Wie sieht in Zukunft die Literatur aus? Welchen Einfluss hat der mediale Wandel auf das Beschreiben der Welt? Plädoyers an der Sollbruchstelle der Moderne oder: Die Reise zum Mond mit fliegender Untertasse.
»Schreiben in Zukunft bedeutet, sich schreibend zu bewegen in einer Welt rasch mutierender Formen, hybrider Felder, heterogener Gleichzeitigkeiten.« Das denkt die Schriftstellerin Ulrike Draesner, wenn man sie zur Zukunft der Literatur fragt. Getan haben dies die Kunststiftung NRW und das Literaturcolloquium Berlin im September 2014 im Rahmen einer zweitägigen Tagung. Neben Draesner haben unter anderem Marion Poschmann, Matthias Nawrat, Benjamin Stein, Gunther Geltinger, Thomas Melle, Thomas Hettche, Daniela Seel, Philipp Schönthaler, Teresa Präauer und Marcel Beyer teilgenommen, deren schriftlich ausgearbeitet Beiträge die Literaturzeitschrift VOLLTEXT publiziert hat.
Vor mehr als vier Jahren hatten sich bereits der italienische Schriftsteller Umberto Eco und der französische Autor Jean-Claude Carrière ihre Gedanken über Die große Zukunft des Buches gemacht und der schreibenden Zunft ein Leben nach der Digitalisierung prophezeit. »Autorität, Nähe und Aktualität eines großen Buches« seien zeitlos und unabhängig vom Medium. »Wir schlagen es auf, und es spricht von uns. Weil wir seither gelebt haben, weil unsere Erinnerung zu dem Buch hinzugetreten ist, sich damit vermengt hat.«
Draesner deren fulminanter Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt angesichts des Erfolges von Saša Stanišićs Vor dem Fest zu Unrecht ins Hintertreffen geraten ist (ihr Roman war der eigentliche Spitzentitel ihres Verlags im Herbst 2013) sieht die Zukunft der Literatur vor allem in dem Potential, Dinge zu akzentuieren, die in der Gegenwart untergehen, weil es schlichtweg kein »Außerhalb des Realismus« mehr gebe. In ihrem aktuellen Roman, der für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert wurde, steht ein Hirn- und Affenforscher im Zentrum der Handlung. Auch in ihrem Beitrag zur Zukunft des Schreibens geht es um die Naturwissenschaften, weil diese für sie ein Gegenbild zur Literatur darstellt. Während sich die Naturwissenschaften zunehmend aus den Beschreibungen der sichtbaren, sinnlich erfahrbaren Welt zurückzögen, wendet sich die Literatur der Wirklichkeit zu. »Niemand mehr beschreibt als Biologe dreihundert verschiedene Birnen- und Apfelsorten. Wer es tut? Michael Hamburger, der Dichter. Hier öffnet sich ein neues Feld „reale Welt“. Unsere Sinnenwelt in Interaktionen mit uns.«
Thomas Melle, dessen Roman 3000 Euro für den letzten Deutschen Buchpreis nominiert war, sieht keine großartigen Veränderungen auf die Literatur zukommen. »Die Literatur der Zukunft wird wohl genau wie zuvor versuchen, der jeweiligen Gegenwart einen Kunstentwurf entgegenzustellen, der diese Gegenwart in sich aufhebt«. Entsprechend würden sich die Inhalte in zehn oder hundert Jahren nicht im Wesentlichen von denen der Gegenwart unterscheiden, »nur insofern natürlich, wie sich die Welt und der Mensch im Laufe der Zeit verändern und auflösen werden.« Melle sieht dabei vor allem drei Themen im Vordergrund: »der Clash der Kulturen im Kleinen«, »das Nebeneinander der Menschenleben« und der sich verschärfende »Klassenkonflikt zwischen Arm und Reich«.
Einen ähnlichen Ton schlägt Matthias Nawrat ein, dessen Unternehmer auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014 war. »Die Aufgabe der Literatur, wenn auch von einem verlorenen Posten aus, muss in Zukunft noch verzweifelter sein, Nuancen der Wahrnehmung zu ermöglichen, Achtsamkeit für Zwischenbereiche des Denkens zu erzwingen, die Sedimente der Alltagssprache täglich wieder aufzubrechen, hinter die Wörter zu blicken, auch zu fragen, welche moralischen Werte eigentlich die Alltagssprache zementiert«. Dafür brauche es Ruhe, auch von Seiten des »fordernden Feuilletons«, das sekündlich Kommentare und Stellungnahmen fordere, um die vermeintlich unter Bedrängnis geratene Literatur am Leben zu erhalten. Das brauche es nicht, schreibt Nawrat, »der Mensch und sein Menschsein ist das Thema der Literatur, das wird sich nicht ändern.«
Die Österreicherin Teresa Präauer, die mit ihrem Debütroman Für den Herrscher aus Übersee 2012 den aspekte-Literaturpreis gewann, hat keine Furcht vor der Zukunft der Literatur und ihren technischen Begleiterscheinungen. Dabei dräuen der deutschsprachigen Literatur aus allen Richtungen Horrorszenarien. Da wird das Ende der Buchpreisbindung befürchtet, das Ende der Literaturkritik als ernstzunehmende Reflexion herbeiorakelt, der nihilistische Abgesang der Poesie prophezeit und und und. Für Präauer, von der vor wenigen Monaten mit Johnny und Jean der zweite Roman erschienen ist, ein Anlass mehr, den Untergangsszenarien der Literatur furchtlos zu begegnen. »Ich lesen, schreibe und spreche. Es ist mir egal, ob auf Papyrus oder digital oder in einer fliegenden Untertasse sitzend oder mit einem blauschimmernden Papier auf der Zunge, das schmilzt, wenn man die Lippen öffnet und schließt: ich habe keine Lust, etwas zu befürchten«, schreibt sie, denn die Literatur sei »befreit von der Zukunft«.
Der Schriftsteller Marcel Beyer, von dem zuletzt der Gedichtband Graphit sowie Erzählungen unter dem Titel Putins Briefkasten erschienen sind, fordert eine Befreiung der Literatur vom Wind der Gegenwart, wie er ihm ins Gesicht weht. In einem kurzgeschichtenähnlichen Essay geht er auf so manche Dunkelstunde des Buchbetriebs in der nahen Vergangenheit ein. Die Abgründe, die sich hinter den Literaturen und Äußerungen der Lewitscharoffs, Mosebachs und Sarrazins auftun, erklärt er sich folgendermaßen: »Wenn Schlager der neue Pop war, wie es sich schon allein daraus ergab, dass Porno der neue Schlager war, musste folgerichtig Gewalt der neue Porno sein: In den eigenen vier Wänden Geschmackssache, in guter Gesellschaft aber ein No Go.« Eine überaus treffende Analyse der Gegenwart, die zu betrachten unablässig ist, will man die Zukunft der Literatur erkunden.
Thomas Hettche, dessen historische Erkundungen des Lebens auf der Pfaueninsel nur Lutz Seilers Kruso beim Deutschen Buchpreis unterlagen, sieht die Zukunft der Literatur in der Distanzierung von dem, was man Zeitgeist nennen könnte. »Ihr Zauber liegt gerade nicht in der Addition. Statt Rechnerleistung, Cloud-Vernetzung, einer riesigen Zahl von Beiträgen bestimmt sie der Glaube, dass in einem einzigen Satz die ganze Welt eingeschlossen sein kann.« Wörter können lebendig werden, aus Geschichte auf ein paar Blättern aus Papier entstehe die Vorstellung des Wirklichen abseits der enzyklopädischen Unendlichkeit des Netzes (wie sie etwa Peter Burke in seiner fantastischen Analyse Die Explosion des Wissens beschreibt). »Denn während die neuen Technologien, wie so oft in der Geschichte der Medien, alles daransetzen, uns den Tod vergessen zu machen, indem sie uns Bild für Bild auf die Netzhaut spiegeln, ermöglicht Literatur mit ihrem notwendigen Sprung vom einzelnen Wort in die Imagination uns eine Erfahrung von Lebendigkeit, die keine tote Enzyklopädie kennt.« Oder wie es die Lyrikerin Daniela Seel in ihrem Beitrag formuliert: »Was beim Lesen eintritt, „das amortisiert sich nicht“.«
Dies beweist vor allem Gunther Geltingers »persönliche Standortbestimmung«, in der er die eigene unmögliche Schreibsituation zwischen Thomas L. Friedman, Athanasius Kircher, Empedokles, Romain Rolland und Pier Paolo Passolini einordnet. »Zum Greifen nah ist die Welt, und doch: sie zerrinnt in der Hand«, schreibt er. Was Literatur dennoch möglich macht und welche Querverbindungen sie im unendlichen Raum-Zeit-Kontinuum zu schaffen imstande ist, zeigt er in seinem Schreiben entlang der »Sollbruchstelle« zwischen Realität und Fiktion. »An dieser Sollbruchstelle befindet sich die Erdgeschichte in der »Phase der Ablösung der Liebe durch den Hass« und der Mensch ist geplagt vom »Heimweh nach der übernatürlichen Welt«.
Philipp Schönthaler, der zuletzt mit Das Schiff, da singend zieht auf seiner Bahn eine präzise Analyse der modernen Arbeitswelt vorgelegt hat, ist das zu romantisch. Er sieht bei der künftigen Literatur einen Anpassungsbedarf. Der Roman müsse sich »in der Konfrontation mit seiner Zeit« immer wieder neu erfinden. Das bedeute auch, die Funktionsweise der neuen Technologien aufzugreifen. »Algorithmen werden die narrative Logik nicht obsolet machen, aber beide werden wohl in ein verschärftes Konkurrenz- und Wechselverhältnis miteinander treten. Dies könnte demnach einen möglichen Einsatzpunkt für eine zeitgemäße „Modernität“ der Literatur bilden – nicht, um nach einer netzkompatiblen Literatur zu fragen, sondern um sich mit den konkreten technischen und medialen Strukturen computergesteuerter Prozesse auseinanderzusetzen und der Realität, die basierend auf Algorithmen entworfen und gestaltet wird.«
Marion Poschmann, deren Roman Die Sonnenposition es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 schaffte und im Finale Terézia Moras Das Ungeheuer unterlag, schreibt, dass Literatur nur dann eine Zukunft hat, wenn sie einen philosophischen Mehrwert hat. Wenn nicht, möge sie untergehen, denn »dann kann ich nämlich gleich Fernsehen«. Auch sie wendet sich gegen die »Prostitution« der Autoren auf dem Buchmarkt, um die eigene Arbeit zu vermarkten. »Ich bin kein Lohnschreiber, sondern Künstlerin«, so Poschmann. »Literatur ist eine Form von Intimität, die zwischen dem Autor und dem Buch beziehungsweise dem Leser und dem Buch stattfinden sollte, nicht aber zwischen Autor und Leser.«
Auch der IT-Experte und Schriftsteller Benjamin Stein, der mit seinem Roman Die Leinwand dem Genre eine vollkommen neue Form gegeben und mit Replay Jahre vor Dave Eggers einen würdigen Roman des digitalen Zeitalters verfasst hat, sieht sich als Autor zunehmend in die Rolle des Marktschreiers gedrängt. In seinem Beitrag fragt er sich, wozu er denn im Jahr 2020 überhaupt noch schreiben sollte. Er nennt sich selbst »verdrossen«, wenn es um die Zukunft des Schreibens geht, weil die Literatur heute vor allem ein Betrieb sei, ein »Kommerzding aus der Unterhaltungsbranche«, in dem ein Verlag zu einem »Profit Center« und der Autor zum Büttel des Medienzirkus’ verkomme. »Von wegen Kanon und Ewigkeit und Reden über die letzten Dinge. Den Zirkus mitmachen oder nicht wahrgenommen werden – das, will uns der Betrieb weismachen, seien die einzigen Optionen.«
Die Lyrikerin Daniela Seel sieht gar eine Kapitulation der Holzmedien angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen. Sie fordert die Verlage auf, zu kämpfen und dem Anpassen von Literatur an die Anforderungen von Geräteherstellern (Gunther Geltingers Anlehnung an das Credo der »flachen Welt« des Chefideologen des Neoliberalismus bekommt mit Blick auf die eReader eine ganze eigene und neue Bedeutung) aktiv entgegenzuwirken. Das fehlt ihr aktuell. »Anstatt der eigenen Selbstverharmlosung aus Entpolitisierung aktiv entgegenzuwirken, verfallen sie [die Verlage] in Rückzugszynismus und befördern die eigene Erosion noch.« Ähnlich wie Matthias Nawrat und Benjamin Stein fordert sie ein Ende der unablässigen Forderungen von Verlagen und Öffentlichkeit an die Autoren. »Wir brauchen kein Mehr an Geplauder und keine verlängerten Arme des Marketings, sondern Orte gesellschaftlicher Selbstverständigung durch differenzierte Kritik.«
Die Frage, was will und kann Literatur als Kunst heute, müsse dennoch neu gestellt werden, dies wird in den meisten der Texte zur Zukunft der Literatur deutlich. Vielleicht liegt die Zukunft des Schreibens im »Arbeiten an der Reise nach dem Mond«, wie sie Stein mit den Worten von Cyrano de Bergerac fordert. Diese Arbeit könne zumindest ein Heilmittel gegen seinen eigenen Verdruss als Autor sein, schreibt er und skizziert, wie das für ihn aussehen könnte: »Warum nicht zurückkehren zur Lyrik, mit der ich einmal angefangen habe? Warum nicht versuchen, die Short Story zu meistern, einfach nur der Herausforderung wegen? Oder irgendwas in Prosa machen, das zwischen den Genrewelten balanciert, ohne Rücksicht auf die Frage, ob ein Vertreter das Verticken kann.«
Ja, warum eigentlich nicht? So will man sich die Zukunft der Literatur gern vorstellen. So bleibt sie intim, realitätsnah, achtsam, kritisch, relevant, philosophisch und lässt eine Welt vor uns entstehen. So bleibt Literatur auch in Zukunft »eine Axt für das Eis in uns«, wie sie Marcel Beyer in Anlehnung an Franz Kafkas »Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« fordert.