wahre Gesellschaftsroman – und auf viel weniger Seiten! ;)«
»Wir können vielleicht nicht immer tun, was wir wollen, aber wir können immer glauben, was wir wollen«, sagt der vermeintliche Manfred Gortz, der nun, sollte er echt sein, wie in einem Roman von Kafka seine wahre Existenz beweisen müsste, wollte er, dass man ihm glaubt.
Mir können Sie glauben, dass das nachstehende Interview am 7. März um 17 Uhr geführt wurde. Die Autorin befand sich zu dem Zeitpunkt auf dem Weg aus der Hauptstadt heraus ins Brandenburgische und stand in einem Stau.
Juli Zeh, morgen erscheint ihr Buch, gestern lief in der ARD bereits ein großer Beitrag zum Roman »Unterleuten«. Sind Sie aufgeregt?
Durchaus, das kann ich nicht leugnen. Den Beitrag in der ARD fand ich schön, das war ja fast ein Spielfilm. Aber das Entscheidende ist natürlich dennoch, ob die Leser das Buch mögen. Jetzt geht es eben los.
Auf Ihrer Website habe ich gelesen, dass Sie das fiktive Dorf Unterleuten und seine Bewohner schon seit zehn Jahren kennen. Wie stark ist die Phantasie in ihre Wirklichkeit eingedrungen.
Äußerst stark. Ich bin auch noch nicht so richtig raus aus diesem Dorf. Ich habe dort im übertragenen Sinne gewohnt, deshalb kann ich jetzt auch nicht so einfach sagen: Das Buch ist fertig, jetzt mache ich etwas Neues. Ich könnte mir gut vorstellen, dass in Unterleuten noch einmal ein Roman spielen wird. Da ist noch sehr viel Energie.
»Unterleuten« ist ebenso Ortsname wie Situationsbeschreibung. Lebt man im Dorf am Ende mehr »unter Leuten« als in der Stadt?
In gewisser Weise schon, denn wenn man aufs Dorf zieht, heißt das meistens auch, dass man ein Haus gekauft hat – zumindest bei mir und meinem Mann ist das der Fall. Das heißt eben auch, dass man so schnell nicht wieder weggeht. Das Leben hat eine größere Konstanz, eine längere Dauer in einem Ort. Man verwebt sich mit diesem Platz. Man muss natürlich auch mehr mit den Leuten zurechtkommen und auf sich selbst achten. Insgesamt wird man verantwortungsvoller, zumindest habe ich das so erlebt.
Ist man auch stärker »gezwungen«, mit den Menschen in Kontakt zu treten?
Naja, was heißt gezwungen? Ich habe das nicht so negativ erlebt. Wir leben in einem Dorf, in dem nicht so ein hoher sozialer Druck herrscht. Ich kann mir vorstellen, dass das in anderen Orten unangenehm werden kann, etwa weil man aus sozialen Gründen zu jeder Geburtstagsfeier muss. So ist das bei uns aber nicht. Ich bin von Grund auf kein sehr sozialer Mensch. In der Stadt hatte ich mit den Leuten im Haus nicht so viel Kontakt, Mietergemeinschaften oder so etwas bin ich aus dem Weg gegangen. Kurz: ich habe meine Ruhe gesucht. Jetzt muss ich schon ein wenig raus aus meinem Schneckenhaus. Auch wenn mich das am Anfang Überwindung gekostet hat, habe ich es als Bereicherung erfahren.
Inwiefern sind Stadt und Land die großen Antagonismen unserer Zeit?
Ich finde, dass das ein großes Topos ist; vor allem einer, der viel zu wenig beachtet wird. Daran hängt die Frage, woher die neuen Konflikte, die bürgerkriegsähnlichen Kriege und vielleicht sogar der Terrorismus kommen. Oft ist bei dieser Frage von den Gegensätzen der Kulturen die Rede: Ost und West, Morgenland und Abendland, die zwei großen Religionen und so weiter. Es lohnt sich aber sehr, darüber nachzudenken, inwiefern solche Konflikte nicht eher aus den Gegensätzen von Entwicklungsstufen kommen. Und hier spielt das Urbane und das Rurale eine sehr große Rolle. Es ist häufig so, dass der ländliche Bereich im Vergleich zu den Städten dermaßen unterentwickelt ist, dass man sich dort in einem völlig anderen Lebensraum befindet. Manche Krisenforscher sagen auch, dass dabei eine Art osmotischer Druck entsteht. Es setzt eine Gesellschaft extrem unter Spannung, wenn man so ein Gefälle auf engem Raum miteinander hat.
In Berlin und Umgebung kommt es aber zu dem Phänomen, dass Großstädter aufs Land fliehen. Ihr Roman »Unterleuten« liest sich wie ein Kommentar auf diesen Trend. Da gibt es einerseits die Alteingesessenen: die beiden Dorfchefs Kron und Gombrowski, die mit ihrer jahrzehntealten Fehde das Dorf im Griff haben, den schrullige Eigenbrötler Bodo Schaller, der nur seine Ruhe will, sowie den engagierten Bürgermeister Arne Seidel, der die Altlasten des Dorfes hinter sich lassen und eine neue Zukunft schaffen will. Andererseits sind da die Neumitglieder der Dorfgemeinschaft: der Naturparkschützer Gerhard Fließ mit Frau und Kind oder die der Managementpsychologie verfallenen Pferdeflüsterin Linda Franzen, die beide ihren Traum nach Idylle und Ruhe suchen. Natürlich geht genau die Ruhe und Harmonie, die das Dorf verspricht, verloren. Was läuft da falsch?
Unterleuten ist ein Dorf im Ausnahmezustand, weil das Dorfgefüge von den Bauplänen eines Windparks ordentlich durcheinandergerüttelt wird. Viele alte Konflikte kommen dabei wieder hoch, so auch der zwischen Kron und Gombrowski. Zwischen den Alteingesessenen und den Neuankömmlingen entsteht aber ein anderer, neuer Konflikt. Weil Städter nicht in ein konkretes Dorf ziehen, das sie interessiert oder in dem sie einen Job haben, sondern weil sie auf der Flucht aus der Hektik der Stadt sind, suchen sie ein Exil, wo sie sich Ruhe und Entschleunigung versprechen. Das ist aber eine Illusion. Und wenn man in die Illusion zieht, dann kommt es meist dicke. Menschen, die nur die Idylle auf dem Land suchen, haben einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit und werden, wenn die Realität sie einholt, unter Umständen schwer enttäuscht.
Sie sind 2007 selbst aus Leipzig in ein Dorf im Havelland gezogen. Wie haben Sie diesen Umzug in Erinnerung und wie schauen Sie inzwischen auf jene, die aus der Großstadt aufs Land fliehen?
Bei uns im Dorf ist nicht so viel Zuzug. Ich lebe nicht in einer Region wie die Uckermark oder der Oderbruch, wo der Trend hingeht. Dennoch identifiziere ich mich stark mit dem, was da passiert, und betrachte mich als Teil des Dorfes. Ich glaub, ich darf das auch. Mein Mann und ich haben das Gefühl, auf eine gute Art integriert zu sein. Wir hatten aber auch nie das Bedürfnis, uns dort zu entschleunigen. Uns ist dieses Haus im Havelland irgendwie zugestoßen. Und weil wir weder handwerklich noch gärtnerisch Ahnung hatten, waren wir auf Hilfe angewiesen. Wir wurden sehr herzlich und warm aufgenommen, haben viel Hilfsbereitschaft erfahren. Das war eine sehr schöne Erfahrung
Liest man ihren Roman vor dem Tableau der aktuellen Debatten, könnte man ihm einen einwanderungskritischen Ton unterjubeln. Mit allem, was von außen kommt – Neuankömmlinge, das Windparkprojekt, ein egoistischer Investor –, gerät die innere Ordnung durcheinander. Haben Sie Angst, dass der Roman in diese Richtung missbraucht wird?
Ehrlich gesagt bin ich noch gar nicht darauf gekommen, dass man das so auslegen könnte. Sollte das passieren, sehe ich dem mit Gelassenheit entgegen, denn dann entwickle ich einen gesunden Kampfgeist in Bezug auf die Debatte, die derzeit geführt wird. Ich halte mich bislang zurück, weil ich das Gefühl habe, dass sie ohnehin schon so hochgekocht ist. Da halte ich mich besser raus und warte, bis sich das wieder etwas abkühlt hat. Aber wenn einer auf die Idee käme, mir so etwas zu unterstellen, dann würden mir dazu schon noch ein paar Takte einfallen. Meine Position ist da sehr klar. Wenn ich eine Sache nicht glaube, dann dass das Neue, das Fremde, das Eingewanderte bestehende Strukturen gefährdet. Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich glaube.
Die große Kunst Ihres Romans besteht für mich in der Zeichnung der Figuren. Sie steigen in ihre Köpfe und lassen uns daran teilhaben, wie dort Für und Wider der eigenen Überzeugungen vor der Kulisse der Dorfkonflikte abgewogen werden. Wie ging es Ihnen dabei, sich in diese grundverschiedenen Menschen hineinzuversetzen?
Für mich bestand darin der Thrill beim Schreiben. Ich wollte immer wieder so komplett in die Figuren eintauchen, dass man sie sowohl in guten als auch in schlechten Tagen versteht. Die Menschen in Unterleuten sind ausnahmslos ambivalent, mal sympathisch, dann wieder unsympathisch. Plötzlich machen sie etwas, was man nicht versteht oder etwas Absurdes. Und dann geht man plötzlich in den Kopf einer anderen Figur und sieht die, in der man gerade noch gesteckt hat, als Verbrecher oder Egoisten. So hat man immer wieder diesen Wechsel zwischen Innensicht und Außensicht, und muss immer wieder revidieren, was man gerade noch geglaubt hat. Das fand ich beim Schreiben total spannend und hat für mich auch den Sog entwickelt, den es gebraucht hat, um dieses Buch fertig zu bekommen. Ich hoffe jetzt sehr, dass es den Lesern genauso geht und bei ihnen auch eine solche Spannung erzeugt.
Der vierte Teil Ihres Buches trägt den Titel »Nachts sind das Tiere«. So hießen auch schon Ihre 2013 veröffentlichten Essays über Sicherheit und Überwachung. Ist das eine Anspielung auf die niedrigschwellige Überwachung auf dem Land? Oder gibt es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Verfassen des Romans und der Essaysammlung?
Es ist beides. Es gibt tatsächlich einen zeitlichen Zusammenhang. Ich habe an dem vierten Teil gearbeitet, als der Essayband erscheinen sollte. Aber ich wollte das Dorf nicht als Großmetapher für die Überwachungsgesellschaft heranziehen, denn das wäre falsch. In einem Dorf greifen ganz andere Mechanismen, es herrscht eine ganz andere Form von Mitbekommen, Beobachten und Mithören als es für die staatliche Überwachung gilt, die ich so gerne kritisiere. Aber trotzdem ist es natürlich so, dass in Unterleuten viele der Themen, die ich in meinen Essays beleuchte, indirekt auch eine Rolle spielen. Deswegen habe ich den Titel für das Kapitel vom Essayband übernommen.
In Ihrem Roman heißt es, dass Dörfer, die wie Unterleuten die DDR überlebt hatten, wussten, wie man sich den Staat vom Leibe hielt. »Die Unterleutner lösten Probleme auf ihre Weise. Sie lösten sie unter sich.« Ist diese Dorfgesellschaft für Sie die bessere Gesellschaftsform?
Mit besser oder schlechter bewerten kann ich das nicht. Aber ich kann zumindest sagen, dass dieses dörfliche Miteinander etwas ist, was ich, nach all dem, was ich selbst erlebt habe, ungeheuer faszinierend finde. In dem Roman stecken viele persönliche Erlebnisse. Aber wie man weiß, gehören Fragen wie Was ist persönliche Freiheit? Inwiefern kann der Mensch frei sein in einer Gesellschaft oder einem Staat? Ist Freiheit überhaupt gut? Können wir Freiheit aushalten? und Wie viele Regeln brauchen wir? zu meinen Leib- und Magenthemen, mit denen ich mich immer wieder auseinandersetze. Es war faszinierend zu sehen, dass es in diesem gut reglementierten Deutschland Bereiche gibt, die unter dem Radar sind. In meinem persönlichen Umfeld funktioniert das wunderbar, da könnte man sagen, das ist im Grunde die Idealgesellschaft. Aber gleichzeitig gibt es natürlich auch wahnsinnige Probleme. Die Gefahr, dass so etwas schief geht, ist ungeheuer groß. Deshalb würde ich das nicht als Beispiel vor mir hertragen, nach dem Motto Zurück in die Anarchie!. Das ist nicht die Botschaft, die ich senden will. Vielmehr möchte ich mich anhand dieser Gesellschaft weiter an der Frage Wie viel Freiheit kann der Mensch leben? reiben.
Der Konflikt zwischen Kron und Gombrowski referiert einerseits auf die historische Systemfrage, ist andererseits aber auch höchst persönlich. Zentral an diesen Figuren scheint mir, dass beide die Gemeinschaft des Dorfes schützen wollen – jeder auf seine weise. In dieser Sehnsucht nach Gemeinschaft scheint mir auch etwas recht DDR-Spezifisches konserviert zu sein. Oder hätte der Roman auch in einer westdeutschen Region spielen können?
Es hätte mit einer etwas anderen Gewichtung auch in einer anderen Gegend spielen können, das denke ich schon. Für mich geht es aber nur so, weil der Kommunist Kron und der Kapitalist Gombrowski auf einer tieferen Ebene auch für den Kalten Krieg und den Konflikt zwischen den Blöcken stehen. Mir ging es außerdem darum, zu zeigen, dass die Feindschaft zwischen den beiden keine Chance auf Versöhnung zulässt. Denn dieser Konflikt stabilisiert das Dorf. Die Wahrheit neben all dem Schrecklichen, das in dieser Feindschaft liegt, ist doch die Beständigkeit, die sie beisteuert. Kron und Gombrowski könnten selbst gar nicht so genau sagen, ob sie sich hassen oder lieben. Das wichtige ist, dass der eine nicht ohne den anderen leben kann. Und dass das Dorf ohne die beiden zwar leben kann, aber in eine völlig neue Phase übergeht, als ihr Konflikt in den Hintergrund tritt, neue Bewohner hinzukommen und diese feste Struktur aufgelöst wird. Das hat für mich sehr viel mit unserer Epoche zu tun, in der die Sicherheiten verloren gehen. Das zwanzigste Jahrhundert geht wirklich zu Ende, auch in den Köpfen und Herzen, und die Zeit der Stabilität ist vorbei. Wir leben in der Zeit der großen Auflösung. Angst und Verunsicherung sind in den Köpfen der Menschen. Und genau das ereignet sich auch in Unterleuten. Das zu zeigen, ging am besten vor dem Hintergrund der DDR-Geschichte.
Warum haben Sie mit Ihrem neuen Buch auch den Verlag (von Schöffling & Co. zu Luchterhand, A.d.A.) gewechselt?
Ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel, weil mir in den letzten Jahren mein eigenes Leben etwas über den Kopf gewachsen ist. Im Grunde brauchte ich Tabula rasa, um mich von meiner eigenen beruflichen Biografie der letzten Jahre freizuschwimmen, die mit politischem Engagement und vielen Büchern sehr voll geworden war. Der neue Verlag fühlt sich für mich wie eine Bereinigung dieser Situation an. Jetzt geht es noch einmal von Neuem los.
Und dann schwimmen Sie sich mit einem solchen »Gesellschaftsroman« frei. Was heißt Gesellschaftsroman für Sie?
Ein Gesellschaftsroman hat in meinen Augen mindestens 600 Seiten (lacht), muss ein großes Figurenensemble jonglieren, an einer spannenden Geschichte entlang entworfen sein – ein Gesellschaftsroman muss ein Pageturner sein! – und durch die Psychologie der Figuren etwas über die Epoche offenbaren, in der der Roman spielt. Er muss außerdem ein Lebensgefühl, eine Befindlichkeit fühlbar machen. Bücher, die das können, lese ich selbst sehr gern und wenn ich ein solches vor mir habe, dann tauche ich in diese Bücher ein und bin überaus beglückt. Ich habe versucht, einen Roman zu schreiben, den ich selbst gern lesen würde. Das klingt zwar banal, aber das ist nicht immer der Fall. Manchmal schreibt man auch für einen vorgestellten Leser. Das war diesmal aber nicht der Fall.
Sind Sie enttäuscht, dass es Ihr Roman nicht auf die Shortlist für den Leipziger Buchpreis geschafft hat?
Naja, der Verlag und ich, wir versuchen uns das schön zu reden, indem wir uns sagen, dass der Roman vielleicht nicht nominiert wurde, weil ich als Autorin ohnehin schon so erfolgreich bin und den Preis nicht als Pushmittel brauche. Die Wahrheit ist, dass ich total enttäuscht bin und mich die Entscheidung richtig stresst. Ich schreibe schon eine Weile Romane in diesem Land und noch nie hat es eines meiner Bücher auf eine solche Liste geschafft. Ich kann es nicht richtig erklären, aber mich beschleicht ein Gefühl, als dürfte ich mit den anderen nicht mitspielen. Diese Enttäuschung ist sehr präsent, ich muss sie irgendwie wegatmen.
Sie haben vor zweieinhalb Jahren einen Aufruf von 560 internationalen Schriftstellern gegen Spionage und Massenüberwachung ins Leben gerufen. Das Medienecho war groß, getan hat sich seither aber wenig. Frustriert es Sie, das es selbst einige der klügsten Köpfe der Welt nicht schaffen, den staatlichen Allmachtsanspruch ausreichend eindringlich infrage zu stellen?
Ja, das frustriert mich maximal. Obwohl ich ständig predige, dass die Demokratie ein langsames Geschäft ist und das auch sein muss. Oder dass man mit einer Minderheitenmeinung einen langen Atem braucht, um zu überzeugen. All das weiß ich, aber dennoch frustriert mich dieser Stillstand total, weil ich in die Aktion wirklich unheimlich viel Arbeit, Zeit und auch Geld reingesteckt habe. Das Medienecho war so groß, dass ich mir gewünscht hätte, es passiert mehr. Ich habe mich seitdem mit vielen Politikern verschiedener Parteien und Kabinettsmitgliedern getroffen, von denen mir viele signalisierten, dass die Bereitschaft, etwas zu tun, auch da sei. Sie haben sich meine Vorschläge angehört, viele auch für gut befunden, aber am Ende ist trotzdem nichts passiert. Das ist schon frustrierend.
Werden Sie bei diesem Thema noch einmal nachlegen?
Das schon. Ich habe mich zwar auch bei dem Thema etwas zurückgezogen, um mal durchzuatmen, bin im Hintergrund aber weiterhin engagiert. Zum Beispiel nehme ich an einem Symposium teil, wo wir einen konkreten Vorschlag für eine digital taugliche Grundrechtscharta erarbeiten wollen. Irgendwann wird mich hier auch wieder das Feuer packen und ich werde medial lauter werden. Aber aktuell sind die Nachrichten durch die Flüchtlingsdebatte ohnehin besetzt. Da wäre es momentan eine Zeitverschwendung, sich um Aufmerksamkeit für dieses Thema zu bemühen. Hier müssen wir als Gesellschaft erst zu uns kommen, um uns mit den entscheidenden Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Die Flüchtlingsdebatte geht da an der Sachlage vorbei und ich kann nur hoffen, dass die Zukunftsdiskussionen bald wieder in eine vernünftigere Spur kommen.
Nach Ihrem Auftritt beim Literarischen Quartett kritisierten einige Kultur- und Medienvertreter, dass es von Ihnen nicht klug gewesen sei, den Roman von Ilija Trojanow, mit dem Sie mehrere Bücher verfasst haben, vorzustellen. Würden Sie das heute anders machen oder finden Sie diese Debatte hysterisch?
Ich habe mir das natürlich vorher überlegt, ob ich den Roman vorstelle. Mir war doch klar, dass jeder weiß, dass wir befreundet sind. Aber ich fand auch, dass dieses Buch wichtig ist und medial zu wenig beachtet wurde. Ich wollte es genau deshalb präsentieren. Ich habe also Ilija gefragt, die Redaktion vom Literarischen Quartett konsultiert und schließlich meinen Mann hinzugezogen, um herauszufinden, ob das ein Hinderungsgrund ist. Dass ich Ilija kenne, sollte weder der Grund sein, das Buch dort vorzustellen, noch der, es nicht vorzustellen. Das war mein Gedankengang, als Autorin wohlgemerkt, nicht als Kritikerin. Ich kann aber damit leben, dass andere diese Entscheidung kritisiert haben. Es folgt nur nicht so wahnsinnig viel draus.
Die Literaturkritik steht aktuell unter Druck, sei geschmäcklerisch, orientiere sich nicht an nachvollziehbaren Kriterien und nehme sich keine Zeit, literarische Debatten zu führen. Welche Erwartungen haben sie an die Literaturkritik.
Die, die jeder normale Mensch hat. Ich würde mir wünschen, dass Literaturkritiker mehr Zeit bekommen, sich mit Büchern auseinanderzusetzen. Ich erwarte, dass mir Literaturkritik ein Interesse an einem Buch vermittelt. Sie soll es weder verurteilen noch eine Hymne darauf singen – es muss wirklich nicht gleich immer der Superlativ sein. Ich erwarte aber, dass mir eine Kritik die Substanz eines bestimmten Buchs nahebringt. Es geht für mich darum, sich mit dem Inhalt seriös auseinanderzusetzen. Das ist aber nicht immer der Fall. Das liegt meines Erachtens schon daran, dass Kritiker zu wenig Ruhe und Zeit haben, um sich die Gedanken zu machen, die Literatur verlangt. Literatur ist ein langsames Geschäft, da kann man nicht heute einen Hype aus einem Buch machen und zwei Tage später den nächsten Ausnahmeroman bejubeln. Das passt nicht zur Gattung.
[…] Blackfacing gemacht. Sie selbst findet diese Vorwürfe rassistisch und teilt zurück aus. Hätten Juli Zeh oder Daniel Kehlmann einen Roman mit so einer anmaßenden, weißen Figur schreiben können?Im […]
[…] von ostsozialisierten Leser:innen bilden sie längst ein eigenes Genre. Juli Zehs zugegebenermaßen treffende Uckermark-Romane »Unter Leuten« und »Über Menschen« gehören ebenso dazu wie Moritz von Uslars streitbare »Deutschboden«-Titel oder Sven Regeners […]
[…] am Ende recht abgekühlt zur Seite. Wie sich dieses Buch etwa gegen Karen Duves Macht, Juli Zehs Unterleuten oder Thea Dorns Die Unglücksseligen durchsetzen und auf die Nominiertenliste gelangen konnte, ist […]