Film

Cannes zeigt Ernaux-Dokumentation

»Les Années Super 8« hat die französische Autorin gemeinsam mit ihrem Sohn aus privaten Aufnahmen zusammengeschnitten. Der essayistische Film, der ihr umfangreichstes Werk auf die Leinwand überträgt, wird beim Internationalen Filmfestival in Cannes in der kommenden Woche in der Nebenreihe »Quinzaine des Réalisateurs« gezeigt und startet im Dezember in den französischen Kinos. Im Herbst erscheint in Deutschland ein neuer Text der von Annie Ernaux.

Mit dem kunstvollen Filmessay »Les Années Super 8« unternimmt Annie Ernaux zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot den Versuch, ein filmisches Kunstwerk zu schaffen, dass das Leben einer Frau, einer Familie, ihres sozialen Umfelds und ihrer Zeit in den Blick nimmt. Der Film basiert auf Super-8-Aufnahmen aus den Jahren 1972 bis 1981, die Annie Ernaux Ehemann Philippe gemacht hat. Bei der Sichtung dieser Aufnahmen sei ihr der Gedanke gekommen, dass sie nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch ein Zeugnis der Freizeitbeschäftigungen, des Lebensstils und der Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968 darstellen, erklärt Ernaux in der Synopse auf der Seite des Nebenwettbewerbs bei den Filmfestspielen in Cannes. »Ich wollte diese stummen Bilder in eine Geschichte einbinden, die das Intime mit dem Sozialen und mit der Geschichte verbindet, um den Geschmack und die Farben jener Jahre zu vermitteln.«

Das Ernaux dichte Literatur für die Leinwand geeignet ist, hat zuletzt die Französin Audrey Diwan mit dem Abtreibungsdrama »Das Ereignis« bewiesen. Grundlage des in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Films bildete der gleichnamige Text der französischen Schriftstellerin.

»Die Jahre« ist mit knapp 250 Seiten das umfangreichste Buch der französischen Autorin, die für ihre verdichtete, autobiografisch motivierte Prosa bekannt ist. Die 1940 geborene Ernaux hat darin ungewöhnlichen Weg gewählt, das eigene Leben vor dem Hintergrund von Beziehungen, Geschmäckern, Moden, Diskursen und politischen Ereignissen aufzublättern. So verzichtete sie auf eine Ich-Erzählerin und schafft eine gewisse Distanz. die das Persönliche nicht unterschlägt, sondern zu einer möglichen kollektiven Erfahrung werden lässt.

»Sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein«, heißt es in »Die Jahre«, das 2008 im Original und erst neun Jahre später in der formidablen Übersetzung von Sonja Finck erschien. Darin verwob die Französin Erinnerungen, Fotografien und Debatten zu einer Erzählung ihres Lebens. In »Les Années Super 8« wird diese Herangehensweise adaptiert. Die Fotografien werden durch Filmaufnahmen ersetzt, die der französischen Autorin als Ausgangspunkt dienen, um von ihrem Leben und den gesellschaftlichen Vorgängen zu erzählen. So entsteht eine Art Filmtagebuch, das nicht nur eine Frau porträtiert, die ihren Platz in der Welt sucht, sondern eine ganze Epoche unter die Lupe nimmt.

Annie Ernaux: Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag 2017. 255 Seiten. Hier bestellen.

Die wohl aussichtsreichste französische Literaturnobelpreis-Kandidatin war in Deutschland lange Zeit ein unbeschriebenes Blatt. Mit »Die Jahre« wurde sie hierzulande entdeckt. Es folgten Bücher wie die »Erinnerungen eines Mädchens« oder »Das Ereignis«, in denen sie mit Bezug auf Erlebnisse kunstvoll die Felder von Sexualität, Politik und Moral bearbeitete. Daneben stehen die ihren Eltern gewidmeten Texte »Eine Frau«, »Der Platz« und »Die Scham«. Mit ihren schmalen, aber überaus dichten Werken hat sich Ernaux auch hierzulande eine echte Fangemeinde geschaffen, so dass ihr literarisches Werk in Deutschland inzwischen einen festen Platz hat. Gemeinsam mit Didier Eribon und Édouard Louis bildet sie die Speerspitze der soziologisch unterfütterten autobiografischen Prosa Frankreichs.

Ihre Leser:innen können sich auf ein neues aufwühlendes Buch freuen. Im Oktober erscheint »Das andere Mädchen«, ein Text, der bereits 2011 im Original erschienen ist. Darin reflektiert die 72-Jährige ihre Existenz als Nachgeborene einer größeren Schwester, die vor ihrer Geburt an Diphtherie gestorben ist. Davon erfährt sie bei einem Gespräch ihrer Mutter mit einer Nachbarin. Über diese Schwester wird sie von ihren Eltern nie wieder ein Wort hören und ihrerseits auch niemals nach der Verstorbenen fragen. Dieses unausgesprochene Schweigegelübde verleiht dem »anderen Mädchen« Gestalt und prägt die Autorin für ihr Leben.

Annie Ernaux: Das andere Mädchen. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag 2022. 80 Seiten. Hier bestellen.

Annie Ernaux hat einen Brief an ihre Schwester geschrieben, die sie nicht hat kennenlernen können – »einen Brief von überwältigender Klarheit und zarter Traurigkeit, über Trennendes und Gemeinsames, über Kindheit und Geschichte und über Schicksalsschläge, die eine Familie auf immer verändern«, heißt es in der Ankündigung des Buches.