Allgemein, Zeitgeist

Literaturkritik oder Bookstagram

Die Literaturkritik kämpft gegen die Windmühlen der Wirtschaftlichkeit in einer sich verändernden Medienlandschaft. Sendeplätze, Seiten und Honorare werden gestrichen, die Vielfalt der Kritik gerät in Gefahr. Über den Zusammenhang von Schreiben und Ökonomie.

Im Kulturangebot von HR, WDR und RBB kam es in den vergangen Jahren bereits zu konkreten Einsparungen, im vergangenen Jahr sorgte der BR mit seinem Kultur-Kahlschlag für großes Entsetzen. Der Verband deutscher Schriftsteller*innen sieht den Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender in Gefahr.

Dazu kommt die neue Empfindsamkeit, die in Zeiten der asozialen Medien zu Empörungswellen und persönlichen Angriffen führt. Selbst erfahrene Großkritiker:innen sind davor nicht gefeit, im März 2023 legte der renommierte Kulturkritiker Anthony O. Scott seinen Job bei der New York Times nieder, weil er Opfer der »Cyberwut« wurde, vor der er schon in seinem Bestseller »Kritik üben« gewarnt hat.

Anthony O. Scott: Kritik üben – Die Kunst des feinen Urteils. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Hanser Verlag 2017. 320 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen.

Es braucht aber gar nicht den Rückzug einzelner Kritiker:innen, die Konzerne betreiben den Niedergang der intellektuellen Durchdringung von Kunst, Kultur und Gesellschaft schon selbst. Immer mehr Medienhäuser reduzieren den Platz für Literaturkritik, der öffentlich-rechtliche Raum gilt aller Streichungen zum Trotz noch als Hort der Kultur. Im Printbereich gehen die Sparmaßnahmen schon länger deutlich weiter. Buchbesprechungen, Theater- und Filmkritik bekommen immer weniger Platz, statt tiefer Analysen oder arbeitsintensiver Übersetzungskritik setzen Sender, Zeitungen und Zeitschriften zunehmend auf anlassbezogene Unterhaltung.

Ein solcher Anlass sind die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Konnte man vor Jahren noch in allen überregionalen Zeitungen Beilagen und dicke Buchhefte in den normalen Ausgaben finden, werden die Buchmesse-Bücher immer dünner. Selbst DIE ZEIT, lange Zeit Flaggschiff im Printbetrieb mit einer 46-seitigen Buchmesse-Beilage, strich in diesem Frühjahr die Beilage auf 20 Literaturseiten in der regulären Ausgabe zusammen. Man muss Sparmaßnahmen dahinter vermuten.

Wie fatal die gesamte Entwicklung ist, machte Johannes Franzen kürzlich auf 54Books am Beispiel des Endes des Musikmagazins Pitchfork deutlich. »Schreiben ist eine Tätigkeit, die man eigentlich nur in der konkreten Praxis wirklich lernen kann«, so Franzen. »Je mehr Orte, an denen das stattfindet, zerstört werden, desto mehr verschwindet die Praxis des Kulturjournalismus aus dem öffentlichen Leben. Mit jedem Medium, das untergeht, mit jedem Format, das eingestampft wird, schwinden nicht nur die an sich schon knappen finanziellen Ressourcen, die das öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur möglich machen. Es werden dadurch auch Schulen des Schreibens geschlossen – Bildungsstätten der ästhetischen Erziehung.«

Wolfgang Matz, Alfred-Kerr-Preisträger 2024 | Foto: Thomas Hummitzsch

Das medienübergreifende Sägen an der Literaturkritik wurde bei der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an den Kritiker, Autor und Übersetzer Wolfgang Matz deutlich kritisiert. Selbst der frisch gekürte Preisträger wies unmissverständlich auf die Bedeutung guter Literaturkritik hin. Natürlich sei es hilfreich, von der Kritik gelobt zu werden. Noch besser sei es aber, »kompetent und intelligent gelobt zu werden«, so Matz, der genau dafür ausgezeichnet wurde.

Bei der Preisverleihung wurde aber auch sichtbar, warum die Literaturkritik in Schieflage geraten ist. Sie ist ein Raum, in dem sich überwiegend alte weiße Männer gegenseitig auf die Schulter klopfen. Diese Gruppe hat in der Literaturkritik immer noch einen Standortvorteil, was an der Abhängigkeit von Bildungs- und Berufsbiografien von der sozialen Herkunft liegt. Man muss sich den mühsamen Weg in die Welt der Belesenheit eben auch leisten können.

In diesem Text berücksichtigte Titel

Der Blick, die Auswahl und Kommentierung der etablierten grauhaarigen Männer sortieren den Buchmarkt vor. Deshalb haben es Autoren heute immer noch leichter als Autorinnen. Darum schlägt der Wälzer über die Krise der Männlichkeit den queerfeministischen Essayroman. Das ist der Grund, warum klassisch aufgebaute Werke immer noch mit einer größeren Wahrscheinlichkeit besprochen werden als Bücher mit ungewöhnlichen Herangehensweisen und Perspektiven.

Aber auch das in der Literaturkritik oft verpönte Wort »Gender« (über die Gründe könnte man einen eigenen Artikel schreiben) spielt eine Rolle. Familien- beziehungsweise Care-Arbeit vertragen sich nicht mit dem freigeistigen Schreiben und der Zeit, die es dafür freizuhalten gilt. Kinderlosigkeit und späte Elternschaft sind Markenzeichen der hiesigen Kritikerschaft. Das mag Zufall sein, auffällig ist es dennoch. Vertragen sich Geist und Leben vielleicht nicht? Zumindest scheinen familiäre Verpflichtungen für eine (Medien-)Karriere als sinnierende:r Kritiker:in nicht gerade förderlich.

Kein Wunder also, dass hervorragende Literaturkritikerinnen wie Jutta Person, Marie Schmidt oder Insa Wilke, die zu den neun der seit 1978 mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichneten weiblichen Literaturkritikerinnen gehören, rar gesät sind. Das sah man dann auch im Forum der Unabhängigen Verlage, wo die Preisverleihung an Wolfgang Matz vor einem männlichen und überwiegend grauhaarigen Publikum stattfand.

Dem Klischee der alten weißen Männer setzte in vorauseilendem Gehorsam eine alte weiße Frau die Krone auf. Sigrid Löffler wiederholte sich selbst und bejammerte kurz vor der Leipziger Buchmesse im Deutschlandfunk einmal mehr die »unqualifizierte Kritik aus dem Netz« und lieferte dabei einen weiteren Grund für die Krise. Dass sie dabei entweder nicht in der Lage oder Willens war, eine Online-Kritik von einem genervten Amazon-Kommentar zu unterscheiden, belegt bestenfalls Löfflers narzisstische Selbstbezogenheit, schlimmstenfalls aber die kollektive Selbstverliebtheit einer Branche im Niedergang, die nicht wahrhaben will, was Anthony O. Scott bereits vor Jahren schrieb: »Nostalgie und Handwerksstolz mögen uns noch eine Weile am Leben halten, aber nichts wird wirklich mehr so sein, wie es war. Wir müssen uns anpassen oder untergehen«.

Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen. Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Ruth Keen. Verlag Antje Kunstmann 2016. 240 Seiten. 10,- Euro. Vergriffen

Die Goldenen Zeiten der Literaturkritik sind vorbei, denn neben den Streichungen in Programmen und auf Zeitungsseiten, der männlichen Schlagseite im System und dem unmodernen Narzissmus der Kulturkritik bedroht noch ein anderer Aspekt das Rezensionsgeschäft. Es ernährt gerade noch ein paar feste Redakteure in Sendeanstalten und Medienhäusern, dahinter strampelt eine schwer zu beziffernde Masse an Freien um die Existenz.

Der britische Sachbuchautor Tim Parks schrieb bereits 2014 von einem »drastischen Einbruch der Honorare für freie Journalisten«, die Corona-Pandemie mit all den Einbrüchen im Anzeigenbereich der Zeitungen hat diesen Prozess noch einmal massiv beschleunigt. Was während der Lockdowns als vorübergehende Sparmaßnahme angekündigt wurde, ist nie zurückgenommen worden.

Freie Literaturkritiker:innen können sich mit Honoraren, die im schlimmsten Fall im zweistelligen, im Normalfall im niedrigen dreistelligen und im Ausnahmefall im mittleren dreistelligen Bereich liegen, nicht dauerhaft über Wasser halten. Der Aufwand, den sie in Lektüre, Denk- und Schreibprozess, in Angebot und Auftragsabwicklung stecken, steht schon lange nicht mehr im Verhältnis zum finanziellen Nutzen. Wer das beklagt, stößt auf Gleichgültigkeit (Ghosting als neue Form der verbindlichen Unverbindlichkeit) oder Unverständnis (»Wir müssen halt auch sparen.«).

David Foster Wallace. Der Spaß an der Sache. Alle Essays. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2018. 1.088 Seiten. 36,- Euro. Hier bestellen.

David Foster Wallace schrieb schrieb in »Der Spaß an der Sache« über die Gründe, aus denen Autor:innen schreiben, die nicht wegen des Geldes schreiben. »Es geht um Kunst, und Kunst ist Sinn, und Sinn ist Macht: die Macht, Katzen bunt zu färben, das Chaos zu ordnen, aus der Leere Boden unter den Füßen und aus Schulden Schätze zu machen.« Das war 1988. Seither ist die Medien und Kulturlandschaft einmal auf links gedreht worden. Wallace’ Idealismus wurde von einem Realismus abgelöst, den Karosh Taha in »Brotjobs & Literatur« wie folgt beschreibt: »Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.« Was für die Literatur gilt, gilt für die Kultur der Kritik gleichermaßen.

Kulturjournalismus ist offenbar ein Luxus, den sich die Gesellschaft nicht mehr leisten möchte, schreibt Franzen. Dahinter stehe die meritokratische Ideologie, die im entfesselten Kapitalismus der Gegenwart einen quasi religiösen Status angenommen hat. Die ersten Ungläubigen, auf deren Rücken der Kampf um die Kultur zunächst ausgetragen wird, sind die Freien. Über die Bedingungen zu sprechen, unter denen ihre Texte entstehen, ist ein Tabu.

Der Band »Brotjobs & Literatur«, herausgegeben von Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt und Christoph Wenzel, hat dieses Tabu 2021 für die schriftstellerische Arbeit gebrochen. Darin schreiben 19 Autor:innen über das literarische Schreiben im Prekariat. Vieles, was in diesem Band zur Sprache kommt, ist freien Kritiker:innen vertraut. Das Hadern mit der eigenen Würde, der Stolz der eigenen Widerständigkeit, die Angst vorm Statusverlust, der Zweifel am Modell der Teilzeitkunst. Der Brotjob sichert Miete und Lebensunterhalt, das Schreiben wird zur nebenberuflichen intellektuellen Übung.

Iuditha Balint, Julia Dathe, Kathrin Schadt, Christoph Wenzel (Hg.): Brotjobs & Literatur. Verbrecher Verlag 2021. 240 Seiten. 19,- Euro. Hier bestellen.

Wer nun mit dem Einwand kommt, dass sich hier die Spreu vom Weizen trenne und gute Kritiker:innen auch von ihrer freiberuflichen Tätigkeit leben könnten, der erliegt einem Irrtum. Ein Zusammenhang zwischen Qualität, Auftragslage und Bezahlung ist ebensowenig auszumachen wie der zwischen Seitenzahl eines zu kritisierenden Buchs und dem Honorar einer Kritik. Das Werk von Kritiker:innen wird im Widerspruch zu den ökonomischen Bedingungen geschaffen, die es ermöglichen, wusste schon die einigermaßen vermögende Kritikerin Elizabeth Hardwick anno 1963. »Sich einen Lebensunterhalt zu verdienen ist gar nichts. Die große Schwierigkeit besteht darin, etwas zu sagen, sich abzuheben – mit Worten.«

»Die bürgerliche Kultur bewertet nichts so hoch wie den Bruch mit ihren ökonomischen Prinzipien, solange sie ihn denn noch in einem ökonomischen Sinne bewerten darf und kann«, hält dem Diedrich Diederichsen entgegen. Denn Fakt ist auch, dass die Qualität der Literaturkritik unter den prekären Bedingungen, unter denen sie entsteht, leidet. Wer von ihr nicht leben kann, sucht zwangsläufig nach Alternativen. Die mögen in einer völlig anderen, ablenkenden Haupttätigkeit, im Anpassen des Arbeitsaufwands an die Honorierung, in der Selbstoptimierung, der Mehrfachverwertung oder (perspektivisch?) im Einsatz von KI beim Verfassen eines Textes liegen.

Diedrich Diederichsen: Das 21. Jahrhundert. Essays. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2024. 1.136 Seiten. 58,- Euro. Hier bestellen.

Die Analogie zwischen freien Kritiker:innen und den unabhängigen Verlagen liegt auf der Hand. Beide haben keine rettende Struktur – hier eine Redaktion, dort ein Konzern – in der Hinterhand. Sie sind den strukturellen Veränderungen ohne Netz und doppelten Boden ausgesetzt. Und so wie beim Schwinden der Indieverlage die Bibliodiversität in Gefahr gerät, schwindet mit dem Rückzug freier Literaturkritiker:innen die Vielfalt der Kritik.

Im Zeitalter von Booktok wird das in der Buchbranche aber keinen Aufschrei verursachen. Auch weil nicht alles schlecht ist am Boom der Bookfluencer:innen. Sie sorgen nicht nur für mehr thematische Vielfalt in der Buchbranche, sondern auch für mehr soziale Durchlässigkeit. Allerdings gerät mit ihnen auch die Unabhängigkeit der Kritik als solcher in Gefahr, weil nicht auszuschließen ist, dass sich Bookstagrammer und Booktoker im Kampf um mehr Follower von Verlagen und anderen Akteuren einnehmen lassen. Das von Sigrid Löffler beklagte »allgegenwärtige elektronische Geschnatter« ist dann das geringere Übel. Denn möglicherweise kommt die Literaturkritik dann nur noch künstlich und ohne Geschnatter daher. Medienhäuser experimentieren im Bereich der Literaturkritik längst mit KI, wie man im Branchenmagazin Journalist nachlesen kann.

»Die digitale Kultur ist eine Kultur der Fülle, des Und, und des Mehr«, schreibt Scott am Ende von »Kritik üben«. Zugleich gebe es aber nur begrenzte Zeit, begrenztes Geld und begrenzten kognitiven Raum. »Wir könnten etwas Hilfe gebrauchen, um davon weisen Gebrauch zu machen.«