An den ersten Tagen der Berlinale wussten zwei ungleiche Frauenpaare zu beeindrucken. In Marcelo Martinessis Drama »Las Herederas« haben sich die in die Jahre gekommenen Freundinnen Chela und Chiquita auseinandergelebt, in Laura Bispuris Sardinien-Mutter-Drama »Figlia Mia« streiten sich zwei gegensätzliche Frauen um ein beeindruckendes junges Mädchen.
In Las Herederas, dem ersten Wettbewerbsbeitrag aus Paraguay in der Geschichte der Berlinale, wird die Geschichte eines in die Jahre gekommenen lesbischen Paares erzählt, das mit sich und den Umständen ihrer wirtschaftlichen Situation zu kämpfen hat. Chela und Chiquita heißen die beiden Frauen, die sich in ihrer Beziehung festgerannt haben. Die Malerin Chela versteckt sich hinter ihrer Freundin Chiquita, die schon mal die Puppen tanzen lässt und die Stricke im gemeinsamen Haushalt beisammenhält. Doch dabei kann sie nicht alles richtig gemacht haben, denn nach und nach verscherbelt sie das Familiensilber ihrer Partnerin, um die Schulden in den Griff zu bekommen. Ein vergebliches Unterfangen, weshalb sie für einige Wochen ins Gefängnis muss. Plötzlich ist Chela auf sich allein gestellt. Sie beginnt, mit dem alten Mercedes ihres Vaters einige vermögende Nachbarinnen zu Pokerabenden, Geburtstagen oder Beerdigungen zu fahren. Mit dem florierenden Taxiservice blüht auch Chela wieder auf. Mehr und mehr nimmt sie ihr Leben wieder in die eigenen Hände. Als die lebensfrohe Agny in ihr Leben tritt, erwachen längst vergessene Gefühle in ihr.
Marcelo Martinessi, der 2016 mit seinem politischen Kurzfilm La Voz Perdida in Venedig ausgezeichnet wurde, dreht diese Geschichte eines Wiedererwachens mit großer Sensibilität. Er lässt seiner Hauptdarstellerin Ana Brun viel Raum, um den eigenen Empfindungen nachzuspüren. Brun wiederum nutzt diese, um ihren Charakter als Kippfigur zu inszenieren. Chela ist eine Suchende, die zwischen Unsicherheit und Entschlossenheit wandelt und ihren Platz in einer Gesellschaft sucht, die sich selbst erst noch finden muss. Ob Chiquita (Margarita Irún) und Agny (Ana Ivanova) Vergangenheit und Zukunft des Landes repräsentieren, ist so gewiss nicht, wie man meinen könnte. Zumindest sind sie aber die beiden Pole, zwischen denen Chela wandelt und an Kontur gewinnt.
Im Gegensatz zu Jayro Bustamantes Drama Ixcanul, mit dem Guatemala 2015 seinen ersten Auftritt auf der Berlinale feierte, konzentriert sich Las Herederas jedoch ganz auf seine Charaktere und lässt die gesellschaftlichen Verhältnisse Paraguays weitgehend außen vor. Einzig bei Chelas Besuchen im Gefängnis und bei ihren Taxifahrten erhält man blitzlichtartig Eindrücke von den sozialen Verwerfungen in dem südamerikanischen Land. Die sind schlussendlich aber nicht so entscheidend für das Gelingen dieses Films, der von Ana Brun in der Hauptrolle getragen wird und die sich damit für einen Berlinale-Bären für die beste weibliche Darstellerin zumindest schon einmal in Position gebracht hat.
Laura Bispuris Wettbewerbsbeitrag Figlia Mia hält gleich drei Schauspielerinnen vor, die für diese Auszeichnung infrage kommen könnten. Da die Darstellerin der Hauptfigur Vittoria (Sara Casu) gerade einmal zehn Jahre alt ist, bleiben mit Alba Rohrwacher und Valeria Golino noch zwei übrig. Rohrwacher verkörpert die exzentrische und zur Selbstzerstörung neigende Angelica, die wie die von Golino verkörperte Tina in einem kleinen Dorf auf Sardinien lebt. Nachts betrinkt sich die am Rande des Dorfes lebende Angelica in der örtlichen Bar und hat mit nahezu jedem Mann aus dem Dorf intimen Umgang. Tina hingegen lebt mit ihrem Mann Bruno und Vittoria unauffällig inmitten der Dorfgemeinschaft. Sie geht regelmäßig in die Kirche und unterstützt Angelica in devoter Haltung, wo sie nur kann. Schnell steht die Frage nach dem tatsächlichen Verhältnis der Frauen im Raum, denn dass da etwas nicht stimmt, wird spätestens ab dem Moment klar, ab dem die beiden Frauen um die Gunst der zehnjährigen Vittoria zu konkurrieren beginnen.
Bispuri nutzt die karge Szenerie der Insel, um den Konflikt der beiden Frauen vor den Augen der Zuschauer auszubreiten. Während die Geselligkeit des Dorfes zur Selbstzerstörung der lebensdurstigen Angelica beiträgt, fühlt sich Tina in der Konstanz der Gemeinschaft aufgehoben. Wo die raue Natur die nach Sicherheit dürstende Tina immer wieder herausfordert, kommt sie der nach Freiheit strebenden Angelica entgegen. Zwischen den beiden Frauen steht die zehnjährige Vittoria, mal schutzsuchend, dann wieder neugierig, loyal ihrer Mutter gegenüber und zugleich eine seltsame Anziehung zu Angelica spürend. Sie fordert beide Frauen heraus.
Figlia Mia wird getragen vom inneren und äußeren Konflikt der beiden Frauen, in dem die möglichen Mutterrollen spiegeln. Während Tina die beschützende Rolle einnimmt, lebt Angelica die herausfordernde Rolle aus. Sowohl Rohrwacher, die bereits für Bispuris Berlinale-Debüt Sworn Virgin vor der Kamera gestanden hat, als auch Golino spielen ihre Rollen mit großer Kraft und Leidenschaft. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Film nicht in den Klischees der gegensätzlich angelegten Figuren versinkt. So wie sie den inneren Kampf mit den eigenen Dämonen von Verlustangst und Schmerz in Szene setzen, geben sie ihren Charakteren Authentizität. Ein starker Auftritt von zwei starken Frauen, ergänzt von einer ganz jungen Schauspielerin, die in ihrem facettenreichen Spiel selbst Ambitionen auf den Bären für die beste weibliche Darstellerin anmelden könnte.
[…] Bär für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet (Alfred-Bauer-Preis) geht an den paraguayischen Film Las Herederas von Marcelo Martinessi, dessen Hauptdarstellerin Ana Brun verdientermaßen auch den Silbernen Bären als beste […]