Literatur, Roman

Der Häuptling der Aussteiger

Hiddensee, Dornbusch | via wikimedia commons

Lutz Seiler erzählt in seinem Inselroman »Kruso« von einer außergewöhnlichen Freundschaft und der Sehnsucht des Menschen nach Freiheit. Die ergreifende Robinsonade ist eine magische Hymne, deren eindringliche Musikalität Gänsehaut verursacht.

Füchse spielen in der deutschen Gegenwartsliteratur eine gewichtige Rolle, wenn es um Abgesänge geht. In Annika Scheffels Lausitz-Roman Bevor alles verschwindet tritt ein geheimnisvoller blauer Fuchs auf, der Bauarbeiter anfällt, die die zum Abbaggern verurteilten Ortschaften räumen. In Vor dem Fest, dem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman von Saša Stanišić, streunt Reinicke Fuchs durch die Wald- und Seenlandschaften der aussterbenden Uckermark, auf der Suche nach den alten Mythen und Geschichten der Region. In Kruso schließlich, dem Debütroman des Bachmann-Preisträgers Lutz Seiler, hat »Reinicke, die kleine Bestie« ebenfalls eine Rolle. Ein Fuchskadaver dient dem Erzähler im Roman, Edgar Bendler, der im Sommer 1989 als Saisonkraft auf Hiddensee weilt, als Vertrauter in Stunden der Verwirrung und Ratlosigkeit.

Der Abgesang, um den es in diesem Roman geht, liegt auf der Hand. Es handelt sich um das Ende der DDR, weshalb Lutz Seilers Roman im 25. Jahr nach der friedlichen Revolution nicht nur Favorit im Rennen um den Deutschen Buchpreis ist, sondern auch im Wettbewerb um den Wenderoman überaus gute Karten hat. Nach Jana Hensel (Zonenkinder), Thomas Brussig (Wie es leuchtet), Ingo Schulze (Neue Leben) und Clemens Meyer (Als wir träumten) hatten sich in diesem inoffiziellen Wettbewerb zuletzt Uwe Tellkamp (Der Turm) und Birk Meinhardt als Anti-Tellkamp (Brüder und Schwestern) prominent in Position gebracht. Nach der Lektüre von Kruso ist man geneigt, diese Bemühungen mit einem »vergebens« zu kommentieren, so einfühlsam und poetisch erzählt Lutz Seiler von der inneren und äußeren Unruhe, die den Herbst 1989 zu einem historischen hat werden lassen.

Die damaligen politischen Schauplätze Prag, Dresden, Leipzig oder Berlin spielen hier jedoch keine Rolle. Die Ereignisse, die mit diesen Orten verbunden sind, werden in Seilers Robinsonade nur marginal erwähnt. Seiler setzt sie als bekannt voraus. Sein Erzähler, Edgar Bendler, lässt im Sommer 1989 Halle und sein Jura-Studium hinter sich und reist nach Hiddensee, »dem letzten Ort der Freiheit innerhalb der Grenze«. Hier lernt er Alexander Dimitrijewitsch Krusowitsch kennen, an dessen Seite er die nächsten Monate in der Schänke Zum Klausner arbeiten wird.

Krusos Rufname erinnert nicht zufällig an den berühmten Robinson Crusoe aus Daniel Defoes gleichnamigem Roman. Wie sein Namensvetter ist Kruso ein König der Gestrandeten und »Schiffbrüchigen«, die nicht mehr wirklich zu diesem Staat gehören, an dessen äußerster Grenze sie sich hier einfinden. Sie tragen Namen wie Rimbaud und Koch-Mike, Insel-Kambodschaner und Santiogo und gehören zur Mannschaft, die Kruso um sich herum versammelt hat. Auf Hiddensee leben sie in einer »schwer zu begreifenden Form legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten«. Seiler wirft uns mitten hinein in diese von Küchendunst verhangene und Essensresten verklebte Unterwelt, deren zwölf Bewohner nach getaner Arbeit in einer Art Tafelrunde ihre Sehnsucht nach innerer und äußerer Freiheit mit Trakl-Versen und Hochprozentigem gemeinsam ertränken.

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Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp Verlag 2014. 484 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen

Hiddensee war zu DDR-Zeiten das Mekka der Freiheitsliebenden. Die Insel galt als »Vorhof des Verschwindens«, wie es im Roman heißt, denn nicht wenige versuchten von hier über die Ostsee auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Wen wundert es, konnte man an guten Tagen vom Strand aus Dänemark nicht nur sehen, sondern fast greifen. Dieser Ruf der Freiheit eilt der Insel voraus, weshalb es selbst die Wildschweine auf die Insel zieht: »Nur deshalb kommen sie hier herüber – sie wittern die Freiheit, sie sind wie die Menschen«, erklärt Kruso seinem staunenden Freitag Edgar Bendler.

Menschen, die hier Zuflucht und Auswege suchen, trifft Edgar viele. Dies liegt an seiner engen Verbindung zu Kruso, der auf der Insel einen besonderen Ruf genießt. Es gibt nichts, was er nicht weiß, denn er »hatte ein Fernrohr auf seinem Zimmer, mit dem er die Dinge durchschaute bis weit in die Vergangenheit«, heißt es im Roman. Kruso durchschaut aber nicht nur die Dinge, sondern auch die Menschen. Es gab niemanden, dem er die Sehnsucht nach der großen Freiheit nicht ansah. Deshalb kümmert er sich als primus inter pares auch um deren rituelle Reinigung von der Unfreiheit des Landes, aus dem sie kommen. Er versorgt sie mit einem Gebräu namens »die ewige Suppe« und garantiert ihnen, innerhalb von drei Tagen mit Waschungen und weiteren Riten zu ihren Ursprüngen der Freiheit zurückzukehren.

Zugleich sorgt er für die Unterkunft der auf der Insel Gestrandeten. Eds Zimmer im Giebel des Klausners ist eine der zahlreichen, auf der Insel verteilten Notunterkünfte. Kruso führt seinem Schützling immer wieder hübsche Damen zu, die in ihrer Not zu der ein oder anderen Zärtlichkeit bereit sind. Natürlich führt das zu Neid und Missgunst unter den alteingesessenen »Esskaas«. Eines Abends kommt Kruso Edgar zu nahe, kurz daraufhin verschwindet der Inselkönig für mehrere Tage spurlos. Als er zurückkommt, ist nichts mehr wie zuvor.

Edgar legt hier, um auch der Formalität der Robinsonade gerecht zu werden, als Freitag Zeugnis von seiner Begegnung mit diesem geheimnisvollen Kruso ab. »Kruso berührte etwas in ihm, das er entbehrte, vermisste, ein alter Mangel, nagend, eine Sehnsucht nach… er wusste es nicht, es hatte keinen Namen.« Mutmaßlich hat dieses namenlose Es etwas mit Edgars Vater zu tun. Zumindest legt die Perspektive, aus der Edgar von seinem Sommer auf Hiddensee erzählt, dies nahe. Der Blick auf Kruso entwickelt sich wie das Verhältnis eines Sohnes zu seinem Vater. Anfangs aufschauend, dann rätselnd und schließlich oppositionell irritiert. Zugleich verliert ihr Verhältnis niemals den verbindlichen Charakter: »Bis zum Schluss bestand seine Aufgabe darin, an der Seite seines Gefährten zu bleiben, auf ihn zu achten, ihn zu beschützen.«

Lutz Seiler ist bislang als Autor von Gedichten und Erzählungen in Erscheinung getreten. 2007 gewann er mit seiner Erzählung Turksib (hier als pdf zum Download) den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2010 war er mit seinem Erzählungsband Die Zeitwaage für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Kruso ist der lang erwartete Debütroman des in Thüringen geborenen Autors. Seine poetische, bildgewaltige und wohlklingende Sprache hat er über die Gattungsgrenzen in seinen Erstlingsroman mitgenommen. Darin hält er souverän den Duktus der Seefahrt und damit sein prosaisches Debüt im Genre des Abenteuerromans. Als Leser sieht man die Inselwelt aus der Sicht der Gestrandeten und Schiffbrüchigen, die bis zum Knöchel im Küchendreck stehen und gelegentlich aus dem Fenster des Klausners aufs Meer blicken. Sie haben die Freiheit vor Augen, aber auch die Strömung, die Beobachtungskompagnie und all die anderen Gefahren ihrer längst beschlossenen Flucht im Kopf. Der Lockruf der Freiheit, den die Schiffbrüchigen hier vernehmen, wird zum Gesang der Sirenen. »Und jeder hört etwas. Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat. Von der Vergangenheit.«

Lutz Seiler hat mit Kruso eine magische Hymne auf die Freiheit geschrieben, indem er deutlich macht, was deren Abwesenheit bedeutet. Denn neben den Formen der Gefangenschaft gibt es Angst, Alpträume, Krampf, Apathie. So flüstert Ed eines Nachts eine Stimme ins Ohr, die wie Krusos klingt. »Dazu kommen die Schlacken, immerzu Schlacke, die sich auf uns legt, solange wir leben. Ein schwerer Niederschlag von Ehrgeiz, Macht, Habgier, Besitz, rostige giftige aschene Schlacken.« Sätze wie diese geben dem Roman seinen zeitlosen Charakter. Dann treten die historischen Ereignisse in den Hintergrund und machen Platz für die Menschen, ihre Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte. Am stärksten aber ist die Sehnsucht nach Freiheit, die ihnen kein Staat und kein Gesetz der Welt verbieten kann.

Hier geht es zu den Beiträgen von Lutz Seiler im LOGBUCH, dem Blog der Autoren des Suhrkamp-Verlages.

9 Kommentare

  1. […] Der Wende- und Nachwenderoman ist längst ein eigenständiges literarisches Genre, in dem es laut Wikipedia um die Wende und die friedliche Revolution in der DDR, den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung sowie die Nachwendezeit in Ostdeutschland geht. Zu den Klassikern zählen neben dem Werk von Clemens Meyer beispielsweise Thomas Brussigs heitere Romane »Helden wie wir« und »Wie es leuchtet«, Jana Hensels autobiografischer Band »Zonenkinder«, Ingo Schulzes Wende-Erzählungen in Werken wie »Handy«, »Neues Leben« oder »Adam und Evelyn«, Uwe Tellkamps bildungsbürgerlicher Schlüsselroman »Der Turm«, Peter Richters brutales Plattenbau-Porträt »89/90« sowie Lutz Seilers anarchistischer Aussteigerroman »Kruso«. […]

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