Die British Library präsentiert die bislang größte Comicausstellung Großbritanniens und macht in sechs Sektionen deutlich, dass die Neunte Kunst sowohl in der gesellschaftlichen und kulturellen Mitte als auch an deren Rändern verankert ist.
Die Ausstellung Comics Unmasked: Art and Anarchy in the UK ist zweifelsohne ein Fest für jeden Fan des britischen Comics. Erstmalig gibt die British Library Einblicke in ihre umfassende Comicsammlung des 19. und 20. Jahrhunderts und liefert damit die reiche Materiallage für diese Ausstellung. Die Kuratoren Adrian Edwards, Paul Gravett und John Harris Dunning – keine Unbekannten in der internationalen Comicszene – schöpfen aus dem Vollen. Allein die Galerie der Namen berücksichtigten zeitgenössischer Künstler reicht von Neil Gaiman (Sandman), Alan Moore (Watchmen, V for Vendetta), Grant Morrison (Batman: Arkham Asylum) bis zu Posy Simmonds (Tamara Drewe), die Bandbreite der berücksichtigten Medien von Manuskripten aus dem 15. Jahrhundert über Originalstiche der bekanntesten Satiriker des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu Audio- und Videoclips oder Webcomics und Comicapps. Dies verheißt eine Vielfalt, die dem Ausstellungsgegenstand nicht nur gerecht wird, sondern auch seine Heterogenität widerspiegelt.
In sechs thematischen Sektionen – rund um Störenfriede (»Mischief and Mayhem«), Gesellschaft (»To See Ourselves«), Politik (»Politics: Power and the People«), Sex (»Let’s Talk About Sex«), Superhelden (»Hero with a Thousand Faces«) und Randphänomene des Genres (»Breakdowns: The Outer Limits of Comics«) – versuchen die Kuratoren das eigentlich Unmögliche.Einerseits wollen sie die volle Bandbreite des britischen Comics darstellen – vor allem das Einzigartige, Subversive und Anarchische der Kunstform, weshalb die Anspielung des Ausstellungstitels auf den erfolgreichen Song der Sex Pistols sicherlich mehr ist als purer Zufall. Andererseits historisieren Edwards, Gravett und Dunning das Genre innerhalb der Grenzen bestehender literarische Traditionen. Dadurch untermauern sie den Eindruck, dass der Comic letztendlich ein völlig etablierter Teil der bürgerlichen Kultur ist, dessen eigener Anspruch auf Anarchy innerhalb dieser Grenzen immer mitgedacht und somit verunmöglicht wird. Fraglich ist, ob ein solch in sich gegensätzliches Vorhaben überhaupt gelingen kann.
Die Antwort lautet: es kann. Sehr gut sogar, wenn man die Ambivalenz, die sich hinter diesem Vorhaben verbirgt, mitdenkt. Diese Ambivalenz zeigt sich vielleicht am Deutlichsten am Ausstellungsort. Ausgerechnet die British Library – die Hochburg der britischen upper-middle class – wird zu dem Ort, an dem das Bildungsbürgertum und der Comic zusammen treffen. Folgerichtig verhandelt die Ausstellung das unbändige Genre zwischen Independent und Mainstream und zeigt, dass gerade dieses Schwanken seine Vielfältigkeit hervorbringt, welche die breite Comic-Leserschaft anspricht. Dieses von seinen Kritikern durch die Jahrhunderte hinweg oftmals belächelte und dann wieder verteufelte Genre zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es sowohl durch das Establishment als auch durch das Anti-Establishment für sich in Besitz genommen wird. Somit ist es sowohl in der gesellschaftlichen und kulturellen Mitte als auch an deren Rändern verankert, wie die Ausstellung dem Besucher immer wieder eindrücklich und gelungen vor Augen führt.
Versinnbildlicht wird diese Vereinnahmung des Comics von Gesellschaft und (Gegen-) Kultur durch den in der Ausstellung allgegenwärtigen Guy Fawkes, wohl eine der bekanntesten britischen Comicfiguren der letzten Jahrzehnte. Der Held aus Alan Moores und David Lloyds bahnbrechender Graphic Novel V for Vendetta (1982) flankiert die atmosphärisch dunklen Ausstellungsräume und erinnert konsequent an die kulturelle Vereinnahmung des historischen Guy Fawkes. Im Laufe der Jahrhunderte wird Fawkes zum jährlich zelebrierten kulturellen Allgemeingut, bis er – nicht zuletzt durch Moores und Lloyds Comic – zur Ikone der Occupy-Bewegung erhoben wird: Der britische Comic ist Guy Fawkes, Guy Fawkes ist der britische Comic.
Die Fülle an Materialien der Ausstellung findet sich auch im dazugehörigen Katalog. Wenn dieser auch naturgemäß die technische, konzeptionelle und atmosphärische Qualität der Ausstellung nicht einzufangen vermag, bezeugt der Katalog unbenommen die Vielfalt des Genres und der Ausstellung sowie die Versiertheit der Kuratoren.
Die Ausstellung Comics Unmasked: Art and Anarchy in the UK ist noch bis zum 19. August 2014 in den Ausstellungsräumen der British Library zu sehen. Der Eintritt kostet 9.50 £ (11,92 Euro). Nähere Informationen zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm findet man auf der Homepage der British Library.
Am kommenden Wochenende findet begleitend zur Ausstellung eine Internationale Comic- und »Graphic Novel«-Konferenz statt, die am Freitag mit einem Podiumsgespräch zwischen Posy Simmons und Steve Bell eröffnet wird. Vom 15. bis 17. August präsentiert das London Comics Festival Comica im Foyer der British Library eine Independent Comic Messe mit hochrangigen Gästen der internationalen Comicszene wie Lee O’Malley und Emmanuel Guibert. Der Eintritt ist frei. Vorbeischauen lohnt sich!