Comic, Klassiker

Philosophieren im Kaninchenbau

Der Österreicher Nicolas Mahler beweist einmal mehr seine kongeniale Zeichenkunst und legt mit »Alice in Sussex« eine urkomische Version der Carroll’schen Zauberwelten vor, in der ein Frankenstein’sches Monster spazieren geht.

Wer kennt sie nicht, die Lewis Carroll‘sche Unterwelt, in die die kleine Alice nach der Begegnung mit dem weißen Kaninchen gelangt, um dann einige Zeit in der illustren Gesellschaft von Grinsekatze, Märzhasen, einem skurrilen Hutmacher und dem Herz-Königspaar zu verbringen. Der österreichische Comiczeichner Nicolas Mahler hat diese Geschichte zum Ausgangspunkt einer skurril-komischen Adaption genommen, die unter dem Titel Alice in Sussex vor wenigen Wochen erschienen ist.

Alte-Meister
Thomas Bernhard: Alte Meister. Suhrkamp Verlag 2011. 158 Seiten. 18,99 Euro. Hier bestellen

Dass Mahler Klassiker nicht nur auf ungewöhnliche Weise lesen, sondern auch neu interpretieren kann, bewies er bereits mit der Adaption von Thomas Bernhards Alter Meister, in der sein Held am Ende philosophiert »Was denken wir und was reden wir nicht alles und glauben, wir sind kompetent und sind es doch nicht, das ist die Komödie, und wenn wir fragen, wie soll es weitergehn?, ist es die Tragödie.«

Als Meister der Reduktion schiebt Mahler in seinen comicalen Verarbeitungen Erzählstränge beiseite und Ebenen übereinander, um in einfachsten Bildern und zugespitztesten Dialogen etwas zu erzählen, was nah an der Vorlage ist und dennoch Raum zur Neuinterpretation lässt. Er beweist dabei, welche Kraft die Rhythmisierung von Text und Bild für die comicale Erzählung birgt und welch faszinierende Wirkung die unterschiedliche Strukturierung der Elemente im Einzelbild hat. Immer wieder treibt er das Zusammenspiel von tiefgründigen Texten und einfachsten Bildgrafiken auf die Spitze, vervollkommnet beides bis zur gegenseitigen Stimulation.

Mahler gehört zu den Granden im deutschsprachigen Comic-Geschäft. Bereits drei Mal erhielt er mit dem Max-und-Moritz-Preis den wichtigsten deutschen Comicpreis für sein künstlerisches Schaffen. Werke wie Flaschko, Das Unbehagen, Van Helsing macht blau, Längen und Kürzen oder die schon erwähnte Bernhard-Adaption Alte Meister gehören zur Liste der Pflichtlektüre jedes Mahler-Adepten. Diese Liste ist mit Alice in Sussex nunmehr um einen Titel erweitert worden. In wenigen Wochen erscheint eine Musil-Adaption. Die Vorfreude könnte kaum größer sein.

Mahlers blauhaarige (eine hübsche Verlagerung der sprichwörtlichen Blauäugigkeit der Titelheldin, die sich durch den ganzen Comic zieht) Alice fällt bei Mahler in den Kaninchenbau, weil ihr das wunderliche Wesen in Aussicht stellt, in seiner Bibliothek eine »aufwendig illustrierte Erstausgabe« von H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex stehen zu haben. Die Illustrationen fehlen der gelangweilten Alice in ihrer Ausgabe. Denn »was für einen Zweck haben Bücher, in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?«, fragt sich Alice, bevor sie im Kaninchenbau abtaucht. Eine Frage, die den Lesenden ebenso gilt, von denen womöglich manche das erste Mal ein solch illustriertes Büchlein in der Hand halten, weil dieses – wie einige andere auch – im renommierten Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Wenngleich Mahler seiner Alice diese Frage kaum im Suhrkamp’schen Werbesinne in den Mund gelegt hat, ist sie angesichts der strategischen Entscheidung des Verlags, auf die Comicbegeisterung aufzuspringen, überaus passend.

Alice-in-Sussex
Nicolas Mahler: Alice in Sussex: Frei nach Lewis Carroll und H.C. Artmann. Suhrkamp Verlag 2013. 143 Seiten. 18,99 Euro. Hier bestellen

Was mit dem Abstieg in die Kaninchenhöhle beginnt, ist eine absurd-vergnügliche, verrückt-geordnete, federleicht-psychologische Erkundung einer Wunderwelt, die gleichermaßen für die Erzählung wie für das Medium steht, in dem sie erzählt wird. Mal fühlt sich Alice in einen Roman von Jules Verne versetzt (weil sie in eine Welt fällt, die sich gefühlt 20.000 Meilen unter der Oberfläche befindet), mal zitiert sie aus Voltaires satirischer Novelle Candide oder die beste aller Welten. Kein Wunder, schließlich soll sie sich ja in einer solchen befinden.

Wie man es erwarten kann, kann das Kaninchen die illustrierte Frankenstein-Ausgabe natürlich nicht finden (»ist wahrscheinlich noch in Umzugskartons«). Stattdessen schlägt es andere Lektüren vor, etwa Ciorans Vom Nachteil geboren zu sein (»Wunderbar deprimierend«), Wider die Jugend von Poulet (»Wahrscheinlich ist es nicht das Richtige für ‚Erstleser‘!« oder Stürzers Schwankende Gestalten (»Der Titel ist jedenfalls gut«). Alice begibt sich dann doch lieber wieder auf reisen, beflügelt durch die verbotene Kost der Schwanensuppe, und begegnet den anderen Bewohnern dieses mehrstöckigen Kaninchenbaus, also Raupe, Grinsekatze, einer falschen Suppenschildkröte und einem blechernen Riesen, der sich als Mahlersche Frankenstein-Version entpuppt, der von seine literarischen Schöpferin Mary Shelley und Frau Holle schwärmt.

Bei Nicolas Mahler trifft Alice bei ihrer Reise durch das Wunderland auf fantastische Weise auf Frankenstein, begleitet von einem vergnüglichen Zitatefestival. Und am Ende war alles nur ein Traum. Weiterschlafen erwünscht.

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