Film

Wenn es dunkel wird

Der amerikanische Regisseur Destin Daniel Cretton ist mit »Short Term 12 – Stille Helden« das bewegende Porträt einer Auffangstation für seelisch und körperlich verletzte Jugendliche gelungen. Trotz zahlreicher Preise fand es nicht den Weg in die deutschen Kinos. Nun ist der Film als DVD erhältlich.

»Short Term 12« heißt die Auffangstation für traumatisierte Jugendliche, in der die Mittzwanzigerin Grace und ihr Freund Mason arbeiten. Sie kümmern sich jeden Tag um Kids, die ihre Eltern verloren haben oder von ihnen geschlagen, misshandelt oder missbraucht wurden. Unterstützt werden sie dabei von Jessica und Nate. Gemeinsam versuchen sie mit Struktur und Zuwendung, den zur Selbstzerstörung neigenden Jugendlichen Halt zu geben. »Du musst ein Arschloch sein, bevor du der Freund wirst«, gibt Grace dem Studenten Nate an seinem ersten Tag mit auf den Weg.

Der Charakter von Nate ist an die Erfahrungen Regisseur und Drehbuchautor Destin Daniel Cretton angelehnt, der nach seinem Collegestudium in einer Wohngemeinschaft für schwierige Jugendliche ausgeholfen hat. 2009 gewann er mit dem 20-minütigen Kurzfilm Short Term 12 –seiner Studienabschlussarbeit –den Preis der Jury beim Sundance Filmfestival, im vergangenen Jahr wurde der abendfüllende Spielfilm mehrmals beim Internationalen Filmfestival in Locarno ausgezeichnet.

Crettons Film ist auch eine Verarbeitung seiner Eindrücke, und eine Hommage an die versehrten Jugendlichen. Kids wie der Rotschopf Sammy, dessen einziger Halt im Leben die Spielzeugpuppen sind, die ihm von seiner Schwester geblieben sind. Oder der in sich gekehrte Marcus, der sich seinen Kopf rasiert, weil er wissen will, ob die Beulen und Narben, die er von den Schlägen seiner Mutter davongetragen hat, noch zu sehen sind. Oder die junge Jayden, die in aggressiven Schüben versucht, ihr Trauma zu ertränken.

Sammy auf der Flucht | © 2013 Short Term Holdings, LLC
Sammy auf der Flucht | © 2013 Short Term Holdings, LLC

»Keine Gürtel, keine Rasierer, keine Schere, keine Scheißfreiheit … Willkommen in Short Term 12« –mit diesen Worten begrüßt sie Grace in ihrer Einrichtung. Schnell erkennt sie sich in dem verletzten Mädchen wieder. Sie baut ein Vertrauensverhältnis zu ihr auf, indem sie sich selbst Preis gibt. Doch je näher sie dem Mädchen kommt, desto mehr verliert sie die Kontrolle über die eigene Vergangenheit. Hinter der Fassade der souveränen Stationsleiterin tun sich Abgründe auf.

Parallel zu den Ereignissen in der Auffangstation erzählt der Film die Dynamik in der Beziehung zwischen Grace und Mason. Grace’ zunehmende Konfrontation mit ihrer Vergangenheit fühlt sie immer weiter weg von Mason, dem sie sich nicht öffnen kann und will. »Lass mich ab und zu in deinen Kopf hineinsehen«, fleht sie der junge Mann immer wieder vergebens an. Bis zum Ende des Films steht die Frage, ob ihr das gelingt, was sie täglich von den Jugendlichen verlangt, Mason gegenüber gelingt.

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Short Term 12 – Stille Helden. Regie: Destin Daniel Cretton; Schauspieler: Brie Larson, John Gallager jr. Edel:Motion Film 2014. 97 Minuten, 14,99 Euro

Short Term 12 – Stille Helden wird wesentlich von Hauptdarstellerin Brie Larson getragen, die dem Film ihre Tiefe und Intensität verleiht. Sie ist bereit, sich für ihre Jugendlichen aufzugeben, weil sie eine Ahnung davon hat, was sie mit sich tragen. Sie sieht die leeren Blicke und hört die tränenerstickten stimmen, bevor sie ihre Kollegen sehen. Denn sie weiß, was es heißt, eine Vergangenheit mit sich zu tragen, die man nicht abwaschen, wegkratzen oder ausbluten kann. Deshalb ist ihr auch klar, dass sie sie nicht aus ihrer Einsamkeit herausholen, aber sie dort zumindest besuchen kann.

Dass es dieser berührende, schonungslos ehrliche und zutiefst humanistische Independent-Film nicht in die deutschen Kinosäle geschafft hat, ist ein Jammer. Vor allem, weil er sich die Zeit nimmt, die Geschichten hinter den Bildern wirken zu lassen. Die besondere Nähe entsteht durch Kameraführung und Ton. Wenn die Kids rennen und toben, verfolgt sie die wackelige Kamera, und wenn sie schweigen, steht das Bild. Wenn die Angst die jungen Menschen ankriecht, wechselt der Ton ins Innere der Kinder und vermittelt den lärmenden Sturm der Panik. Und immer wieder sucht die Kamera in den »verletzten Augen« nach Antworten auf Fragen, die man kaum zu stellen wagt. Oder die Perspektive folgt den leeren Blicken und lotet stellvertretend den Raum aus, der zu weit ist, um sich darin nicht verloren zu fühlen, und zugleich zu eng, um zu atmen. Und in der Mitte dieses Films strahlt Brie Larson, die dem Ganzen eine brutale Tiefe und Intensität gibt.

»Look into my eyes so you know what it’s like to live a life not knowing what a normal life’s like.« Diese im Film gerappte Zeile drückt das Gefühl aus, das die stillen Helden dieses Films teilen, und vermittelt etwas von der Empathie, die man zweifellos für sie empfinden wird.