Literatur, Roman

Rabenmutterseelenallein

© Thomas Hummitzsch

Von der Rabenmutter aus dem schützenden Nest gestoßen erzählt Peter Wawerzinek in seinem mit dem Bachmannpreis gekrönten Roman »Rabenliebe« von einem Leben, das mit dem Winter nur eine Jahreszeit kennt.

Es ist verwunderlich, dass es nicht schneite, als Peter Wawerzinek im Juni 2010 für einen Auszug aus seinem Roman »Rabenliebe« im österreichischen Klagenfurt sowohl den Bachmannpreis der Jury als auch den Publikumspreis erhielt. Denn in den wichtigsten Augenblicken des Schriftstellers hat es bisher immer geschneit. Die Rückkehr des 56-jährigen Literaten, der in den 1980er Jahren im Berliner Prenzlauer Berg als Star in der Künstlerszene galt und nach der Wende in den Niederungen des Literaturbetriebs und noch weit darunter ankam, kann man als einen solch wichtigen Augenblick begreifen. Nun ist Peter Wawerzinek wieder da. Mit dem zweifellos intensivsten Roman des Jahres »Rabenliebe. Eine Erschütterung« feierte er ein ebenso grandioses wie bedrückendes Comeback.

Folgt man der Logik Wawerzineks, hätte Klagenfurt ein »Schneeaugenblick« sein müssen. Aber im Frühsommer will es auch in der Stadt des Bachmannpreises nicht schneien. Die Tage seines Erfolgs Ende Juni 2010 fallen aus der Reihe der einschneidenden Lebensmomente: Es schneit auf dem Weg ins Kinderheim – seine erste Kindheitserinnerung. In einem verschneiten Winter Anfang der 1960er Jahre wird er zum dritten Mal adoptiert. Es liegt Schnee als er heiratet, zur Geburt des ersten Kindes und auch am Tag seiner Scheidung schneit es. Und als der Stiefvater beerdigt wird, senken sich Schneeflocken auf den in den vereisten Boden gelassenen Sarg. »Alle wichtigen Augenblicke meines Lebens werden Schneeaugenblicke, Schneejahrzehnte«, schreibt Wawerzinek. So sehr auch der Moment der Preisverleihung mit der Kälte dieses Lebens in Verbindung stand, Klagenfurt muss ein wärmender Augenblick gewesen sein. Diese fulminante Rückkehr in die Beletage der Literatur muss Genugtuung geboten haben; nicht für ein Leben im Schatten des Muttermangels, aber für den jahrelangen inneren Kampf mit diesem monumentalen Werk, welches er unter Alkoholexzessen, Tränen und Wut seinem Dasein abgetrotzt hat.

»Rabenliebe« ist die Rückschau eines Mannes auf sein Leben, das vom Fehlen und Suchen nach der Mutter geprägt ist. Wawerzinek, Jahrgang 1954, wurde im Alter von zwei Jahren von der Mutter verlassen. Sie ließ den Jungen mit seiner Schwester in der Wohnung zurück, als sie hinter sich die Tür zuzog und ohne Rücksicht auf Verluste ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlug, indem sie in den Westen floh. Die beiden Kinder wurden getrennt und kamen ins Heim. In seinem Roman erzählt Wawerzinek zunächst von seiner Kindheit im Heim und einem Leben zwischen den Adoptionsstühlen einiger Möchtegerneltern – alles in allem eine Zeit der intensiven Suche nach etwas, das sich als die Mutter herausstellt. Im zweiten Teil berichtet er dann von dem enttäuschenden Auffinden selbiger nach der Wende und dem erneuten aufbrechen von alten Wunden.

Die Fahrt in das erste zahlreicher Heime ist Wawerzineks erste Kindheitserinnerung. Sie ist eher eine Kindheitsimagination, als eine konkrete Erinnerung. Denn es gibt verschiedene Varianten dieser Fahrt ins Ungewisse, die am Beginn seines Buches steht. Stets führt die Fahrt durch eine Schneelandschaft, mal in einer gut beheizten, schwarzen Limousine, die sicher durch den über der Küstenlandschaft liegenden Nebel pflügt, mal auf dem Rücksitz eines Motorrads, geklammert an den schwarzen Ledermantel des anonymen Fahrers, der das Gefährt schlingernd durch die eisige Landschaft steuert. Nebel, Schnee, Kälte – dies ist die abstoßend kalte Natur, aus der Wawerzinek kommt und die sein Leben prägt. Kalt ist auch die Atmosphäre des Romans, in dem die desertierte Mutter den Rang der erbarmungslosen Schneekönigin erhält.

© Thomas Hummitzsch
© Thomas Hummitzsch

Der preisgekrönte Roman ist die haltlose Seelenbiografie seines Autors. Es ist der Versuch Wawerzineks, die aufgezwungene lebenslange Leerstelle, die der Begriff Mutter in all seinen Bedeutungen und Funktionen für ihn darstellt, zu definieren und anschaulich zu machen – vor sich selbst und vor der Welt. Dafür stürzt er sich ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit in ein schwarzes Loch der Erinnerungen, die er auf ebenso faszinierende wie erschreckende Weise zu einem Roman verdichtet und verwebt, der Anklage- und Verteidigungsschrift in einem ist. »Ich bin ein Tennisspieler, schlage Erinnerungen wie Bälle, die alle aus mir hervorschießen wie aus einem Erinnerungsautomaten, von mir getroffen und gegen die Erinnerungswand geschmettert sein wollen.« Der Leser wohnt diesem Spiel geschmetterter Erinnerungen bei. Außerhalb des Romans ist er nur vermeintlich in Sicherheit, denn Wawerzinek drischt seine Erinnerungsbälle immer wieder auch mal aus diesem hinaus in die weite Welt.

Muttermangel als Symptom ist in der Psychologie nichts Neues, wird von ihr als Folge des sog. Lilith-Komplex’, einer Ablehnung der Mütterlichkeit durch die Mutter, behandelt. Wie weit die durch diese Ablehnung folgenden Störungen im Mutter-Kind-Verhältnis gehen können bzw. wie weit die Verweigerung eines Mutter-Kind-Verhältnisses führen kann, begreift man erst mit Wawerzinek. Erst spät war das verlassene Kind in der Lage, die Muttersprache zu sprechen, als habe er lange Zeit nicht gewusst, was damit gemeint sein soll, Mutter-Sprache. Wenn die Mutter und jede Vorstellung an diese Kategorie fehlt, wie soll man dann etwas von der Muttersprache verstehen? Den Begriff Mama verwendet er das erste Mal mit vier Jahren am Frühstückstisch, um ein Butterbrot mit Mamalade zu verlangen – einen anderen Verwendungszusammenhang kennt der Junge nicht. Sein Leben lang wird Wawerzinek Schwierigkeiten mit den Mutter-Worthülsen haben, die er nur als Theoreme kennt. Selbst beim Verfassen seines Romans scheint er hilflos vor diesen Worten gesessen zu haben: »Die gesamte Phase der Manuskriptarbeit stoße ich auf Begriffe, die mir Angst machen. Ich muss das Wort Mutter benutzen, obwohl es mir verhasst ist. Ich schreibe die Worte Vater, Liebe, Wärme, Einsamkeit, Heimat nieder. […] Worte, die nicht die Worte sind, für die sie stehen, sondern Worte, die ich zu benutzen gezwungen bin.«

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Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Eine Erschütterung. Verlag Galiani 2010. 428 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen

Seine Erinnerungen an die Zeit in verschiedenen Heimen sind geprägt von Einsamkeit, fehlender Zuneigung und kindlichen Grausamkeiten. Gekrönt wird all dies nur noch durch das überforderte Heimpersonal, dessen »pädagogisches« Handeln  ebenso mitleidig wie abgestumpft, hilflos und autoritär-gewalttätig ist. Diese Heimerfahrung lastet Wawerzinek bis heute auf den schultern, ist eine Bürde. Nirgendwo wurde dies bisher greifbarer als in diesem Roman: »Du bleibst im Heim, steckst fest in ihm wie das kleine Rad in einem Riesenuhrwerk, dessen Klöppel dir im Sekundentakt auf den Schädel klopfen, kein hartes Klopfen, sanft und regelmäßig, dass es kaum auszuhalten ist, dieses Heimkindsein.«

Ein erster Adoptionsversuch der Heimköchin scheitert am Widerstand ihres grantigen Mannes. Mit zehn Jahren wird Wawerzinek schließlich das erste Mal adoptiert – erfolglos. Der bisher Nicht-Gewollte zeigt sich nicht auf Knopfdruck als Wollender und fällt den Möchtegern-Eltern zur Last. Die nahe liegende Lösung besteht in der Zurückführung ins Heim. Eine zweite Adoption hält länger, doch auch hier führt sie nicht zu einer glücklichen Kindheit. Permanent steht er unter Beobachtung, ob ihm die Abnabelung aus dem Heim gelingt. »Jeder Tag ein Spießrutenlauf«, erinnert sich Wawerzinek in seinem Roman. Das Schweigen der Adoptionseltern zu seiner Herkunft habe ihn in die Arme der »Mutter in Abwesenheit« getrieben, schreibt er in seinem Roman. Er sei nahezu verzweifelt an der Angst, eine mögliche Geste der Zuneigung zu den Adoptiveltern vor der leiblichen Mutter eines Tages rechtfertigen zu müssen. Diese unüberwindbare Distanz zwischen den Adoptionseltern und dem Kind habe sich nie verloren, kann man in seiner romanesken Autobiografie nachlesen. Darin klagt er seine Adoptionseltern sogar an und wirft ihnen vor, ihn für ihre »erzieherischen Versuche missbraucht« zu haben. »Mir ist während der Adoptionszeit am intensivsten vorenthalten worden, was ich am meisten gebraucht hätte: Zuneigung, Mutterliebe, Wärme, Entdeckung und Ausweitung meiner Talente.« Um nicht mehr »in der namentlichen Hülle der Adoptionseltern wie in einer Zwangsjacke zu stecken und unter falschem Namen beerdigt zu sein«, legte er den Namen der Adoptionseltern vor wenigen Jahren ab.

Wawerzineks Kindheit ist geprägt von dem Dasein als Spielball erwachsener Launen. Die kalte Schulter, die er immer wieder präsentiert bekommt, ist bei Wawerzinek eine eisige Wange. In den kurzen Momenten der ersten Euphorie habe er diese eisige Wange immer wieder entgegengestreckt bekommen. Wärme hinterlassen haben diese Berührungen jedoch nie: »Der Fluch meines Lebens. Die eisige Wange. Von hier nach dort verstoßen, umhergezogen, nebenbei behandelt, verhöhnt, verlacht und in ungemütliche Richtung gestoßen, von einer Kälte in die nächste geworfen, von dort nach da und dort zurückgeschubst, dass keine Zeit bleibt, kein Gedanke kommen kann, mein Leid einzuklagen, den Ledermantelmann endlich bei seinem Ledergürtel zu packen, das beißende Schwarz der Flagge zu bannen.« Das Kind Peter Wawerzinek ist das verletzte, das »wehe Herzkind«, dessen Leid niemand hören und schon gar nicht nehmen will.

© Thomas Hummitzsch
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Schutz bietet ihm in seiner Welt keiner, nicht das Heimpersonal und auch nicht die Adoptionseltern. Es gibt in seinem Roman keine Großeltern, keine Tanten oder andere Verwandte die da sein könnten. Der Vater, der die Familie noch vor der Mutter verlassen hat, findet nahezu gar nicht statt. Einzig die erfolgreiche Suche nach der Schwester wärmt ihn kurzzeitig.

Zum Begreifen seines haltlosen Daseins kommt das Kind in dem Roman kaum. Alles, was es wahrnimmt, ist das Gefühl einer uferlosen Einsamkeit, der es ausgeliefert ist. »Ich bin die Strohpuppe, Vogelscheuche auf dem weiten Feld unbeantworteter Träume und imaginärer Herzenswünsche. Ich bin das Kind im viel zu großen Weltraum.« Auf fast 300 Seiten versucht Wawerzinek, diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen und man ist sich nicht vollends sicher, ob der dabei entstandene postmoderne Mix aus nahtlos ineinander überfließender Prosa, klassischer Lyrik sowie Schüttelreimen und Kinderliedern, unterbrochen von Zeitungsmeldungen über Kindstötungen, -misshandlungen und -vernachlässigungen, Ausfluss künstlerischer Genialität oder der Hilflosigkeit des Autors ist, der Worte für etwas sucht, was nicht in Worte zu fassen ist. Was es auch immer ist, den Leser lässt es nicht mehr los. Wawerzineks lyrische Prosa schwebt tänzelnd in den Leserkopf, um dort sämtliche Sinne zu aktivieren. Die Schwere des Themas wird in Jamben und Trochäen aufgelöst, als sänge ein Kind das fröhliche Lied vom Dasein.

»Ich werde groß und wachse mit allem Mangel, den einer mit sich durchs Leben schleppen kann. Vater, Mutter, Schwestern, Brüder hab ich auf der Welt nicht mehr, kehrt ich auch zur Heimat wieder, fänd ich alles öd und leer, ja, wenn noch eins am Leben, das sollt eine Freude geben, o wie süß und o wie schön, wär ein solches Wiedersehn, hab schon öfter sagen hören, dass man dort sich wiedersieht, aber niemand kanns beschwören, keiner weiß, was dort geschieht, wenn es fest und sicher stände, dass man sich dort wiederfände, wär in jenen lichten Höhn, wohl das schönste Wiedersehn.«

Nach dem Rückblick auf seine Kindheit, die nach dieser Darstellung so zu nennen ein Hohn ist, vollzieht Wawerzinek einen Zeitsprung von etwa 40 Jahren. Er ist auf dem Weg zur Mutter, deren Adresse er seit langem kennt und die er nun mit den Fragen konfrontieren will, wo sie all die Jahre war und warum sie nie nach ihm und seiner Schwester gesucht hat? Weniger diese Konfrontation, als die Fahrt zur Mutter und die zahllosen Selbstzweifel und inneren Widerstände stehen im Zentrum dieses zweiten Teils. Ein wenig klingt Wawerzinek dabei manchmal, als wollte er den ersten Buchteil nachgeholt legitimieren. Als müsste er beweisen, wie stark sein seelisches Leid noch vierzig Jahre später war und seine erschlagende Darstellung seiner Kindheit keine romanhafte Übertreibung sei.

Einige Rezensenten haben dem Autor einen larmoyanten Ton vorgeworfen, die Jammerhaltung eines ewig verletzten Kindes, das sich nicht von dem frühen Leid befreien mag, sich in ihm wälzt und darin aufgeht. Nun, man kann das machen, allein es stellt sich die Frage nach dem Wozu. Denn zum einen ist es ein Mittel des Romans, seinen Wawerzinek als einsamen und verlassenen Helden zu inszenieren (Er suchte seine Mutter in Begleitung auf). Und zum anderen entzieht sich seelischer Schmerz einer objektiven Prüfung. Verletzungen der Seele sind immer subjektiv. Wer will hier also letztendlich beurteilen, ob Wawerzineks nicht zu leugnende Larmoyanz berechtigt ist oder nicht? Zu prüfen ist hingegen, ob seine Sprache von literarischem Wert und in der Anlage des Romans stimmig ist. Und das ist sie zweifelsohne. Die Klagen und Anklagen, das Weinen und Verzweifeln sowie die Angriffe und Attacken finden allesamt auf einem sprachlichen Niveau statt, welches seinesgleichen in der deutschen Gegenwartsliteratur sucht. Sicher, er dehnt das Material auf das Maximum, manches Argument wird wiederverwertet, aber die Konstruktion ist hier Mittel zum Zweck der Veranschaulichung der großen inneren Einsamkeit. Wawerzinek selbst hat sie erlebt, jeder weiß es spätestens seit seinem Roman »Das Kind das ich war« von 1993.

Auf der Fahrt zur Mutter überkommen ihn immer wieder Weinkrämpfe. Der Körper dieses Mann, der als Kind fast am Muttermangel zerbrochen wäre, bäumt sich auf nun gegen das Vorhaben auf, diese Unperson mit ihrer Kälte zu konfrontieren: »Ich habe gegen das innere Schluchzen regelrecht anzukämpfen«, schreibt er. Im Moment der räumlichen Annäherung wird ihm bewusst, dass das, was ihn dort erwartet, nie und nimmer sein kann, was er sucht: »Ich weine, weil ich mir die Mutter, die ich nicht hatte, erfinden musste. Ich weine, weil ich mich mein Leben lang mit einer Erfindung abgegeben und unterhalten habe, von der ich wusste, dass sie ein Ersatz war für die Mutter, der einer richtigen Mutter nicht standhalten kann. […] Ich weine weil ich ein Leben mit einem Ersatz verbringen werde und nicht loskommen kann von diesem Mutterersatz, dieser Muttereinbildung, die eine Muttermogelpackung ist, und mich am Leben erhält, weil keine Frau der Welt an eine Mutter heranreicht, selbst wenn die Mutter eine Rabenmutter ist und dem Kind nicht zur Verfügung steht.«

Wawerzinek schreibt von der Ermüdung der Jahrzehnte, die sich während der Fahrt zur Mutter auf seine Hände am Steuer legt. Sei Willen, der Mutter zu begegnen, schwindet mit jedem Kilometer der Annäherung. Er weiß schon, dass er nicht willkommen sein wird (»… ach keine Hand geleitet mich Heim ins Vaterhaus und keine Mutter breitet die Arme nach mir aus.«).

Und genauso kommt es. Die Rabenmutter begrüßt ihn nach einem halben Jahrhundert der Trennung sachlich schroff (»Da bist Du ja«), setzt ihm einen aufgetauten Industriekuchen und Maschinenkaffee vor und beginnt, ihn mit den Mühen ihres Alltags zu behelligen, ohne sich einmal nach seinem Verbleib und Werden zu erkundigen. Wawerzinek erfährt von weiteren Halbgeschwistern, die die Mutter noch an ihre Seite rufen lässt. Diese schwanken zwischen Mitleid – es tue ihnen so leid – und empörenden Mutterschutz – man müsse darüber doch nicht gleich ein Buch schreiben, man müsse doch Mutter und Familie schonen – keine viel bessere Figur als die jämmerliche Mutterfigur abgeben. Wawerzinek zufolge mussten sie ebenfalls unter der abwesenden und hartherzigen Mutter leiden.

Und obwohl die Mutter das Kind immer noch ablehnt, wirkt die Begegnung mit dieser von ihrer »Untat« geprägten Frau und ihrer kaputten Familie auf Wawerzinek wie ein Befreiungsschlag. »Es braucht die Mutter nicht mehr, die schon lange in mir abgestorben ist«, stellt er nach dem Aufeinandertreffen fest. »Das Kind ist erwachsen geworden und in der Mutterlosigkeit daheim. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.« Bei dieser Mutter wäre es schlimmer gewesen als im Heim, stellt Wawerzinek am Ende fest.

Diese Feststellung steht am Ende eines Weges, der aus der schonungslosen Konfrontation mit der Wirklichkeit und ihrer literarischen Verarbeitung bestand. Prosaische Therapie könnte man diesen Weg nennen, an dessen Ende ein faszinierender Roman steht, der ein Unterscheiden von Realität und Fiktion kaum nahezu unmöglich macht. Die Parallelen zwischen Roman und Autorenbiografie sind offensichtlich. Am Ende bleibt die Frage, wie eine Mutter ihr zweijähriges Kind im Stich lassen und dessen Existenz aus ihrem Leben löschen kann, ohne Antwort – so wie auch Wawerzinek ohne Antwort geblieben ist.

Dieser intensive Roman ist schwer verdaulich – und einmal mehr ein Beweis dafür, dass gute Literatur keine Rücksicht nehmen kann, weder auf Autoren noch auf Leser. Was man Peter Wawerzinek nach der Lektüre dieses erschütternden und nachwirkenden Romans wünscht, ist, dass sich ihm nach dieser Selbsttherapie ein neuer, versöhnlicherer Weg ins Leben öffnet. Ein Weg, der weniger Schnee und mehr Wärme für ihn bereithält.

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