Geschichte, Sachbuch

Das Fanal des 20. Jahrhunderts

© Thomas Hummitzsch

Herfried Münklers voluminöses Werk »Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918« ist kein Geschichtsbuch, sondern eine Arbeit der politischen Analyse. Zwar erzählt der Berliner Politikwissenschaftler darin viele Geschichten und vermittelt überaus eingängig historische Fakten, jedoch nicht um ihrer selbst Willen, sondern um organisatorische und strukturelle Fragen der Machtpolitik zu verstehen, deren Relevanz bis in die Gegenwart reicht.

Als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnete der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan den Ersten Weltkrieg, der aufgrund des Ausmaßes der militärischen Mobilisierung als erster organisierter Krieg der Massen bezeichnet werden kann. In der deutschen Geschichtsschreibung steht diese Urkatastrophe – für Münkler zugleich auch das Aufbruchssignal in die Moderne – weit hinter dem Zusammenbruch aller Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg zurück.

Mit Herfried Münkler hat sich nun einer der renommiertesten, historisch versiertesten und belesensten Politikwissenschaftler an eine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkrieges gemacht, mit dem Ziel, ein Verständnis der Moderne zu ermöglichen. »Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, werden wir das ganze 20. Jahrhundert nicht begreifen können«, erklärte Münkler Anfang Dezember in Berlin im Gespräch mit dem SZ-Feuilletonisten Jens Bisky und dem Historiker Etienne François vom Centre Marc Bloch.

Man kann sich kaum einen geeigneteren Autor für ein solches Werk vorstellen, als den Fachmann für Ideengeschichte Herfried Münkler. Grundlagenwerke wie Thukydides Peloponnesischen Krieg und Clausewitz Vom Kriege kennt er in- und auswendig. Seine Arbeit über Die Neuen Kriege ist längst ein politikwissenschaftliches Standardwerk. In seinem Buch über die Imperien hat er sich mit Aufstieg und Untergang der Großmächte auseinandergesetzt. Und spätestens seit seiner mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Auseinandersetzung mit den Deutschen und ihren Mythen gilt er als Experte der deutschen Mentalitätsgeschichte. Alle drei Aspekte – die der taktischen Kriegführung und politischen Strategie, die des Großmachtstatus und den daraus folgenden Herausforderungen sowie die der kulturpolitischen Mentalität – fließen in Münklers Porträt einer hypernervösen Zeit zusammen, in der er deutlich macht, dass sich neben der Zeitenwende auch eine Kulturwende vollzogen hat. Der Wandel der Kriegsbegeisterung von so manchem deutschen Künstler in die Schockstarre nach der Zeit der Kriegsgräben gibt einen Eindruck dieses Mentalitätswandels. Zugleich aber sei er unausweichlich gewesen, so Münkler, denn mit dem Krieg sei eine Welt zusammengebrochen, die »alle so satt hatten«.

Herfried Münkler im Zeughauskino Berlin 1

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Münkler beschreibt den Ersten Weltkrieg in seinem fulminanten Werk – das absehbar als einer der fünf potentiellen Preisträger im Bereich Sachbuch in Leipzig firmieren wird – als einen Prozess des gesellschaftlichen Aufbruchs. Zugleich zeichnet er aber auch das Bild eines Krieges als Resultat politischen Fatalismus. »Weit mehr als Hinterlist und Bosheit haben Naivität und Dummheit diesen Krieg begleitet«, beschreibt er die Geschehnisse 1914 rekapitulierend. Der Politologe begibt sich dafür in die Auseinandersetzung mit der herkömmlichen historischen Argumentation, die dem großen Krieg im Nachhinein eine Sinnhaftigkeit zusprach, indem sie der Industrie und Agrarwirtschaft um die Schlotbarone und ostelbischen Großgrundbesitzer das implizite Interesse, man müsse aus wirtschaftlichen Gründen in den Krieg ziehen, unterschob. Münkler stellt das quellenreich und vielstimmig anders da. Die deutsche Politik habe nicht gewusst, »was sie in dem Krieg und mit dem Krieg erreichen will«, erklärte er im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin.

Etienne François machte die Relevanz von Münklers Arbeit schon zu Beginn deutlich, indem er feststellte, dass die europäischen Gesellschaften »immer noch im Schatten dieses Ereignisses« leben. Und der historisch kundige Jens Bisky ergänzte, dass Der große Krieg eine Lücke fülle, weil es den Schockzustand des Lesers »in intellektuelle Neugier und schließlich in Erkenntnis verwandelt«.

Schon 1914 hat es Stimmen gegeben, die die Kriegsmaschinerie anhalten wollten, aber systemisch – und hier schlägt der politische Theoretiker zu – sprach alles dagegen. Zum Einen war nach den enormen Anfangsverlusten ein gesichtswahrender Zug nicht mehr möglich; niemand habe gutes Geld dem schlechten hinterherwerfen wollen. Zum Zweiten standen alle Kriegsparteien beieinander im Wort, so dass kein Staatsführer und Militär aus diesem System der Koalitionskriegführung herauskam. Und zum Dritten haben sich alle darauf verlassen, dass ein anderer mit dem Kriegsaustritt beginnen müsse – mit den fatalen Folgen, die alle kennen.

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Herfried Münkler: Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918. Rowohlt Berlin 2013. 928 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen

Vor diesem Hintergrund mag es rätselhaft erscheinen, wie der Erste Weltkrieg dennoch vier Jahre lang für Verwüstung und Leid sorgen und vor allem, wie das deutsche Militär ihn fast gewinnen konnte. Aber auch dafür hat Münkler eine Erklärung. Die deutsche Armee sei zum forcierten Lernen gezwungen gewesen. An drei Fronten gleichzeitig habe man Erfahrungen sammeln und daraus seine Schlussfolgerungen ziehen können. Genau das sei geschehen. Verloren gegangen sei der Krieg am Ende nicht aufgrund der militärischen Überlegenheit der Triple Entente, sondern aufgrund der politischen Unfähigkeit, strategisch über das Kriegführen hinauszudenken. Die Entmachtung der Politik durch die Militärs habe dafür gesorgt, dass der Krieg zum Selbstzweck wurde. Die taktisch kreativen Militärs des Ersten Weltkriegs sollten übrigens knapp zwei Jahrzehnte später den zweiten, von Deutschland ausgehenden Weltenbrand koordinieren.

Münkler beschreibt den großen Krieg als gesellschaftspolitisches Labor, in dem Prozesse erprobt wurden, die bis heute relevant sind. So wird im Ersten Weltkrieg erstmals nicht nur die Gewalt großer Massen, sondern auch die Schwierigkeit ihrer Organisation wirksam. »Man braucht eine Vorstellung davon, was es heißt, so viele Truppen zu verschieben.« Anders könne man die Entscheidungen und Prozesse einfach nicht verstehen. Münkler diskutiert auch die Frage der soldatischen Loyalität angesichts des massenhaften Sterbens in den Schützengräben des ersten Weltkriegs. Ohne die Umdeutung des Wartens auf den Tod in einen Prozess des bewussten Opferns für eine größere Sache sei das Ausbleiben des massenhaften Desertierens nicht zu erklären. Am Ende kommt aber auch Münkler nicht umhin, einige machtpolitische und militärstrategische Paradoxien als solche stehen zu lassen. Der Erste Weltkrieg habe »mit besonderer Intensität« die Macht des Paradoxen freigesetzt, schreibt er am Ende seiner bahnbrechenden Arbeit.

Schließlich sieht der Berliner Politologe in dem Krieg eine bis heute gültige »politische Herausforderung«. Zum einen, weil die mit der KuK-Monarchie im Kaukasus, auf dem Balkan und im Nahen Osten zusammengebrochenen Staaten bis heute höchst fragile multiethnische postimperiale Räume zurückgelassen haben, in denen sich die Krise der Urkatastrophe ungebrochen fortsetzt. Zum anderen aber – und hier stellt Münkler eine kühne These in den politikwissenschaftlichen Diskursraum, die sein Werk umso lesenswerter macht – weil er im China dieser Tage einen ökonomisch, politisch und militärisch ebenso übermächtigen, aber weltweit gleichermaßen unterschätzen Nationalstaat sieht, wie es das wilhelminische Deutschlands am Vorabend des 28. Juni 1914 gewesen sei. Droht uns also ein von China ausgehender Dritter Weltkrieg? Dies hängt davon ab, ob China aus der Geschichte lernen? Es bleibt abzuwarten. Für den Politikwissenschaftler allerdings ist klar: Aus keinem Krieg könne »mehr gelernt werden als aus dem Ersten Weltkrieg. Er ist ein Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann.« Mit Münklers Analyse des großen Kriegs ist der Zugang zu diesem Lernprozess um ein Vielfaches leichter.

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