In ihrem Erfolgsroman »Der Mann schläft« warf Sibylle Berg die Frage auf, warum man sein Leben ständig verändert, selbst wenn man gerade sein Glück gefunden hat. In »Vielen Dank für das Leben«, ihrem neuen Werk, lässt sie uns an der Existenz des Glückes zweifeln.
Welch ein Mensch! Welch ein Schicksal! Welch grausam kalte Welt! Dieses Triumvirat der Verzweiflung bleibt mit einer nicht zu vernachlässigenden Portion Ingrimm beim Leser zurück, wenn er die letzte Seite von Sibylle Bergs Roman Vielen Dank für das Leben umgeschlagen hat. Der verheißungsvolle Titel ist ein Witz, an Sarkasmus kaum zu überbieten – aber wer das Werk der Wahlschweizerin kennt, den überrascht das nicht.
Bergs literarischer Weg ist gepflastert mit Existenzen, die zum Scheitern verurteilt sind, weil sie, ausgestattet mit physischen und psychischen Mängeln, durch die kapitalistische Leistungsschau fallen. Der sarkastisch-kritische Blick von Sibylle Berg auf die Moderne prägt auch ihre Kolumne S.P.O.N. – Fragen an Frau Sibylle, in der sie die Biederlichkeiten und Widerlichkeiten des Alltags namens Konservativismus, Patriarchat, Religiosität oder Nationalstolz aufs Korn nimmt. Zugespitzt, aber niemals überzogen, macht sie so immer wieder deutlich, wohin es eine Gesellschaft führen kann, wenn Extremismus und Gleichgültigkeit eine Beziehung eingehen. Dies gilt auch für ihren neuen Roman.
Im Mittelpunkt steht Toto, ein überdimensionierter »Fleischklumpen« und Hermaphrodit, dessen Leben sich von einer Schlechtigkeit zur nächsten hangelt. Totos Dasein ist ein Überleben in einer gefühlsarmen Welt. Geboren als geschlechtsloses Kind einer Alkoholikerin infolge einer beliebigen sexuellen Begegnung mit zwei Männern, von den Ärzten zum Mann erklärt und notdürftig zurechtgenäht, im DDR-Kinderheim einem autoritären Regime anheimgegeben und dem Spott der »Mitinsassen« überlassen, von selbstverliebten Hippies in die BRD entführt und in einem Nachtclub wie ein Zootier ausgestellt, erlebt Toto nichts als Ablehnung und Kälte. Was auch immer diesem Menschen widerfährt, es hat nichts mit Wärme, Empathie oder gar Liebe zu tun. Schönheit, Anmut, Respekt, Freundlichkeit, Wärme, Toleranz – all das ist aus diesem Leben derart extrem wegradiert, dass selbst die doch unantastbare Würde des Menschen verlorengeht.
Der stupend naive Toto – ein Name, der an Hunde denken lässt – erträgt stoisch jeden neuerlichen Schlag ins Kontor, jede weitere lebenssadistische Schicksalswendung. Jegliche Gemeinheit perlt an ihm ab, Toto scheint immun gegenüber den Abgründen dieser Welt zu sein. Alles lächelt er innerlich weg in der Hoffnung, dass hinter der nächsten Kreuzung das Gute auf ihn wartet. Doch hinter jeder neuen Kurve, selbst wenn sie im verheißungsvollen Westen mündet, lauert die Enttäuschung. In Paris, der Stadt der Liebe, hofft Toto, das zu finden, was der Ruf der Metropole verspricht.
Sibylle Berg schildert dieses Schicksal im Stile der unbeteiligten Beobachterin haarklein und nüchtern, hinter dem emotionslosen Stil verbirgt sich jedoch eine wütende Anklage gegen unsere Gesellschaft. Es ist nicht Bergs Hermaphrodit, der an der Welt zugrunde geht, es ist die Welt, die an ihm scheitert. Die Welt, das sind wir selbst.