Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius legt mit »Die Liebesgeschichtenerzählerin« einen großen Roman vor, in dem er einmal mehr die Geschichte seiner eigenen Familie ordnet und verdichtet, um von Schuld und Schicksal in der deutschen Geschichte und Kultur zu erzählen.
Marie von Mollnitz hat endlich Zeit, sich den (Liebes)Geschichten ihrer Familie zu widmen. Da ist die Affäre ihrer Urururgroßmutter mit dem niederländischen König Willem der Erste, die ihren Familienstammbaum mit dem weitverzweigten Geäst des europäischen Hochadels verbindet. Aus der Liebelei des Monarchen mit der attraktiven Tänzerin ging ihre Ururgroßmutter Minna hervor, die als illegitime Tochter des Königs wiederum in den mecklenburgischen Landadel verheiratet wurde, um die königliche Schande zu verheimlichen und dem Spross zugleich alle Möglichkeiten zu bieten. Marie von Mollnitz reist also nach Holland, um die Situation ihrer Vorfahrin als Geliebte des Königs nachzuzeichnen. Ganz nebenbei stillt sie ihre Leidenschaft für die flämische Malerei, füllt ihre Erinnerungen an die Schwarz-Weiß-Illustrationen der Rembrandt-Tableaus in ihren Schulbüchern mit Farbe. Die Bilder in ihrem Kopf geraten durcheinander und so entsteht ein Reigen, in dem sich Familien- und Kunstgeschichte ineinanderschieben und gegenseitig ergänzen.
Wir erfahren, dass die Erzählerin, bevor sie der Geschichte ihrer Familie nachging, eine Biografie über die Widerstandskämpferin Elisabeth von Thadden geschrieben hat, was die Erzählung zu ihrem Vater, dem »Oberleutnant zur See Hans von Schwabow«, führt. Als der »Korvettenkapitän a.D. mit den königlich niederländischen Blutstropfen« die kaiserlichen U-Boote 1918 in Kiel enttäuscht verlässt, igelt er sich im Protestantismus ein. Weil »in Kiel einlaufen mit rotem Wimpel, da sträubt sich alles in ihm, das geht gegen die Ordnung, gegen Gottes Willen.« Die Auseinandersetzung mit der »soldatischen Seele« des Vaters, der der Schlacht von Skagerrak nur deshalb entkommen ist, weil er kurz zuvor in die Stahlzigarren des Kaiserreichs beordert wurde, steht im Zentrum der biografischen Selbstsuche von Marie von Mollnitz, bei der es bis kurz vor Schluss offenbleibt, ob sie nach dieser Reise überhaupt in den Kreis ihrer Familie zurückkehrt. Sie fragt sich, wie dieser »trotzige Christenmensch und Hitler-Gegner und sentimentaler, deutschnationale Hindenburg-Anhänger« die NS-Diktatur überhaupt durchgestanden hat und »mit welchen Kompromissen, Anpassungen, mit welchem Schweigen« das überhaupt durchzuhalten war. Vor allem die Beschreibung dieses knorrigen Seemanns, der als kaisertreuer U-Boot-Kapitän seine Menschlichkeit nie ablegte und laut daran zu knabbern hatte, »dass die versenkten Bruttoregistertonnen geschätzt und gemeldet werden mussten, die Zahl der ertrunkenen Feinde jedoch nicht«. Der Mensch, heißt es im Roman, ist ein Nichts im Krieg – das galt damals ebenso wie heute.
Und nicht zuletzt geht Marie von Mollnitz ihrer eigenen Suche nach Liebe »in den Zeiten des Krieges und der Niederlagen« auf den Grund, sucht nach der Bedeutung von Liebe unter den Vorzeichen des Nationalsozialismus. Als Jugendliche war sie Mitglied im BDM, fühlte sich in der Gemeinschaft aufgehoben. Die offensichtliche Verfolgung von Juden und Christen führte sie dann jedoch in einen inneren Zwiespalt »zwischen Hakenkreuz und Christenkreuz«, der durch die enge kirchliche Bindung ihres Vaters nicht geringer wurde. Neben dem Nazi- und dem Kirchenkreuz befeuern auch das Bayer-Kreuz des Bruders, der als Außenhandelskaufmann beim Pharmakonzern anheuert, sowie das Eiserne Kreuz des Vaters den inneren Konflikt der Erzählerin mit der Biografie ihrer Vorfahren.
Als Hitler mit Hindenburgs Gnaden die Macht in Deutschland ergreift, wendet sich Hans von Schwabow vom Kaiser ab und schließt sich als Missionar der evangelischen Wicherngemeinschaft ein. Diese rigorose Wendung »vom Kaisergehorsam zum Gottesgehorsam« beschreibt sie als kurzen, aber konsequenten Weg »von der wilhelminischen Rüstung in die protestantische, in die pietistische Rüstung, von Frömmigkeit zu Frömmigkeit«, mit dem sich der Vater vor der Auseinandersetzung mit den eigenen Seelenkonflikten drückt. »So wird sie immer fester, die Uniform, der Panzer, die Schutzweste des Glaubens, so fest, dass keine Traurigkeit zum Verstand, in die Seele durchschlagen kann.« Der Durchschlag erfolgt erst in den nachfolgenden Generationen, denen die familiären Traumata unzählige Steine in den Weg ihres Lebens legen.
Der neue Roman von Büchner-Preisträger F. C. Delius ist in weiten Teilen die Geschichte des Vaters der Liebesgeschichtenerzählerin. Sie erzählt sie als die Geschichte »von einem, der auszog, die Traurigkeit abzuschaffen«, und macht dabei deutlich, wie sich diese Mission in der Ahnenreihe fortsetzt. Wie sich das strenge »schlucks runter« bei der ersten Träne auf die Kinder und Kindeskinder überträgt und wie schwer es ist, aus dem Kreislauf der physischen und psychischen Gewalt auszubrechen, um Liebe zuzulassen.
»Schreiben ist ordnen!« heißt es in Die Liebesgeschichtenerzählerin, die wie der Autor nur allzu gut weiß, »dass nicht der Stoff, sondern die Sorgfalt des Handwerks die Meisterin zeige«. Dass das Geheimnis großer Erzählungen im Ordnen und Fügen der Motive, der Figuren, der Absätze, der Rhythmen, der Sätze, der Wörter, der Pausen, der Satzzeichen« liegt.
Delius hält sich in seiner Schilderung der Gedanken der Erzählerin, die zwischen echter und imaginierter Familiengeschichte, erträumter und erlebter Gegenwart hin und her springen, an diese Maxime. Jeder Absatz besteht aus hoch komplexen Ein-Satz-Gefügen, in dem man einem Gedanken bis ins kleinste Detail folgt, um ihn am Ende abzuschließen und der nächsten Vorstellung zu folgen. Dabei winden sich die übertragene Historie und die Konfrontation mit ihr in- und umeinander. Einmal mehr ordnet und verdichtet der großartige F. C. Delius die Geschichte seiner Familie, denn »die Liebes- und Lebensgeschichte von Vater und Mutter, das war Drama, das war Historie, das gehörte in ein richtiges Buch«, wie seine Erzählerin stellvertretend für ihn schreibt. Das Ergebnis ist ein literarischer Kristall, in dessen Facetten sich Schuld und Schicksal der deutschen Geschichte und Kultur brechen.