In Juli Zehs Roman »Spieltrieb« sucht sich eine intellektuelle Überfliegerin selbst und findet sich in den Katastrophen, die sie selbst mit auslöst. In der sehenswerten Verfilmung brillieren mit Michelle Barthel und Jannik Schümann zwei der aufregendsten und vielversprechendsten Jungschauspieler Deutschlands.
Sapere aude! Kants berühmte Übersetzung dieser knappen Aufforderung Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! wird in Juli Zehs Roman Spieltrieb zum Motto der Schlüsselperson, der 15-jährigen, hochbegabten Ada. In Gregor Schnitzlers Verfilmung, die in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt, ist man besser bei der wörtlichen Übersetzung des lateinischen Zitats aufgehoben, die mit Wage dich, vernünftig zu sein! an das Wagnis erinnert, das mit dem Mut einhergeht. Denn für die Einzelgängerin Ada (Michelle Barthel) ist es tatsächlich ein Wagnis, dem eigentlich unnahbaren, mit dämonischen Zügen ausgestatteten Alev (Jannik Schümann) zu befreien. Denn Ada fühlt sich zu ihm hingezogen, auch wenn er selbst angibt, keine Liebesbeziehung eingehen zu können.
Juli Zehs Erfolgsroman ist eine Vorlage, die es in sich hat. Neben Fragen der Spieltheorie und des Spieltriebs geht es vor allem um Pragmatismus und Nihilismus. Ada und Alev entwirft sie in ihrem Roman als »Urenkel der Nihilisten«, die nichts mehr haben, woran sie glauben oder nicht glauben können. Es gibt nichts mehr neben dem pragmatischen Leben, da dem Menschen »die Ideen ausgegangen« sind. Ideologien, Religionen, Menschenrechte oder Demokratie sind in Zehs Roman abwesend, zentrale moralische Werte ebenso anwesend wie abwesend. Gregor Schnitzler hat diese Geschichte nun verfilmt.
Ada und Alev – beide am privaten Elitegymnasium Ernst-Bloch in Bonn – pflegen von Anfang an eine ungleiche Beziehung. Ada ist die Überfliegerin der Klasse. Sie liest in ihrer Freizeit Musil, Dostojewski und Sartre, und macht sich als heranwachsende Existenzialistin über Blochs »Prinzip Hoffnung« – und damit auch über eine nicht-irdische Gotteshoffnung – lustig, während sich ihre Mitschülerinnen mit der Gala auseinandersetzen. Ihre spröde Intellektualität – im Film nicht genauso radikal ausgearbeitet wie in der Romanvorlage – führt zu ihrer selbstgewählten Isolation. Sie will nicht zu der sich bietenden Oberflächlichkeit dazugehören. Dass sie wie die meisten Mitschüler nicht aus besseren Verhältnissen kommt, der Vater das Schulgeld nicht zahlt und die Mutter ihre gescheiterte Ehe trinkend zu bewältigen versucht, steigert ihre Sonderposition. Einzig ihre außerordentlichen Leistungen rechtfertigen noch ihren Verbleib an der Schule.
Alev hingegen kommt aus besten Verhältnissen. Seine Biografie leuchtet mit fünf Auslandsaufenthalten, mit seinem noblen Kleidungsstil fällt er aus dem Klassendurchschnitt heraus. Seine Leistungen allerdings sind so miserabel, dass sein Schulverbleib nur mit den Finanzen seines Diplomatenvaters zu erklären ist. In Gefahr bringt er seinen Schulaufenthalt auch durch sein flegelhaftes Benehmen an der Schule. Herablassend, aber nicht unklug kommentiert er die Ansagen seiner Lehrer, die dem Eleven zum Teil hilflos gegenüber stehen. Als Atheist – »Wahrscheinlich bin ich ohne Glauben zur Welt gekommen, wie andere Leute ohne Arme oder Augenlicht geboren werden« – lehrt er sie mit seinen hoffnungsfreien Kommentaren das Fürchten.
Nur einer kann es mit ihm aufnehmen, der kriegsversehrte Philosophielehrer Höfi (Richy Müller), ein Skeptiker und Zyniker vor dem Herrn. Gegen dessen kritische Stimme vermag nicht einmal Alev wirklich anzukommen. Die Komplementärfigur zu dem »Krüppel« ist Deutsch- und Sportlehrer Smutek (Maximilian Brückner), ein aus Polen stammender Adonis, der in katholischen Familienverhältnissen lebt und den jede kritische Stimme ins Schwanken bringt – eine Einladung für Alev. Der allerdings will es nicht bei Provokationen belassen, sondern den Lehrer in eine perfide Intrige verwickeln. Sein Spieltrieb ist geweckt. Ada kennt als einzige seine Theorie vom Spieltrieb, die besagt, dass alle Handlungen des Menschen Spielhandlungen sind. Alevs Ziel ist es, die Menschen wie Spielfiguren zu steuern und zu manipulieren – sein Mittel heißt Ada, sein Opfer Smutek.
Ausgangspunkt des hinterhältigen Spieles von Alev ist ein Ereignis auf einer Klassenfahrt in den Bergen. Ada rettet Smuteks Frau Magdalena (Sophie von Kessel) das Leben, als sie sich deprimiert in einem See ertränken will. Ada verliert danach unterkühlt das Bewusstsein. Smutek befreit sie von ihrer nassen Kleidung und legt Ada in warmes Badewasser, wovon sie Alev erzählt. Dieser schmiedet sofort seinen Plan. Ada soll Smutek zum Sex verführen. Alev will das Stelldichein filmen und den Lehrer erpressen. So will er zum Herr über Smuteks Leben und zum »Schöpfer eines Realdramas« werden. Smutek will er damit zerstören und zugleich auferstehen lassen – außerhalb seines kleinbürgerlichen Gefängnisses.
Zurück von der Klassenfahrt stürzt sich mit dem Philosophielehrer Höfi Adas Mentor und pädagogischer Halt in den Tod – und das Spiel zwischen der verunsicherten Ada und dem labilen Smutek beginnt. Nach dem Leichtathletiktraining verführt Ada ihren Lehrer und schläft mit ihm in der Turnhalle. Als Smutek bemerkt, dass Alev sie filmt, läuft er verwirrt davon. Doch er kann der Schlinge, die ihm der dämonische Schüler um den hals legt, nicht entkommen. Immer öfter führt Alev den Lehrer und Ada zusammen. Goethes Fischer-Motto »Halb zog sie ihn, halb sank er hin« trifft einhundertprozentig auf Smutek zu, der der jungen Ada mehr und mehr verfällt.
Zuweilen fühlt man sich in diesem Film mit seiner ebenso intellektuellen wie jugendlich-wilden Atmosphäre und der Internatssituation im besten Sinne an Peter Weirs Club der toten Dichter erinnert. Jannik Schümann spielt den gefühlskalten, nihilistischen und in seiner abgrundtiefen Gemeinheit badenden Alev in grandioser Manier und verleiht dieser faustischen Figur soviel Tiefe und Glaubhaftigkeit, dass sie einem unter die Haut kriecht. Seine Schauspielkunst trägt dazu bei, dass hier sämtliche bürgerlichen Moralvorstellungen ins Nichts gekippt werden können, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Michelle Barthel gibt ihrerseits der Spielkameradin Alevs eine Zartheit und Verletzlichkeit, die man aus Juli Zehs Roman so nicht kennt. Umso höher ist der Aufstieg, den die Protagonistin in dieser Coming-of-Age-Geschichte. Sie ist es schließlich, die diesem Drama selbst ein Ende setzt, wenngleich dies das direkte und gewaltsame Aufeinandertreffen der zwei Männer in dieser Dreieckskonstellation nicht verhindert.
Die Moral von der Geschichte liegt nicht in der Auseinandersetzung von Smuteks konservativ-kleinbürgerlicher Welt und Alevs kühler, gottabgewandter Einstellung, sondern im Reifeprozess von Ada, die erst dem einen verfällt und sich dann mit der Erfahrung der Begegnung mit dem anderen vom ersten befreit, ohne sich im nächsten aufzugeben. Sie lässt sich von zwei Männern manipulieren, löst sich aber wieder von ihnen und findet ihre Eigenständigkeit. Der Prozess, den sie im Laufe der Geschichte durchmacht, lässt sich mit dem apollonischen Kernsatz »Erkenne Dich selbst« am besten auf den Punkt bringen. Sie lernt, dass Menschen das Recht haben, so zu leben, wie sie wollen und sich so zu lieben, wie sie sind.
Gregor Schnitzler ist mit seiner Verfilmung gelungen, was nicht vielen Regisseuren gelingt. Der Kinofilm Spieltrieb bewegt sich mit der phänomenalen Romanvorlage aus der Feder von Juli Zeh in weiten Teilen auf Augenhöhe. Besser als der Roman konnte er ohnehin nicht werden.
Spieltrieb. Ein Film von Gregor Schnitzler. 104 Minuten. Kinostart: 10. Oktober 2013. Hier geht es zur Website zum Film.