Literatur, Zeitgeist

Reaktion oder reaktionär

Die Aufregung ist groß um Sibylle Lewitscharoffs Dresdener Skandal-Rede, in der sie in reaktionärem Ton der Moderne eine Absage erteilte. Konsequenzen werden gefordert, der Literaturbetrieb müsse reagieren. In der kommenden Woche hätte er die Möglichkeit.

Sibylle Lewitscharoff hat am vergangenen Sonntag im Dresdener Staatsschauspiel eine fatale Rede über die »Machbarkeit« der Dinge gehalten, in der sie mit ihren reaktionär-klerikalen Ansichten die »wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod« verdammte. Zu den so genannten Dresdener Reden werden alljährlich kluge Köpfe gebeten, um Debatten zu Fragen der Zeit auszulösen. Vor Lewitscharoff waren in diesem Jahr Heribert Prantl und Roger Willemsen zu Gast. Im vergangenen Jahr hatte der Berliner Autor Ingo Schulze auf grandiose Weise die Brüchigkeit der Demokratie unter dem Finanzkapitalismus zur Sprache gebracht. Lewitscharoff hat nun ein Gegenmodell geschaffen und sich um Kopf und Kragen geredet. Was war geschehen?

Die frisch gebackene Georg-Büchner-Preisträgerin begann damit, über den Tod ihrer gottgläubigen Großmutter sowie den Selbstmord ihres Gynäkologen-Vaters zu sprechen. Sie habe deutlich machen wollen, dass sie in diesen Fragen – welche damit gemeint sein sollen, bleibt im Dunkeln, gemeint waren aber die existenziellen Fragen nach Leben und Tod – empfindlich und persönlich geprägt sei. Weshalb sie die Beantwortung dieser Fragen an den lieben Gott abtritt.

Das wäre nicht weiter von Bedeutung, wenn Lewitscharoff diese persönliche Haltung nicht zum Anlass genommen hätte, alles, was jenseits der göttlichen Vorhersehung steht, zu verdammen. Die Selbstbestimmung am Lebensanfang und Lebensende durch Reproduktionsmedizin oder Patientenverfügung – man kann sicher auch Schwangerschaftsabbruch oder Suizidhilfe hinzuzählen, ohne allzu viel zu riskieren – hält sie für »absolut widerwärtig« und »abscheulich«. Schlimmer seien nur Leihmutterschaft und Onanie.

Der Weg, auf dem sich gleichgeschlechtliche Paare zum Kinderglück verhelfen, ist für Lewitscharoff eine »wahrhaft vom Teufel ersonnene Art, an ein Kind zu gelangen«. Es folgten ein mit Grusel unter die Haut gehender Vergleich der gegenwärtigen Verhältnisse mit den »Kopulationsheimen« der Nationalsozialisten und der abschließende Tiefpunkt ihrer reaktionären, menschenverachtenden Moralpredigt: »Ich übertreibe, das ist klar, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.«

»Abartig«, »Halbwesen«, »zweifelhafte Geschöpfe« – es behaupte keiner, Sibylle Lewitscharoff wüsste nicht, welche Worte Sie gewählt hat. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Berliner Akademie der Künste und der Villa Massimo in Rom sowie Trägerin von so ziemlich jedem deutschen Literaturpreis – mit Ausnahme des Deutschen Buchpreises. Sie weiß genau um die Macht der Sprache, eine Unschuldsvermutung nach dem Motto, sie habe es nicht so gemeint, kann es nicht geben.

Entsprechend hagelte es Kritik. Der Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden, Robert Koall, distanzierte sich in einem Offenen Brief von der Rede Lewitscharoffs: »lieber verletze ich die guten Sitten und Gebräuche der Gastgeberschaft als Ihnen nicht zu widersprechen.« Denn die Rede sei »menschenverachtend« und »gefährlich«, Lewitscharoff habe ein »beängstigendes Menschenbild« geoffenbart, in dem sich »Verklemmung mit Verachtung« paare. Ihre Rede wirke wie »tropfenweise verabreichtes Gift«, ähnlich der Agitation gegen alles Tolerante, wie sie auch der bekennende Erzkatholik Matthias Matussek oder der Populist Thilo Sarrazin pflegen.

Die Tinte unter Koalls Offenem Brief war noch nicht trocken, da wachte auch das bundesdeutsche Feuilleton auf, sprach von einem »aggressiver, radikal unhöflichen Akt«, »weltanschaulichem Furor« und »Klerikalfaschismus«. Die Literaturszene müsse reagieren.

Ach ja, die Literaturszene, die eine Geschwätzigkeit und Vergesslichkeit hat, bei der sich die Balken biegen. Hat sie doch jüngst den neuen Roman des erzreaktionären Pseudointellektuellen Martin Mosebach – der wie die Pius-Brüder das Zweite Vatikanische Konzil verurteilt und die Rückkehr zur Tridentischen Messe fordert und auch ansonsten so ziemlich jede erzkatholische Moral gegen die Unbilden der Moderne verteidigt – für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Mosebach stand noch vor eineinhalb Jahren tief in der Kritik, weil er in der Berliner Zeitung ein Blasphemie-Verbot gefordert hat, um die empfindlichen Seelen der religiösen Hardliner zu schonen. Es könne auch dem religiös neutralen Staat Deutschland nicht schaden, Gotteslästerung unter Strafe zu stellen, schrieb er im Juni 2012. Dass er damit schulterzuckend auch Autoren wie Salman Rushdie oder Binyavanga Wainaina ans Messer der lieferte, indem er von seinem Frankfurter Sofa aus religiös motivierte Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen in aller Welt legitimiert, stört den religionsverbrämten Mosebach nicht.

Der Frankfurter und die Stuttgarterin – ist es eigentlich Zufall, dass hier zwei Menschen derart agieren, die in den Zentren des biederdeutschen Bürgertums beheimatet sind – Geschwister im Geiste. Auch Mosebach scheute sich 2007 zur Verleihung des Büchner-Preises nicht, den Nazivergleich heranzuziehen. Auch seine Ausfälle gegen die Errungenschaften des Fortschritts als unerhörte Eingriffe in die göttliche Ordnung sind kein Geheimnis. Nun also soll er für seinen Roman Das Blutbuchenfest womöglich einen weiteren Literaturpreis erhalten. Schließlich gelte es, zwischen den öffentlichen Äußerungen von Autoren und ihren Werken zu unterscheiden, liest man in den großen Feuoilletons.

Was ist das für ein seltsamer, intellektuell vorgeschobener Habitus, anzunehmen, die öffentliche Rolle stehe nicht im Zusammenhang des öffentlichen Agierens? Entspringen die Äußerungen Mosebachs und Lewitscharoffs einem anderen Kopf als ihre Werke? Ehrt man mit ihrer Literatur nicht zugleich auch die Geister, die sie schufen?

Ist der Anspruch der Unabhängigkeit von Kunst und Kultur von der Wirklichkeit eine Errungenschaft unserer Zivilisation oder in diesem Maße Ausdruck einer Wirklichkeitsvergessenheit und Gleichgültigkeit, die schlussendlich in die Irrelevanz des Kulturellen führt? Andererseits die Frage: Muss Kunst und Kultur einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen?

Um das ganz klar zu sagen: Kunst hat keinen Staatsauftrag und soll auch keinen bekommen, aber sie existiert auch nicht – um ihrer selbst Willen – losgelöst von gesellschaftlichen Prozessen und Debatten. Selbstverständlich können Martin Mosebach und Sibylle Lewitscharoff trotz befremdlicher Haltungen weiterhin gute oder grandiose Bücher schreiben. Und natürlich soll es jedem überlassen bleiben, diese zu lesen oder auch nicht, diese gut zu finden oder nicht, darüber zu schreiben oder nicht. Gute Bücher finden immer Leser, und meist auch die, die sie verdienen.

Aber es muss ein Ende haben, diese Autoren weiter zu hofieren und ihre Romane zu prämieren. Die dünne Linie, die zwischen der Anerkennung eines literarischen Werkes und der Anerkennung der öffentlichen Person liegt, ist nicht zu halten. Es kann auch nicht richtig sein, dass in den wichtigsten Kultur- und Sprachgremien dieser Republik mit Lewitscharoff und Mosebach zwei Personen sitzen, die sich entschieden haben, die sprachlichen Mittel gegen die gesellschaftliche Vernunft zu wenden.

Es geht keineswegs darum, Schriftstellern ein moralisch gesellschaftskonformes Privatleben abzuverlangen. Im privaten wie im öffentlichen Raum möge jeder nach seiner Façon glücklich werden. Aber wenn Autoren mit ihren Äußerungen eine die Gesellschaft kommentierende und denkende Rolle einnehmen, dann verlassen sie den Schutzraum der Privatsphäre und treten ans Tageslicht der Agora, in der ihre Äußerungen eine andere Bedeutung erlangen und sie sich der Kritik stellen müssen.

Kritik hagelte es auch nach Mosebachs Äußerungen. Nun, keine zwei Jahre später, scheint all das vergessen. Womöglich wird in der nächsten Woche die Literatur eines Geistes prämiert, dem die Freiheit der Rede und der Gedanken ein Graus ist. Selbst wenn es Mosebach gelungen sein sollte, in seinem nominierten Roman den privaten Furor zurückzustellen, so hebt man doch den Autor mit einer Prämierung auf den Sockel der Anerkennung und tut so, als seien seine erzreaktionären, die aufgeklärte und demokratische Gesellschaft unterwandernden Forderungen nicht mehr als eine Jugendsünde.

Die Literaturszene hat am kommenden Donnerstag die Chance, sich einmal zu schütteln, den Rücken durchzudrücken und Haltung anzunehmen. Oder einmal mehr zu sagen, dass sie sich nicht um die Gesellschaft schert, in die sie eingebettet ist.

1 Kommentare

  1. […] Für die beiden zurückliegenden Jahre muss man großzügig sein und die Listen um das Thema Migration weiten, um fündig zu werden. In Jenny Erpenbecks Flüchtlingsroman Gehen, Ging, Gegangen von 2015 spielt zumindest das Thema der kulturellen Vielfalt eine Rolle. Auch in Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis, die im vergangenen Jahr unverständlicherweise den Buchpreis gewonnen hat, kommt das Thema Flucht vor. Die Handlung ist aber ein unrühmliches Beispiel dafür, wie man über Flucht sprechen und zugleich die Betroffenen zu bloßen Objekten reduzieren kann. Nicht nur verbietet der Autor dem Flüchtlingsmädchen in seiner Geschichte eine eigene Stimme, er liefert sie auch noch dem übergriffigen Willen seines deutschen Wohlstandspärchens aus. Bücher wie dieses weiten nicht die Perspektiven, sondern tragen zu ihrer Verengung bei. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern fatal, denn diese Listen entfalten eine Signalwirkung über die Literatur hinaus. […]

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