Oliver Grajewski zeichnet in »Abend im Abendland« ein Bild der westlichen Zivilisation, das die herkömmlichen Sichtweisen auf den Kopf stellt und gerade deshalb die Widersprüchlichkeit unserer Zivilisation sichtbar macht. Ein subversiver, grotesker, satirischer und grenzüberschreitender Hammerschlag gegen die bourgeoise Selbstzufriedenheit.
Die rechten Demagogen plärren um das Abendland. Täglich gehen irgendwo in der Republik die nationalen Heulsusen auf die Straße, um den angeblichen Untergang unserer Kultur zu bejammern. Fragt man sie, worin diese besteht, dann dreht die ohnehin schon lockere Schraube in den Gehirnwindungen hohl. Die kulturelle Mitte des Abendlandes befände sich dann irgendwo zwischen dem dumpfen Ordoliberalismus von Barbara Salesch, der eitlen Neidkultur von Heidi Klum und der selbstzufriedenen Dampfplauderei der konservativen politischen Elite und wäre übergossen mit einer quasireligiösen Matschepampe säkularisierten Christentums.
Was aber ist das Abendland? Diese Frage kann, nein muss man in diesen Zeiten, in denen vermeintliche Verfechter desselbigen immer wieder auf die Straße gehen, in aller Deutlichkeit fragen. Am besten kann man dies, indem man eine typische Kulturtechnik dieser mal als Region oder als Kultur oder als Lebensweise gemeinten Zivilisationsbeschreibung anwendet. Ideal scheint dafür die aktuell unter Druck geratene Herangehensweise der Überzeichnung, der Satire und Kolportage. Der Illustrator und Comiczeichner Oliver Grajewski hat genau das getan – viele Jahre vor den laufenden Debatten. Unter dem Titel »Abend im Abendland« liegen nun 249 Episoden seiner Reflektionen der »Fehlfarben des Alltags« (so der Klappentext) vor, die ebenso auf- wie anregend sind.
»Abendlandschwanger« möchte man die zwischen Cartoons, Collagen und Montage sowie wilden Skizzen wechselnden Blätter nennen, denn sie tragen all das, was das Abendland in jeder möglichen Deutung ausmacht, tief in sich. Politik, Geschichte und Popkultur gehen hier eine skurril-vieldeutige Melange ein, die zwischen Popkultur und Fine Art, klassischer Malerei, Comicstil und wildem Punk Paint changiert. Da sind die Künstlerzitate – Baselitz, Beuys, Rauch sowie der Hort ihrer Kultur, die Neue Nationalgalerie in Berlin – sowie das Zitat der Kunst als solches in der stilistischen Anlehnung und Reminiszenz. Da ist die Kunst der Verfremdung, sei es in der sprachlichen Form, wenn von einem Walter Grobius oder von Jack the Ritter die Rede ist, oder in der zeichnerischen Umdeutung, wenn auf einer Tafel der Dinokalypse ein »To big to fail« zu lesen ist.
Schon die Titel der zwischen 2004 und 2015 entstandenen Tafeln haben es in sich. Sie schwanken zwischen Provokation (»Ab 2001 kommen echte Explosionen weltweit immer mehr in Mode«), Lethargie (»Berliner Ladenfenster in Neukölln, Jahre vor der Gentrifizierung«), Absurdität (»Jesus-Mickey-Mouse bringt Pilgerin dazu, sich zu übergeben, in Öl«), Gesellschafts- (»Individuelles Streben und Wertekonflikt in Bezug auf die Endlichkeit des Lebens innerhalb kapitalistischer Verwertungszusammenhänge«) und Gegenwartskritik (»Temporale Paradoxie medialer Massenkommunikation«), wobei vermeintliche Heroen der deutsch-abendländischen Kultur (Peter Scholl-Latour, Rainer Werner Fassbinder, Joachim Witt, Florian Illies) ebenso ihr Fett abbekommen wie die internationalen Stars des westlichen Jetsets (Penélope Cruz, Damien Hirst, Jonathan Meese, Tony Blair).
Grajewskis Kunst ist vermeintlich unschwer als linke Kunst einzuordnen, doch wenn man genau hinschaut, ist es kein linker, sondern ein zeitkritischer Blick auf die Gegenwart, die seinen bildlichen Reflektionen zugrunde liegt. Dass dieser Blick zunächst als linkspolitisch motiviert erscheint, selbst das muss man als Analyse der Gegenwart lesen. Kritik der westlichen Lebensweise ist im gesellschaftspolitischen Mitte-Rechts-Mainstream unserer Tage ein Fremdkörper. Dabei gäbe es ausreichend Anlass, wie der Wahlberliner zeigt. Nehmen wir etwa den selbstgefälligen neokolonialen Habitus des Westens und seine Folgen, der nicht nur Ursache, sondern Nährboden für Terror, Krieg und Gewalt ist. Oder denken wir an den Geist der Rationalisierung und Optimierung, der in alle Lebensbereiche dringt und das Individuum zum Sklaven der vermeintlich alternativlosen Geldmarktpolitik macht. Oder den Militarismus des Westens, der zum Einen Mittel der unendlichen Ausdehnung der »Kulturregion des Abendlandes« ist, zum Anderen Instrument ihrer Begrenzung auf das Kerngebiet der »Festung Europa« ist.
Wenn das Abendland eine Entscheidende Prägung hat, dann die seiner Widersprüchlichkeit, wie Grajewski eindrucksvoll zeigt, indem er Politik, Alltag und Kunst, Nationalismus und Globalisierung, das Hochgestochene und das Triviale in den Kontext rückt, in dem es das Dasein der westlichen Zivilisation prägt und sie immer wieder ins Unzivilisierte abdriften lässt.
Grundsätzlich wäre dieser Zustand nicht unbedingt beklagenswert, ist er doch auch Ausdruck einer gewissen Sorglosigkeit. Die Vergesslichkeit allerdings, mit der die Ambivalenz unserer Lebensweise weggedrückt und von einer selbstherrlichen Mentalität ersetzt wird, sehr wohl. Denn sie lässt viele annehmen, der Westen sei der funkelnde Kristall in der Krone der Schöpfung, den es hinter dicken Glaswänden zu schützen gilt. Grajewski zertrümmert dieses Panzerglas mit präzisen Schlägen und legt die Unkultur des »Abendlandes« frei, mit der wir uns dringend befassen müssen, um hinter dem strahlenden Glanz des Kristalls auch das Schwarz der Kohle zu erkennen, aus der er gepresst und deren Dunkel noch immer die Wurzel vieler Übel ist.
»Abend im Abendland« ist eine Zumutung für Heulsusen, aber ein wildes und avantgardistisches Geschenk für all jene, die willens sind, ernsthaft über unsere Zeit und ihre Herausforderungen nachzudenken.
Hier geht es zu weiteren Illustrationen aus der Serie auf der Homepage des Künstlers
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