Intellektueller Habitus oder Lebenskultur? Michael Angele schreibt eine Kulturgeschichte des Zeitungslesers, die auf wenigen Seiten die prägende Kraft eines verschwindenden Mediums zum Leuchten bringt.
Marcel Proust war ein großer Zeitungsleser, er soll bis zu sieben Zeitungen täglich gelesen haben. Als die Dreyfus-Affäre 1899 in die zweite Runde ging, schrieb er an den ehemaligen Leutnant Pierre d’Orleans: »Die Zeitungslektüre vermittelt ein Gefühl für die im Hinblick auf das öffentliche Leben gewaltige Bedeutung dieses historischen Zeitabschnitts.« Der zeitgenössische Autor, der sich heute zu einem solchen Satz hinreißen ließe, muss erst noch gefunden werden. Dies liegt natürlich nicht an dem Proust’schen Bonmot, sondern an dem radikalen Medienwandel, der die Tageszeitung mehr noch als jedes andere Printprodukt trifft.
Der letzte deutschsprachige Autor, der Lobeslieder auf die Tageszeitung gesungen hat, war Thomas Bernhard. Auch er las sieben Zeitungen täglich. Wenig verwunderlich daher, dass ihn Michael Angele, seines Zeichens stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung Der Freitag als geistigen Paten für seine Hommage Der letzte Zeitungsleser heranzieht. Bernhard sei ein »idealer Zeitungsleser« gewesen, schreibt Angele zu Beginn, »weil er eine Zeitung nicht einfach gelesen hat, um sich zu informieren, das natürlich auch, sondern weil er sie auch las, um sich zu wundern, sich anzuregen, sich aufzuregen (das vor allem).«
Heute lässt sich kaum noch jemand von der Zeitungslektüre an- und aufregen lässt, die Ursachen sind vielfältig. Zum einen bekommt ein jeder die Nachrichten, die morgen in der Tageszeitung stehen, heute auf sein mobiles Endgerät geschickt. Überraschungen erwarten ihn da nicht, denn Algorithmen haben schon für die Vorauswahl der für den jeweiligen Nutzer interessanten Beiträge gesorgt. So spart der Nutzer Zeit, neben Körper und Geist die wertvollste Ressource in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft.
Entsprechend haben Handys und Tablets die Zeitung im öffentlichen Straßenbild verdrängt. Das Titelbild der stilisierten Zeitungsseite auf dem Titelblatt des Buches zeigt einen Zeitungssüchtigen, der, in die Zeitung vertieft, eine Straße entlangläuft. Der Mediensüchtige von heute stiert auf sein Handy und liest die vorausgewählten Nachrichten, um sich in seiner Welt(sicht) bestätigt zu sehen. Wo heute Konformität und Bestätigung herrscht, regierte früher Information und Verwirrung. Anders kann man Proust kaum deuten, wenn er im März 1915 an seinen Vertrauten Lucien Daudet schreibt: »Stellen Sie sich nur vor, dass ich, da ich jeden Tag sieben Zeitungen lese und in allen sieben immer wieder von einem versenkten U-Boot die Rede ist, glaube, man hätte derer sieben versenkt, und wenn ich meinen Irrtum schließlich berichtigt habe, glaube ich, wenn mehrere U-Boote versenkt wurden, dass es immer dasselbe ist.«
Derlei Verwirrungen sind heute natürlich kaum mehr möglich. Ganz nüchtern betrachtet gibt es heute keinen Grund mehr, eine Zeitung zu lesen. Angele weiß das nur zu gut, Zeitungslesen zur Information ist überflüssig. Er selbst hat seinen Teil dazu beigetragen, dass das Nachrichtengeschäft von der gedruckten Seite ins Internet wandert. Bevor er beim Freitag arbeitete, war er unter anderem Chefredakteur der Netzeitung, der ersten deutschen Internetzeitung. Er hadert nicht mit der Entwicklung, sondern konstatiert sie schlicht und einfach. Die Tageszeitung befindet sich im Untergang, überleben werden seiner Ansicht nach nur einige Wochenendausgaben und Wochenzeitungen.
Den Satz, dass nichts so alt sei wie die Zeitung von gestern, hält er dennoch für falsch. Gerade im Urlaub, sei die Zeitung vom Vortag der perfekte Beweis, dass man in der Fremde angekommen sei. »In den Ferien kann es nur eine Zeitung vom Vortag geben; wer eine deutsche Zeitung vom gleichen Tag in der Hand hält, kann gleich wieder nach Hause fahren, er ist nicht in den Ferien.« Und wer jemals längere Zeit im Ausland war, weiß, wie freudig man zu einer deutschen Zeitung greift, wie alt sie auch sei.
Angeles Hommage kann man, bei aller sachlichen Erdung, eine gewisse Romantik nicht absprechen. Auch wenn der Anspruch, die große Welterzählung abzubilden, für das Internet viel eher zutreffe als für die Zeitung, hält er zum sinnlich erfahrbaren Feuilleton. Denn: »Geist bildet sich erst in den Brüchen und in den Übertreibungen, in den Fallhöhen des Lebens, durch die das Tragische komisch und das Komische tragisch wird.« Das Ausmaß der Fallhöhe werde vor allem bei einem Blick in die Lokalzeitung deutlich. Dass diese ausgerechnet aufgrund ihrer Fallhöhe, die für Ärger und Empörung sorgt, unter Druck gerät, erscheint mit Blick auf den Zeitungsleser absurd. »Die Menschen bleiben ihrer Zeitung treu, nicht obwohl sie sich ärgern, sondern weil sie sich ärgern.« Man wünschte sich, das gelte auch für Parteien, der demokratische Herbst, den wir derzeit erleben, würde wohl nicht ganz so kalt ausfallen.
Mit der Zeitung verschwindet eine ganze Kultur, schreibt Angele, und weiter: »Und mir gelingt es wiederum nicht, zu erkennen, dass diese Kultur einer neuen, ebenso reichen weicht.«. Trotz und aufgrund dieser Erkenntnis verzichtet er auf die x-te Medienanalyse. Er wendet sich stattdessen den Menschen zu, die von der Medienbranche fast vollkommen vergessen worden sind – die Zeitungsleser. »Die meisten Versuche zur Rettung der Zeitung gehen davon aus dass die Menschen eine Zeitung lesen wollen. Dass sie sich eine Zeitung besorgen, bloß um sie lesen zu können, wird nicht bedacht, es würde ja auch ein wenig ratlos machen«, schreibt er. Dabei kennt dieses Gefühl jeder, der dem gedruckten Wort irgendwie emotional verbunden ist. Der Autor selbst kann sich an keinen Frankreichaufenthalt erinnern, an dem er nicht entschlossen die Le Monde Diplomatique aus dem Zeitungsständer gezogen und sie am Ende fast ungelesen auf den Stapel der noch zu lesenden Lektüren gelegt hat. Die Zeitung auf dem Tisch, an dem man seinen Kaffee trinkt, ist – ob gelesen oder nicht – immer auch ein Statement.
Auf dem Foto, das Henri Cartier-Bresson 1969 im Café Lipp in Paris gemacht hat, ist noch eine andere Seite des Zeitungslesers zu sehen. »Zeitungslesen ist eine hervorragende Tarnung für den Menschenbeobachter«, heißt es zu dieser bei Angele. Und die Frage, ob es den modernen Agentenfilm überhaupt gäbe, hätten nicht unzählige Spione hinter Zeitungen fremde Gespräche belauscht, muss hier erlaubt sein. Die Aufnahme von Henri Cartier-Bresson zeigt Neugier, Neid und soziale Herkunft, aber auch Kontemplation, Sex-Appeal und Unnahbarkeit. Vor allem aber illustriert sie die Verankerung des Zeitungslesens als sozialen Akt im Welttheater. Gerade deshalb passt sie so gut zu Angeles Buch.
Getrimmt auf eine Zeitungsspalte zeichnet sein Essay das Bild des Zeitungsleser, der sich eine Kultur geschaffen hat, die gleichermaßen aktives In-die-Welt-Eintauchen, Auszeit vom Alltag als auch Pflege einer Tradition ist. Einer Tradition, die nicht mehr weitergegeben wird, weil immer weniger Kinder ihre Eltern und Großeltern noch mit einer Zeitung am Frühstückstisch sitzen sehen.
»Der letzte Zeitungsleser« bringt die Kultur der Zeitungsadepten in einen doppelten Rahmen, gleichermaßen subjektiv wie objektiv. Angeles Überlegungen starten beim eigenen Leseverhalten und reichen bis zu den Erfahrungen und Eindrücken anderer Zeitungssüchtiger. Einziges Manko des Buches mag seine Berlin-Fixierung mitsamt Beurteilung der hauptstädtischen Zeitungslandschaft sein. Nichts desto trotz möchte man aber nach der Lektüre umgehend zur nächsten Zeitung greifen, sich in die Sonne setzen und den süßen Zwiespalt empfinden, den der Genuss des warmen Lichts neben der lockenden Zeitungslektüre auslöst.