Allgemein, Literatur, Roman

Transparenz statt Transzendenz

Wenn man an Literatur das Kriterium der Debattenfähigkeit anlegt, dann ist Dave Eggers Roman »Der Circle« zweifelsohne das Buch des Jahres. Sprachlich wenig ambitioniert ist Eggers »Zukunftsvision« jedoch nicht mehr als ein pennälerhaftes Spiegelbild der Gegenwart. Mit »Replay« hat der Münchener Autor Benjamin Stein bereits vor zwei Jahren ein wahrhaft abgründiges Zukunftsbild zum digitalen Fortschritt vorgelegt.

Drei Eigenschaften zeichnen die 24-jährige Mae Holland, zweifelhafte Heldin in Dave Eggers Roman Der Circle, aus: Geltungssucht, Zielstrebigkeit und Naivität. Einzeln gesehen sind diese Wesenszüge nicht sonderlich bemerkenswert, im digitalen Zeitalter können sie – vor allem in Kombination – eine folgenschwere Wirkung entfalten. Ihr maximales Ausmaß zeigt Dave Eggers in seinem vieldiskutierten Google-Lookalike-Roman, der in den USA mit George Orwells 1984 verglichen und in Anlehnung an Aldous Huxleys Dystopie als Brave New World der Gegenwart bezeichnet wurde.

Die Geschichte der 24-jährigen Mae Holland, die in dem fiktiven Internetkonzern namens Circle durch Bedenkenlosigkeit und Narzissmus zur volltransparenten Ikone des Unternehmens aufsteigt, wird den beiden großen britischen Zukunftsdeutern jedoch nicht gerecht. Der Circle besitzt weder die visionäre Kraft ihrer Klassiker, noch kann der Text literarisch mit ihnen mithalten. Dass der Roman dennoch in aller Munde war, ist ein mediales Phänomen.

Eggers hat sich für die Beschreibung seines Internet-Unternehmens bei den Giganten der Branche bedient. Der Name Circle führt nicht zufällig den Begriff der Freundeskreise des geschlagenen Facebook-Konkurrenten Google+ an. SeeChange heißt Eggers Miniversion der Google-Kameras, die aktuell die Welt vermessen, und die Google-Glass-Brille erweitert er im Laufe seines Romans mit einer Netzhaut-Steuerung des unablässig in den Onlinewelten wandelnden Individuums. Der transparente, aber in sich geschlossene Unternehmenscampus erinnert unverhohlen an das kreisrund geplante Hauptquartier von Apple in Cupertino, die Prinzipien des ständigen (Mit-)Teilens und wohlwollenden Ratens sind den positivistischen Facebook-Maximen entnommen.

Dave Eggers: Der Circle. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch 2014. 560 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

Zu diesen offensichtlichen Anlehnungen kommen die ideologischen, etwa das Einheitskonto »TruYou«, mit dem die verschiedenen Internetidentitäten der User zusammengeführt und auf ein für alle Transaktionen geltendes Zahlungssystem angewendet werden sollen, oder das auditive Hilfsmittel »Additional Guidance«, mit dem Circle-User im Livemodus sinnvolle Tipps für ihre Alltagsbewältigung von der Circle-Community erhalten. Beide Tools sind zweifellos Melodien, die in der Zukunftsmusik der bestehenden Internetkonzerne längst mitschwingen. Darüber hinaus hat der US-amerikanische Autor den Irrsinn der Hobby- und Gebrauchsdrohnen in seinen Roman eingebaut, die er zur allumfassenden Überwachung des Lebens im Zeitalter des Circle beitragen lässt. Denn »alles Private ist Diebstahl«. »Transparenz bringt Seelenfrieden«. Die Szene einer Verfolgungsjagd gehört zu den besten des Romans, weil sie deutlich macht, wie schnell aus dem naiven Spiel Ernst werden kann.

Der Circle ist Eggers neuntes Buch, einmal mehr beweist er sein Gespür für die Themen der Zeit. 2005 verwandelte der Hurrikan Katrina New Orleans für einige Wochen in einen voratlantischen Zustand, in dem der überkommen geglaubte Rassismus neu aufblühte. Vier Jahre später legte er mit Zeitoun den Roman zu dieser nationalen Tragödie vor. Als im Frühjahr 2013 die globale Finanzkrise noch zu spüren war, präsentierte er mit Ein Hologramm für den König seine Version der Investment- und Immobilienwirtschaft. Nun also der Roman zur digitalen Revolution und ihren Folgen. Allerdings schlägt dieser nicht ein wie die jüngste Sicherheitslücke Shellshock, sondern hat eher das Gewicht einer vielversprechenden E-Mail, die sich als Spam entpuppt.

Im Mittelpunkt des Romans steht besagte Mae Holland, die in dem Unternehmen als einfache Mitarbeiterin beginnt. Anfangs zeigt sie sich nicht sonderlich talentiert. Sie versäumt es, sich im Circle-Imperium zu vernetzen, vergisst Handlungen und Kommentierungen ihrer Umwelt zu bewerten (positiv mit Smiles, negativ mit Frownes) und wagt es sogar, sich tagelang aus den Circle-Kreisen abzumelden. Es gibt dann eine Art öffentliche Entblößung, die für Mae zum Erweckungsmoment wird. Innerhalb von wenigen Wochen steigt sie im Circle-eigenen Partizipationsranking in die Spitzengruppe auf und wird in Windeseile zum unablässig durchleuchteten Werbestarlet des Unternehmens.

Aller Überwachung zum Trotz bewahrt sie sich ein Geheimnis: den Kontakt zu dem geheimnisvollen Kalden, der mit seinen schlohweißen Haaren und seiner schlanken Statur an Julian Assange erinnert. Nach einem ersten aufregenden Treffen versucht sie ihn in den Circle-eigenen Datenbanken zu finden – erfolglos. Unbehagen beschleicht sie. Ist er einer der Spione der Konkurrenz oder gar einer der Gutmenschen-Störenfriede, die die Transparenzvorstellungen des Unternehmens als Bedrohung darstellen?

Zu diesen gehört Maes Ex-Freund Mercer, an den sie in der blendenden Welt des Circle zunehmend mit Abscheu denkt. Er ist so etwas wie die Stimme der Vernunft, wenn er ihr seine warnenden Aussagen an den Kopf wirft: »Du und deine Leute beim Circle, ihr werdet alle Seelen retten. Ihr werdet sie alle sammeln, ihr werdet sie alle das Gleiche lehren. Es wird eine einzige Moral geben, ein einziges Regelwerk.« Die Bedrohung des Romans liegt nicht im Internet, sondern in der Betäubung des eigenen Willens zugunsten eines vermeintlichen Massenideals. Die Folgen sind fatal. »Einzeln wisst ihr nicht, was ihr kollektiv macht.«

Wenngleich Eggers mit Sätzen wie diesen den Nerv der Zeit trifft, ist das nicht futuristisch; weder technisch noch gesellschaftlich. Er zeigt, wie aus einem Unternehmen eine sektiererische Bewegung hervorgeht, veranschaulicht die Genese einer sich aus Algorithmen zusammensetzenden »Transparenzkirche«, die jeden Prozess optimieren und dafür jeden Menschen durchleuchten will. Das wollen Facebook und Co jetzt auch schon, weshalb Eggers mit Der Circle nicht weniger, aber auch nicht mehr präsentiert als ein zugespitztes Bild der Gegenwart.


Wer eine Ahnung des dystopischen Grusels bekommen will, der mit totaler Transparenz einhergeht, sollte zu dem bereits vor zwei Jahren erschienenen Zukunftsroman Replay des in München lebenden Autors Benjamin Stein greifen. Im Mittelpunkt dieser abgrundtiefen Vision, in der die technischen Möglichkeiten einerseits und Wünsche des Menschen andererseits konsequent zu Ende gedacht wurden, steht der sehgeschädigte Software-Entwickler Ed Rosen. Dieser entwickelt für den Unternehmer Juan Matana ein Implantat namens UniCom, das nicht nur Sehbehinderten helfen, sondern Blinde sehend machen soll. Rosen ist das Alter Ego des Autors, der vor seiner Schriftstellerkarriere als IT-Berater tätig war und selbst an einer Sehstörung leidet. Die fachliche Kenntnis der technischen Grundlagen sowie die autobiografische Erfahrung der Schädigung des Sehnervs tragen zur hohen Authentizität dieses Log-Berichts bei.

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Benjamin Stein: Replay. Verlag C.H.Beck 2012. 176 Seiten. 17,95 Euro. Hier bestellen

Die Romanhandlung wird in der Retrospektive erzählt. Wie viel Phantasie, wie viel Wahrheit in diesem Bericht steckt, lässt sich nicht genau sagen. Denn in Ed Rosens Erzählung verschwimmen sämtliche Grenzen: zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie zwischen Mensch und Maschine. Rosen wird zum ersten Träger des UniCom, das – nachdem die Übersetzung von Gehirnströmen zu elektrisch verarbeitungsfähigen Impulsen gelungen ist – von der Sehhilfe zum interaktiven Kommunikationsmittel erweitert wird. UniCom wird, einmal implantiert, bei seinen Trägern nicht nur die Sinne schärfen, sondern »eingeklinkt in den nicht versiegenden Strom weltweiter Kommunikation« zur integrierten Smartphone-Google-Glass-Sim-Karte. Die Funktionsweise ist ebenso simpel wie einleuchtend: »Das UniCom sieht und hört, was ich sehe und höre und bewahrt es für mich auf«, erklärt es Rosen seinem Chef Matana nach der Testphase. So weit ist das alles noch im Rahmen des technischen Stands. Nun aber kommt der Science-Fiction-Aspekt. Die gespeicherten Daten können jederzeit abgerufen werden – sowohl bewusst als auch unbewusst – und in die normale Wahrnehmung eingespielt werden. Das führt zwangsweise dazu, dass es die objektive Wahrnehmung einer subjektiven Wirklichkeit nicht mehr gibt.

Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung wird in Benjamin Steins Zukunftsvision buchstäblich zur erstrebenswerten Wirklichkeit erhoben, Hoffmann von Fallerslebens Die Gedanken sind frei zu einer Erinnerung an eine verblasste Vergangenheit. Gedanken, Wünsche und Träume der UniCom-Träger – immerhin 70 Prozent der Amerikaner – sind gefangen in den ewigen Filmschleifen auf den Servern der (United Communications) Cooperation. Sie sind das Rohmaterial der Replays, die dank der erweiterten Variante, dem UniComScope, zum körperlichen Erlebnis werden. Hier beginnt sich dieses digitale Arkadien zu einem Irrgarten zu entwickeln, in dem sich der CyberMensch verliert. Die Krümmung in Zeit und Raum ist hier bis zur geschlossenen Kugel gebogen, in deren Zentrum der Mensch Runde um Runde dreht, ohne vorwärts zu kommen.

Auch bei Stein wird aus der Möglichkeit, das UniCom zu nutzen, ein Zwangssystem. Als Minister für Kommunikation und Bürgerbeziehungen weitet Ed Rosen die Funktionalität des Implantats zum Identitätsdokument aus. Ganz egal, wo man sich gerade befindet, die blauen Leuchtdioden des UniComs an den Schläfen seiner Träger signalisieren nicht nur dessen Betrieb, sondern geben auch Auskunft über die Identität und Rechtschaffenheit ihrer Träger. Denn wer das Implantat nicht nutzt, gehört zu den Anonymen, die unter Generalverdacht stehen. Denn welchen Grund, wenn nicht einen kriminellen, sollte es haben, wenn Menschen ihre Identität vor der Gesellschaft verbergen wollen?

George Orwells Big Brother blickt bei Benjamin Stein nicht nur auf die Menschen, sondern in ihre Köpfe. Mussten die Wächter in Steven Spielbergs Minority Report noch auf den verbrecherischen Gedanken warten, bevor Sie eingreifen konnten, reicht in Replay die Tatsache, sich der Gedankenüberwachung zu entziehen, um zum Kriminellen abgestempelt zu werden.

Doch im Online-Arkadien des UniComs regt sich Widerstand gegen dieses Zwangssystem. Ob das allerdings in der Wirklichkeit oder in einem manipulierten Replay der Fall ist, bleibt bis zuletzt unklar. Einzig ein Huf lässt Rückschlüsse darauf zu, was echt und was eingebildete Wiederholung ist.

Benjamin Stein, der in seinen vorangegangenen Romanen Das Alphabet des Rabbi Löw (1995 erstmals unter dem Titel Das Alphabet des Juda Liva erschienen, jetzt in überarbeiteter Neuauflage erhältlich) und Die Leinwand immer wieder kunstvoll mit Fragen nach Wahrheit oder Fiktion, Identität oder Zuschreibung jongliert hat, lässt den Menschen in seinem Roman unter den Bedingungen des technischen Fortschritts einen Identitätsverlust erleiden, wie er vollkommener nicht sein kann. Während das Individuum in Eggers blendender Onlinewelt in den Fokus der Masse gerückt wird, löst es sich in Steins nebulöser Kulisse eines drogenhaften Rausches vollkommen auf.

»Der verdammte Hai, der die Welt frisst« heißt es bei Eggers, als vom Circle die Rede ist. Bei Stein ist dieser Hai der Mensch selbst. Der Mensch, der sich zum Gott erhoben hat, ist sein größter Feind – nicht weil er an seinem Status zweifelt (das würde helfen), sondern weil er wie ein Junkie von sich selbst zehrt, bis er nur noch eine leere Hülle im Kreislauf der Wiederholungen ist.

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