Geschichte, Literatur, Roman

Ergründungen eines Nazi-Enkels

Mit »Flut und Boden« erzählt der Historiker Per Leo die Geschichte seiner Familie. Anhand des Brüderpaars Friedrich und Martin ergründet Leo den Boden, auf dem das Dritten Reich entstanden ist. Obwohl das Buch den Untertitel »Roman einer Familie« trägt, geht der Text weit darüber hinaus.

Ein Roman über eine Bremer Familie ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert? Bremen plus Familie plus Debütroman scheint dafür eine sichere Bank zu sein, bereits im letzten Jahr stand Ralph Dohrmanns Kronhardt auf der Liste, ein Roman über eine Fabrikantenfamilie, eine Geschichte des Wirtschaftswunderlands BRD. Um es gleich vorwegzunehmen, Flut und Boden ist die bessere Entscheidung. Die erzählte Familiengeschichte ist Per Leos eigene, zumindest in weiten Teilen.

Im Zentrum stehen zwei Männer aus der Generation der Großväter. Friedrich, Großvater des Autors und Martin, Friedrichs Bruder. Ein Bruderpaar, das durch Gegensätzlichkeit gekennzeichnet wird. Auf der einen Seite Friedrich, der sich im Dritten Reich als Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS mit der rassischen Einordnung Nichtdeutscher befasste. Martin hingegen der vergeistigte Bruder, Goethe-Leser, der 1938 als an Morbus Bechterew erkrankter sterilisiert wird. Nach 1945 führt Friedrich ein armseliges Leben irgendwo in der Lüneburger Heide, Martin, schon vor dem Krieg in Anhalt lebend, bleibt in der DDR, zieht nach Dresden.

Flut-und-Boden
Per Leo: Flut und Boden. Klett Cotta 2014. 352 Seiten. 21,95 Euro. Hier bestellen

Nach dem Tod Friedrichs übernimmt der Ich-Erzähler Per Leo ein Konvolut Bücher, die den Geschichtsstudenten mit der Vergangenheit seines Großvaters konfrontieren. »Zeit meines Lebens hatte mir mein Großvater kaum etwas bedeutet. Aber jetzt, als toter Sturmbannführer, wurde er mir ein treuer Begleiter, eine echte Stütze in der Not.« Die Recherche der Familienvergangenheit wird zum Antrieb, das Geschichtsstudium nicht zu schmeißen. Mehr noch, »ich [war] wieder partytauglich«, »ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazimasche ins Bett kriegen können«, resümiert der Erzähler.

Die Familiengeschichte stellt aber, so scheint es, nur eine Folie dar, die der Autor einem umfassenderen Ansatz überlegt. Flut und Boden ist auch, vielleicht sogar primär, eine Darstellung der Bildungsgrundlagen, die dazu führen konnten, nach 1933 bereitwillig zu Tätern wurden. Es sind nicht allein die Quellen, die sich im Berlin Document Center oder im Berliner Bundesarchiv befinden und die Aufschluss über den Großvater geben. Der Historiker Per Leo interessiert sich vielmehr für die geistigen Grundlagen, dieses Gemisch aus Naturverbundenheit, körperlicher Ertüchtigung, Ideal der eigenen Scholle, das auch im Bildungsbürgertum im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert die Vorstellung über die Nation prägte. Dieses Aufgehen in einer Gemeinschaft findet der Autor heute im Stadion von Werder Bremen, frei von ideologischen Zwängen.

Leos Familie ist tief verwurzelt im Protestantismus. Bereits der Urgroßvater verfasste, bevor er im 1. Weltkrieg fiel, eine Erbauungsschrift für die deutsche Jugend, in der er mit protestantischem Eifer dazu anhält, vorwärts nach Eroberung zu streben. Leo zeigt auch, dass es gar nicht viel bedarf, um von Goethe eine Linie zur Rassentheorie der Nazis zu ziehen. Die theoretischen Grundlagen dazu hat Leo in seiner Dissertation Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940 bereits dargelegt. Das theoretische Rüstzeug hat Leo in Freiburg bei Ulrich Herbert erlernt, den er auch in Flut und Boden porträtiert.

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Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Matthes & Seitz Berlin 2012. 734 Seiten. 49,90 Euro. Hier bestellen

Wie in der Dissertation ist auch hier Ludwig Klages, der zur Erklärung herangezogen wird. Beide Brüder, Friedrich und Martin, beschäftigten sich mit der Graphologie, beide besaßen Klages’ Band Handschrift und Charakter. Gemeinsame Wurzeln, auch wenn Friedrich immer der Bildungsferne war, unterschiedliche Entwicklungen. Über Martin erfahren wir vor allem anhand dessen Aufzeichnung, die Per Leo in die Hände fallen. Führt der Weg bei Friedrich in die SS, führt er Martin hin zur Anthroposophie. Martin ist der lebenskluge Beobachter, der seinen Goethe nicht zur Zierde im Regal stehen hat. Die Sympathien gehören Martin und doch kann bringt Leo auch Friedrich gegenüber Empathie auf. Nicht – und daran lässt Per Leo nicht den geringsten Zweifel – für sein Handeln. Aber doch für den Großvater, der Friedrich eben war, wenn auch nicht der Großvater, den sich ein Enkel wünscht.

Fixpunkt der Erzählung wiederum ist die alte Familienvilla in Bremen-Vegesack, die zum Zeitpunkt der Erzählung bereits verkauft und in der zuletzt noch Leos Großmutter lebte. »Große Häuser, alte zumal, sind selten einladend. Wohl locken sie den Besucher, aber kaum ist er eingetreten, weisen sie ihn in seine Schranken.« Nicht nur dem Fremden, auch dem Erzähler scheint das Gebäude ungastlich, »Du darfst niemals tun, was du willst«, lautete das erste Gebot. So war sie denn auch nie ein Zuhause für den Erzähler, sie steht als reale Metapher für die geistigen Grundlagen des deutschen 20. Jahrhunderts. Von hier aus nahmen die Entwicklungen der Familie ihren Lauf, am Beginn des 21. scheint dieses Familienkapitel abgeschlossen.

Haben wir es hier überhaupt mit Literatur zu tun? Die Frage lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Offen ist, in welchem Maß Fiktionales als grundlegende Bedingung für Literatur in die Erzählung eingeflossen ist. Die angeführten Quellen lassen sich belegen, die Personen sind real, was auch dazu führt, dass Per Leo noch lebende Verwandte nicht namentlich benennt, sondern mit Kürzel (W oder M und Geburtsjahr) verfremdet. Es wird viel zitiert und rezipiert, Flut und Boden ist weit mehr Essay als Roman. Wie auch immer man diesen Roman lesen möchte, ist letztlich aber egal. Lesenswert ist das Buch ohne jeden Zweifel.