Artbooks, Comic

Eine Verneigung vor 25 Jahren Avantgarde

Der prächtige und voluminöse Jubiläumsband »Twenty-Five years of contemporary cartooning, comics, and graphic novels« lässt die einmalige Erfolgsgeschichte des kanadischen Verlags »Drawn and Quarterly« informativ, vielfältig und kunstvoll nachvollziehen.

Art Spiegelman, Kate Beaton, Chris Ware, Mimi Pond, Joe Sacco, Sarah Glidden, Chester Brown, Tove Jannson, Daniel Clowes, Mariko Tamaki, Adrian Tomine, Lynda Barry, Brecht Vandenbroucke, Julie Doucet, Jason Lutes, Jessica Campbell, Guy Delisle, Gabrielle Bell, Lewis Trondheim, Shigeru Mizuki, Gilbert Hernandez, Rutu Modan, Joe Matt, Michael DeForge, Geneviève Castrée, Anders Nilsen, Jillian Tamaki, Brecht Evens, Vanessa Davis, Seth… man könnte diese Liste noch um unzählige Granden der Neunten Kunst fortsetzen. Sie alle verbindet eine Geschichte, die sie gemeinsam geschrieben haben. Es ist die Geschichte von Drawn and Quarterly (Kurzform: D+Q), einem der, wenn nicht sogar dem einflussreichsten nordamerikanischen Verlag der letzten 25 Jahre, wenn es um die Independent-, Alternativ- und Minicomic-Szene sowie die Revolution der Neunten Kunst geht. Zahlreiche Preise pflastern den Weg des Verlags, unzählige Lobeshymnen sind über seine Autoren gesungen worden. Als das New York Times Magazine anno 2004 eine Story über das Genre der »Graphic Novel« veröffentlichte, rief die Redaktion folgerichtig auch nicht bei den großen US-amerikanischen Comicverlagen an, sondern bei D+Q in Montreal, um mit Chester Brown (der die Titelseite gestaltete), Adrian Tomine, Art Spiegelman, Seth und Joe Sacco gleich fünf Autoren des Verlags in die Ausgabe zu heben (hier der komplette Beitrag). Zwischen 2006 und 2008 gewann der Verlag gleich dreimal den kanadischen Joe Shuster Award als Bester Comicverlag.

Anfang Mai feierte der kanadische Verlag sein 25-jähriges Jubiläum im heimatlichen Montreal, der Abend war – wen wundert es bei der obigen Autorenliste – ein Get-Together des Who-is-Who der nordamerikanischen Alternativcomicszene. Er war aber auch einem Abschied gewidmet, denn Chris Oliveros, ehemaliger Fahrradkurier und Gründer des Verlags, will sich mindestens vorübergehend aus der Verlagsführung zurückziehen, um den eigenen zeichnerischen Ambitionen nachzugehen. Die bei dieser Feier präsentierte 800-seitige (!) Anthologie in Farbe mit zahlreichen Originalzeichnungen und Titelbildern fast aller D+Q-Autoren, mit exklusiven Reprints sowie einigen Erstveröffentlichungen, hunderten Fotos von Veranstaltungen, Messeauftritten und Autorenreisen, Erinnerungen in Wort und Bild von Wegbegleitern und Freunden sowie Porträts und Werkeinführungen von fast allen der eingangs genannten Comickünstler ist somit nicht nur als beeindruckende Verlagsbiografie zu lesen, sondern zugleich auch als Vermächtnis des 48-Jährigen anzusehen, der von seinen Autoren nur liebevoll »The Chief« genannt wird. Oliveros hat die Geschäfte in sichere Hände übergeben. Die bisherige zweite Herausgeberin Peggy Burns, die im Jahr 2000 von DC Comics zu D+Q wechselte, und ihr Ehemann Tom Devlin, der fast ebenso lang als Art Director den Titeln des Verlags den edlen Anstrich gibt, werden künftig den Verlag führen.

Oliveros, Burns und Devlin sind auch die Magneten im Zentrum des Verlags, die seit Jahren die kreative Vielfalt und stilistische Varianz ihrer Autoren zusammenhalten. Die Geschichte des Verlags liest sich wie eine Vorlage für die des 1991 gegründeten Reprodukt-Verlags; und der Einfluss von D+Q auf Reprodukt-Gründer Dirk Rehm war erheblich, wie dieser unlängst erklärte. Am Anfang steht ein visionärer und mutiger Comicenthusiast, der einen Verlag gründet und mit stetiger Arbeit mehr und mehr Autoren anzieht. Nach etwas einem Jahrzehnt am Markt holen beide eine Expertin für das Marketing und einen Art Director beziehungsweise Cheflektor hinzu. Mit jedem weiteren Jahr wachsen die Verlage als Autorenverlage weiter und werden zu den Motoren des Aufstiegs der Neunten Kunst. Beide mussten schon in so manchen Abgrund schauen, vom Markt wegzudenken sind sie – auch aufgrund der großen Schnittmenge graoßartiger Autoren – aber nicht mehr.

Drawn & Quarterly Magazine #1

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Drawn & Quarterly

Während Reprodukt in Deutschland von Anfang an eine Solitärstellung innehatte, hatte D+Q auf dem nordamerikanischen Kontinent mit Fantagraphics Books einen ernstzunehmenden Konkurrenten. Die Konkurrenz hat sich als gegenseitige Ergänzung erwiesen, beide Verlage koexistieren einträglich, teilen sich sogar viele Autoren. Die formaleren Werke erscheinen in dem kanadischen Verlag, die mit Underground-Anstrich bei dem in Seattle angesiedelten Verlag.

Alles begann im April 1990 mit einem 32-seitigen Schwarz-Weiß-Magazin mit Farbtitel namens Drawn & Quarterly, das sich zwischen Art Spiegelmans RAW-Magazin und Robert Crumbs Weirdo-Comicanthologie verortete. Im Namen des Magazins versteckte der damals 23-jährige Oliveros den geplanten Erscheinungsrhythmus. Der Anfang war alles andere als ideal, ein Druckproblem führte zum verspäteten Erscheinen der ersten Nummer. Die hatte es dann aber in sich. Joe Matt, Peter Bagge, Robert Leighton und J. D. King gehörten zu den Autoren der ersten Ausgabe, von der 7.000 Exemplare gedruckt wurden. Das Titelbild, gestaltet von Anne D. Bernstein, zeigt eine gestresste Zeichnerin, die sich in einer Denkblase über die fehlende innere Ruhe beklagt. »Can’t work! To many distractions!«.

Von »Distractions« spricht auch ein in die Jahre gekommener Comiczeichner in James Sturms’ Beitrag The Sponsor, der als einer von vielen Exklusivbeiträge in dem Geburtstagsfolianten erstmals in voller Länge gedruckt ist. Als ihm der mäßig erfolgreiche Nachwuchscomiczeichner Casey sein Leid klagt, dass sich niemand für seine Online-Comics interessiere, entgegnet er ihm »Your’re a good cartoonist, Casey. This online crap is just a distraction. Can you imagine Crumb worrying about how many hits he got?«

Ein Satz, der auch für D+Q stehen könnte, denn Klicks und Onlineabrufe sind der schlechteste Ratgeber, wenn es um Kunst geht. Oliveros ging es nie um die Sensation, gerade das hat Verlag und Magazin zur Heimat zahlreicher Aufsehen erregender Künstler gemacht. Schon an der zweiten und dritten Ausgabe seiner Comicanthologie wirkten mit Joe Matt und Seth Zeichner mit, deren Arbeiten zu dem Besten gehören, was die Neunte Kunst hervorbringen kann. Oliveros Anliegen bestand aber auch darin, die Neunte Kunst aus der Ecke der Klischees zwischen Superhelden und Underground herauszuholen sowie eine Emanzipation des Genres durch die Hinwendung zu Zeichnerinnen herbeizuführen. Kein Zufall also, dass schon im Oktober 1990 Julie Doucets feministische Minicomic-Serie Dirty Plotte in Oliveros’ Verlag erschien. Im folgenden Jahr stoßen Seth mit Palookaville und Chester Brown mit Yummy Fur zum Verlag, 1992 folgt Joe Matts Peepshow. Doucet, Seth, Brown und Matt bilden das Zentrum der D+Q-Zeichner, die mit ihren Arbeiten wesentlich zum Erfolg des Verlags im ersten Jahrzehnt seines Bestehens beitrugen. Nicht zu vergessen Adriane Tomine mit seinen großartigen Optic Nerve-Minicomics sowie später Daniel Clowes, dessen Spätwerke Wilson und The Death-Ray bei D+Q erschienen sind. Mit ihren und den Werken zahlreicher anderer Autoren etablierten sich fiktionale Geschichten im Herzen des Verlagsprogramms. Oliveros hat dem ambitionierten Stil dieser und andere Zeichner eine verlegerische Heimat gegeben.

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