Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017, verheißt schon der Titel von Brigitte Kronauers neustem Roman »Der Scheik von Aachen« sowohl eine interessante Lektüre als auch versierte Einbettung in die deutsche Literatur und Geschichte. Doch weder die durchaus überraschende Wahl des Handlungsortes Aachen – der Krönungsstadt deutscher Könige und Kaiser – noch der intertextuelle Verweis auf Wilhelm Hauffs Märchenalmanach »Der Scheik und Alessandria und seine Sklaven« oder das literarische Zusammenspiel von Handlung und Erzählweise können dieser Verheißung ausreichend gerecht werden. Schade, denn Kronauers Wortwitz und komische Bosheiten rücken dadurch in den Hintergrund.
1981 fällt ein Kind vom Baum und verletzt sich dabei tödlich. Dieser tragische Unfall des elfjährigen Wolfgang dient in Brigitte Kronauers Der Scheik von Aachen als immer wiederkehrendes Motiv des Fallens und des Erinnerns. Es wird viel gefallen und auch sich erinnert in diesem Roman, mit dem es die 1940 geborene Büchner-Preisträgerin auf die Shortlist für den Leipziger Buchpreis geschafft hat.
Nicht nur Wolfgang, der Cousin von Anita Janneman, die damals noch jugendliche, jetzt 42-jährige Protagonistin, und Sohn der von Anita gefürchteten Tante Emmi, fällt mit tragischen Folgen. Auch Anitas durchweg absenter Liebhaber Mario Schleifelder, wegen dem sie ihre Karriere an der ETH Zürich aufgibt, um nach Aachen – in das »traute Kaff« – und somit in Tante Emmis Dunstkreis zurückzukehren, verunglückt beim Bergsteigen im Kaukasus tödlich. Auch die anderen Figuren in Anitas kleiner Welt – die mittlerweile alte Tante Emmi, deren scheinbar berechnende polnische Haushälterin Frau Bartosz, der zynische Antiquitätenhändler Herr Marzahn sowie die doppelgängerischen Herren Brammertz – fallen permanent: über die Vergangenheit, in die Untiefen des Lebens und in einen Zustand der Erinnerung.
Gerade der tiefe, unkontrollierbare und oftmals verklärende Sturz in die Erinnerung, der allen Figuren immanent ist, verleiht dem Roman eine gewisse Handlungstiefe, die die Haupterzählung um Anitas Rückkehr nach Aachen für ihre Liebe Mario, den samstäglichen Besuchen bei Tante Emmi, Marios Tod, Marzahns Rettung durch Anita sowie schließlich die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft für Anita und ihre Tante Emmi mit den Herren Brammertz an sich allein nicht zu erzeugen vermag.
Gestützt wird dieser höchst wackelige Plot durch die Erinnerungen der Figuren, etwa Tante Emmis Anekdoten über die Nazizeit in Aachen, über Wolfgangs Tod, über dem lange ein Schleier des Schweigens liegt, der erst langsam gelüftet wird, und über Frau Bartosz’ immer wiederkehrende Reminiszenzen an ihre polnische Heimatstadt Thorn, deren westpreußischer Glanz sich in der stolzen Domstadt Aachen widerspiegelt. Aber auch Teile der Erzählstruktur stützen die Handlung. So ist zum Beispiel Anitas intertextueller Brückenschlag – bezeichnenderweise war Anita in Zürich als »Brückenbauerin« tätig – zu Wilhelm Hauffs spätromantischer Kunstmärchensammlung Der Scheik und Alessandria und seine Sklaven, der 1827 erstmals erschien, eine Bereicherung für die Handlung. Ausflüge in kurze, märchenhafte Erzählepisoden, die Anitas innere Konflikte mit Wolfgangs Tod, ihre Selbstzweifel und ihre romantische Idealisierung Marios zum Ausdruck bringen, sind zentrale Bestandteile ihrer samstäglichen Besuche bei Tante Emmi. Wichtig sind diese Episoden auch deshalb, weil wie bei den anderen Figuren Anitas Gefühle und Gedanken größtenteils nur schwach ausgeleuchtet werden.
Dies erstaunt in zweierlei Hinsicht: einerseits mit Blick auf die tragischen Ereignisse, denen sich Anita immer wieder ausgesetzt sieht, etwa Marios Tod und sein seltsames Vermächtnis an sie in Form seines Tagebuchs sowie der gewalttätige Übergriff auf Marzahn, der dazu beiträgt, dass Anita ihr Leben in Aachen grundlegend ändert. Andererseits mit Blick auf den Erzähler, dessen Stimme zwischen auktorial und personal schwankt. Beide Formen laden geradezu zur Introspektion der Protagonistin ein, nicht nur weil der auktoriale Erzähler allwissend ist und in diesem Falle sogar die Handlung immer wieder kommentiert, sondern weil die personale Form typischerweise eine Tür zu den Gedanken und Gefühlen einer Figur öffnet.
In Kronauers Roman trifft dies jedoch nicht, respektive zu wenig zu. Vielmehr wird der Erzähler beinahe schon aufdringlich, wenn er den Leser in seiner ausschweifendender Art belehrend fragt: »Sie jedoch werden sich mittlerweile gewiss fragen, ob Anita wirklich so kärglichen Umgang mit Menschen hat, eine anziehende Frau im neuerdings schönsten Alter, und dann den Frühling und Vorsommer so zu verschwenden! Ja, begreifen Sie denn nicht, jetzt, wo Sie Anita einigermaßen kennengelernt haben, dass sie die Stille benötigt, damit Marios Bild und sein Aroma nicht verblassen, dass sie die Abwesenheit von irgendwelchen Freunden geradezu benötigt, um Gestalt und Stimme Marios umso zwingender als Solitär strahlen zu lassen?«
Die dominante Erzählstimme sowie die wenig ausgereifte Handlung überlagern Kronauers Wortgewandtheit und ihr Talent für komische Überzogenheiten und lassen die ungewöhnlichen Anlagen des Romans, den selbstironischen Duktus und das tiefere Wissen dieses Werks leider viel zu selten aufblitzen.