Film, InSzeniert

Berlinale Bites: Eine ganz normale Parallelwelt

Die Chinesen sind da. Mit Lou Yes »Tui Na« ist der erste von drei Wettbewerbsbeiträgen aus dem Reich der Mitte gestartet. Er bietet Einblicke in den Alltag einer Massagepraxis für Blinde.

Wenn einer unserer Sinne getrübt ist, führt das automatisch zur Stärkung aller anderen Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten. Die Angestellten in der Massagepraxis von Sha Fuming (Qin Hao) und Zhang Zongqui (Wang Zhihua) haben alle besonders ausgeprägte Geruchs- und Geschmacks-, Tast- und Spürsinne und sind empfänglicher als andere für Schwingungen und Atmosphären. Denn sie sind blind, seit ihrer Geburt oder im Laufe der Jahre geworden. Mit ihrer Anstellung als therapeutische Masseure bekommen sie die einzige Chance, ihr Leben selbst zu gestalten.

Die Angestellten der Massagepraxis teilen nicht nur den Arbeitsplatz, sondern auch den Wohnraum. Als Zweckgemeinschaft leben sie gemeinsam in den Hinterzimmern des Massagesalons und verbringen die Zeit miteinander. Eine überaus pragmatische Lösung, um sicherzustellen, dass man nicht an die falschen Menschen gerät. Schließlich kann man niemandem vertrauensvoll in die Augen schauen.

Zu dieser Zweckgemeinschaft gehört der in sich gekehrte, jugendlich verwirrte Xiao Ma (Huang Xuan), der bei einem Autounfall sein Augenlicht verloren hat und seither darauf wartet, dass es zurückkommt. Oder der lebensfrohe Jin Yang (Jiang Dan), der seine Sehkraft bei einer Explosion in einem Bergwerk eingebüßt hat und seine Mitbewohner als Entertainer bei Laune hält. Du Hong (Mei Ting) leidet unter ihrer Schönheit, die sie selbst nicht wahrnehmen und zugleich zum Objekt von Neid und Begierde macht. Doctor Wang (Guo Xiaodong) und seine Geliebte Kong (Zhang Lei) suchen anfangs nur Aufnahme und werden dann schnell auf eine Probe gestellt.

© Travis Wei

Das Leben der Gemeinschaft ist geprägt von einem recht gewöhnlichen Alltag, gespickt mit Höhepunkten von Freundschaft, Loyalität, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Wut und Trauer. Tui Na macht uns darauf aufmerksam, dass die Sinne in dieser vermeintlich unbekannten Parallelwelt anders justiert und geschärft sind, als wir das kennen.

Der erste chinesische Wettbewerbsbeitrag lässt sich als visuelle Parabel auf die Weisheit des Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry deuten, wonach man nur mit dem Herzen gut sieht und die wesentlichen Dinge für die Augen ohnehin unsichtbar bleiben. Im Film wird diese Erkenntnis nahezu eins zu eins übersetzt. »Durch die Blindheit sehe ich manche Dinge besser als zuvor«, sagt Jin Yang zu Ma.

Eine Parität zwischen Sehenden und Blinden herrscht deshalb noch lange nicht. Schon gar nicht in China, wo jedes Handicap direkt zur Armut führen kann. Lou Ye klammert diese Dimension aus seinem Film aus. Was ihm aber gelingt, ist die Vermittlung der auf die Blinden von allen Seiten einströmenden Sinneseindrücke in einer dunklen Welt, insbesondere der Geräuschkulisse durch eine drängende, auf die Haut rückende Tonspur. Das tastende, immer wieder suchende blinde Auge ersetzt Zeng Jian mit seiner unsteten, nach Schärfe und Licht suchenden Kameraführung.

Dennoch muss die Welt, in der sich Blinde bewegen, rätselhaft bleiben. Weil zwischen Blinden und Sehenden eine unsichtbare Mauer steht, heißt es im Film. Warum diese Mauer? Weil die »Normalen« die Blinden sehen können, die Blinden die »Normalen« aber nicht. Das führe dazu, dass die Blinden lieber unter sich bleiben, erklärt eine Stimme aus dem Off in Tui Na. Und weiter: »Das Verhalten von Blinden gegenüber Sehenden ist wie das der Normalen zu Geistern: respektvoll aber distanziert.« Lou Yes Wettbewerbsbeitrag lässt uns aus unserer Geisterwelt in die Normalität der Blinden blicken. Eine interessante Perspektive.

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