Kim Leines preisgekrönter Grönland-Roman »Ewigkeitsfjord« vereint Kolonialgeschichte mit Selbstsuche auf hohem Niveau und stellt im Kern die Frage, wie lange das Gewissen das Überschreiten der eigenen ethischen Grenzen ertragen kann.
Bei den Romanen des in Norwegen geborenen und in Grönland lebenden dänischen Autors Kim Leine lag es bislang nahe, nach den autobiografischen Verbindungen seiner Figuren und Erzählungen zu suchen. Sein erster Roman (Kalak) war rein autobiografisch und im zweiten (Valdemarsdag) setzte er sich mit der Geschichte seines Großvater auseinander. In den dritten Roman, der bis vor wenigen Wochen einzige ins Deutsche übersetzte Roman Die Untreue der Grönländer hatte er autobiografische Versatzstücke gestreut. Nun liegt sein neuer Roman Ewigkeitsfjord vor, eine grönländische Historie, mit der er sich weiter vom autobiografischen Schreiben entfernt. Der Lebenslauf seines tragischen Helden Morton Falck ähnelt seiner eigenen: in Norwegen geboren, in Dänemark ausgebildet, nach Grönland gegangen.
Damit soll das biografische Abtasten des Romans aber auch schon abgeschlossen sein. Denn inhaltlich kann man sich kaum viel weiter von Autobiografischen entfernen, als Kim Leine in Ewigkeitsfjord. Die Geschichte spielt im Grönland vor zweihundert Jahren, inmitten der Phase der europäischen Aufklärung, in der sich der Magister Morton Falck in die dänische Kolonie aufmacht, um den wilden Ureinwohnern die »richtige« Religion zu bringen.
Mit Falck hat Leine eine Figur geschaffen, die in sich schon so zerrissen ist, als dass sie eigentlich schon an den äußeren Rändern des ewigen Eises zerschellen müsste. Doch der unfreiwillige Missionar, der eher den Gedanken der europäischen Aufklärung als den Vorgaben des Evangeliums nachgeht, kommt im titelgebenden Ewigkeitsfjord an. Er soll die Grönländer zu Gottes Wort führen, doch dieses, das muss er hier feststellen, hat auf dem felsigen Eiland wenig Geltung. Er muss lernen, wie nutzlos die heilige Schrift hier ist, sei es, weil ihre moralischen Vorgaben das bisschen Wärme verbieten wollen, das sich die Grönländer in der körperlichen Begegnung gönnen, sei es, weil sie keine Auskunft darüber gibt, welcher Wind – auflandig oder ablandig – in der Bibel herrscht und welche Art Wal den armen Jona verschlungen hat.
Das traditionelle Leben der Grönländer erlebt Morton Falck als lebensfrohe »Mischung aus Vergnügen und Notwendigkeit«, die ihm näher ist als der ideologische Protestantismus, den er predigen soll. In den wenigen Momenten, in denen ihn ein winziger Anflug an Ehrgeiz überkommt, nehmen ihm Sätze wie »Wir sind auch, ohne Gott zu kennen, gut« sofort den Wind aus den Segeln.
Falck ist ein Missionar auf falscher Mission, ein verkappter Aufklärer, der sich zunehmend in den Fallstricken der Selbstzweifel und der sich ihm bietenden fleischlichen Verlockungen verfängt. Mit dem Scheitern an den eigenen körperlichen und weltlichen Begierden sucht er die Nähe einiger Sektierer, der »Philosophen im Ewigkeitsfjord«, die dem Roman im dänischen Original seinen Titel geben. Hier findet er gleichermaßen den Puritanismus und die Gottesnähe, die ihn selbst zerreißen und seinen Geist immer wieder verwirren. Doch die Gruppe der »Gotteslästerer« wird von der dänischen Handelsflotte im Auftrag der kirchentreuen Regierung in Kopenhagen gehaltvoll zerschlagen und für Falck endet eine Zeit in eisiger Harmonie.
Er kehrt nach Kopenhagen zurück. Dort wird ihm die Verlogenheit der königlichen dänischen Gesellschaft bewusst, seine Fremdheit gegenüber den pseudoaufgeklärten Umständen. Die Bedeutung von Rousseaus Leitsatz »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten« wird ihm hier so bewusst wie nie zuvor. Der Missbrauch der eigenen Seele durch Ideologie und Gewalt, die Leine während seiner Kindheit bei den Zeugen Jehovas sowie durch mit dem Missbrauch durch den Vater am eigenen Leib leidvoll erfahren musste, zieht sich als Thema durch den gesamten Roman. Im Stadtbrand von Kopenhagen 1795 folgt dann eine Art karthartische Reinigung, die dem gescheiterten Missionar die Chance für einen Neuanfang bietet.
Morton Falck ist eine skandinavische Version von Charles Bovary aus Gustave Flauberts Madame Bovary, Leines Ewigkeitsfjord in gewissem Maße ebenfalls Ein Sittenbild aus der Provinz, wie Flauberts Roman untertitelt ist. Falck will seine ethischen Werte und moralischen Ideale nicht für die menschenverachtenden Ideologien von Kirche und Krone aufgeben. In seinen Eindrücken trifft die kolonialistisch-religiöse Herrenmenschen-Mentalität der dänischen Oberschicht auf die weltlich unideologische Erdverbundenheit der grönländischen Ureinwohner. Er ist ein zerrissener Wanderer zwischen den Kulturen, der gewaltvoll ausgetragene Konflikt belastet ihn in seiner Position mehr und mehr. Er wendet sich ab von dem Dänemark, aus dem er kommt, und kehrt zurück in die dänische Kolonie im Ewigkeitsfjord.
Kim Leine will im Gegensatz zu vielen anderen Autoren nicht hin zum Autobiografischen, wie er mit Ewigkeitsfjord beweist, sondern rein ins Fiktive, um sich zu lösen vom eigenen festgefahrenen Blick. Er will den Blick der andern zuzulassen, die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu betrachten und verfremden. Das merkt man auch seinem Roman an, in dem er Verfremdungstechniken anwendet, auf die auch schon Bertold Brecht oder Franz Kafka gesetzt haben. Leine zeigt das Andersartige, um das Menschliche sichtbar zu machen.
Die kolossale Grönland-Erzählung Kim Leines – im vergangenen Jahr ausgezeichnet mit dem Preis des Nordischen Rates, dem Preis des dänischen Buchhandels sowie den Literaturpreisen der dänischen Tageszeitschrift Politiken und der Wochenzeitschrift Weekendavisen und in die Nähe der Werke von Per Olov Enquist (Der Besuch des Leibarztes) und Peter Høeg (Fräulein Smillas Gespür für Schnee) gesetzt – ist vieldimensional und hat ebenso klassische wie postmoderne Züge. Souverän wechselt der dänische Autor zwischen den Perspektiven, Zeiten und Formen der Erzählweise. In die prosaische Erzählung eingebettet sind Briefberichte und Tagebucheinträge, philosophische Überlegungen zu den gesellschaftlichen Umständen sowie sinnlich-naturalistische Beobachtungen Grönlands und seiner Menschen. Einige Passagen in diesem an Seefahrtsszenen nicht armen Roman, etwa eine Walfangszene in den Gewässern des Ewigkeitsfjords, erinnern famos an Herman Melvilles Moby Dick.
Ewigkeitsfjord ist ebenso nationale Geschichtsschreibung wie biografisches Grönland-Epos, gleichermaßen naturalistische Ode wie philosophisch fundierte Aufklärungserzählung. Vor allem aber ist es ein spannender Roman, der die Suche nach dem Menschlichen in einer besonders unmenschlichen Umgebung als Experiment praktiziert.