Literatur

Zonengabi im Glück

Der in Rostock geborene Autor Gregor Sander folgt in seinem neuen Buch dem Ruf in den Westen. Abseits ausgetretener Pfade reist er nach Gelsenkirchen und trifft dort Menschen, die von den guten alten Zeiten träumen.

Sie sind ungezählt, die DDR-Erklärungsromane westdeutsch sozialisierter Autor:innen, die den Osten und seine Gemütslage erklären wollen. Aus der Perspektive von ostsozialisierten Leser:innen bilden sie längst ein eigenes Genre. Juli Zehs zugegebenermaßen treffende Uckermark-Romane »Unter Leuten« und »Über Menschen« gehören ebenso dazu wie Moritz von Uslars streitbare »Deutschboden«-Titel oder Sven Regeners Kultroman »Herr Lehmann«.

Romane ostdeutsch sozialisierter Schriftsteller:innen, die sich den Verhältnisse in den so genannten alten Bundesländern widmen, sind gefühlt hingegen rar gesät. Über die Ursachen dieses Gefühls ließe sich spekulieren, das würde hier den Rahmen sprengen. »Jetzt wird es mal Zeit zurückzugucken«, findet Schlüppi, Kumpel des Ostberliner Schriftstellers namens Gregor Sander, nach einem bierseligen Abend. So zumindest beginnt das Buch, das der Ostberliner Schriftsteller gleichen Namens mit »Lenin auf Schalke« im Frühjahr veröffentlicht hat.

Die knapp 200 Seiten zwischen den Buchdeckeln darf man als Ergebnis des Zurückguckens verstehen, das Schlüppi von seinem Freund, der als Figur unverkennbar ein Alter Ego des in Schwerin geborenen Autors ist, gefordert hat. Um das Ganze nicht dem Zufall zu überlassen, vermittelt Schlüppi seinen schreibenden Kumpel zu seiner Cousine Gabi nach Gelsenkirchen. Die entpuppt sich als Zonengabi (hier dann doch der deutliche Hinweis zur Fiktionalisierung der Wirklichkeit), die einst auf dem Stern-Cover den Osten Repräsentierte und nun mit ihrem Freund Ömer in einer alten Bergmannssiedlung lebt. »Schalke-Fahnen, Gartenzwerge, Hollywoodschaukeln, Astern und Sonnenblumen, so weit das Auge reicht.«

Gregor Sander: Lenin auf Schalke. Penguin Verlag 2022. 186 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

Gelsenkirchen ist das Aushängeschild des gescheiterten westdeutschen Traums. Ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, geringstes Pro-Kopf-Einkommen; kurz gesagt: Tristesse am Anschlag. Der setzt sich der Berliner Autor im Herbst 2020 einige Wochen aus. Er zieht bei Zonengabi und ihrem wunderbar lakonischen Freund ein, der die Wissbegierde des neugierigen Ossis mit herzlich-unverblümter Lakonie zu stoppen weiß: »Nun halt mal die Fresse, Kevin, und genieß die Sonne.«

Es wäre sicher kein allzu großes Unterfangen, all die Klischees, die einem zu diesem Elend einfallen, bestätigend einzusammeln und zu einer Erzählung zu verknüpfen. Sander macht aber genau das nicht, er weiß um diesen prototypischen Fehler so mancher Osterklärungstexte. Sander lässt sein Alter Ego durch die Stadt streifen und mit jenen sprechen, die meist übersehen werden. Er unterhält sich mit einem emsigen Mann vom Stadtmarketing auf seinem »Rosinantenrad«, der wie Don Quichotte verzweifelt gegen die Attraktionslosigkeit der Stadt kämpft. Er stellt seiner glücklichen Zonengabi eine unglückliche MLPD-Gabi gegenüber, die auf irgendwelche Errungenschaften des Sozialismus hofft. Er frequentiert Traditionskneipen und Fanfriedhöfe, nimmt offizielle Kulturdenkmale und inoffizielle Kultstätten in Augenschein.

Dabei erfährt er viel vom Leben der Menschen, die am unteren Ende der sozialen Räuberleiter leben. Hier könnte das Format des Zurückguckens in ein geradezu zoologisches Interesse kippen, aber die Erfahrung, selbst den voyeuristischen Blicken der anderen ausgesetzt gewesen zu sein, macht Gregor Sander nahezu unempfänglich für diesen Reflex. Er will nicht einfach nur gucken, er will verstehen und macht diesen Erfahrungsprozess transparent.

Offen für das, was kommt, lässt er die Menschen (die aussehen »wie meine Großmutter in der DDR der Achtzigerjahre«) zu Wort kommen und stellt verwundert fest, wie sehr sie nostalgisch auf die Zeit der Wirtschaftswunderjahre zurückschauen. Das gilt auch für den Königsblauen Fussball, der seine besten Tage hinter sich hat und in der erzählten Saison »mit Schmackes inne Zweite Liga rauscht«. Die Wehmut zeigt sich aber auch an jeder anderen Ecke. Man sei im Ruhrpott »mit dem Aufbewahren ziemlich großzügig« gewesen, stellt der Erzähler fest, während im Osten alles abgerissen worden sei, was nach DDR aussah.

Sanders Reise an den Tiefpunkt westdeutscher Selbstverständlichkeit wird so auch eine in die eigene Vergangenheit, bei der die Unterschiede zwischen Ost und West immer mehr verschwinden. Sind wir uns am Ende viel ähnlicher, als wir immer annehmen? Und sind die vielen Ostromane aus Westperspektive am Ende nur ein Ergebnis der Langeweile an den eigenen Lebensumständen? Ist Gelsenkirchen so etwas wie der Osten im Westen, wo blühende Landschaften versprochen werden, letztendlich aber mehr Lichter ausgehen als brennen?

Es sind solche Fragen, die Sanders leichtfüßig geschriebener Roman aufwirft. Humorvoll, aber niemals unernst nimmt er uns mit in die Welt der Trinkhallen und Bierstuben, wo sein Alter Ego auf Menschen trifft, die die Sehnsucht nach einstiger Bedeutung im Griff hält. »Schlüppi, es geht den Leuten in Gelsen wie dir mit der DDR«, wird er seinem Kumpel gegen Ende seiner Wochen im Ruhrpott sagen. »Die Zeiten, wo sie alle unter Tage waren oder an den Hochöfen standen, werden immer schöner, je länger sie vorbei sind.«

Als der echte Gregor Sander im Herbst 2020 in Gelsenkirchen weilt, wird mit Karin Welge erstmals eine Frau zur Oberbürgermeisterin in der einstigen Stadt der tausend Feuer gewählt. »Vielleicht kricht die den Karren ja wieder ausm Dreck«, hofft eine der Ureinwohnerinnen von Gelsenkirchen, um gleich wissend zu ergänzen: »Hat se auf jeden Fall zu tun.«