Einmal mehr scheint das österreichische Wunderkind Clemens J. Setz einer der Favoriten auf den Deutschen Buchpreis zu sein. Sein neuer Roman ist ein grenzenloses Spiel mit den Ebenen, ein sprachliches Meisterwerk und eine Lehre der Weltanschauung, in der alles mit allem zusammenhängt. »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« ist eine »Grazwurzelrevolution« der Literatur.
»Folgen Sie diesem Heißluftballon!« Mit diesem Aufforderungssatz beginnt der neue Roman von Clemens J. Setz, Österreichs aufregendstem zeitgenössischen Schriftsteller. Zwar gilt diese Aufforderung nicht in erster Linie dem Leser, sondern einem mit der Ansage hilflos überforderten Taxifahrer, verschiebt man aber ein wenig die Ebenen – für Setz-Romane durchaus nicht üblich –, dann gilt der Satz auch den Lesenden. Denn sie steigen mit ihm ein in den Kopf der kaum dreißigjährigen Behindertenpflegerin Natalie Reinegger und werden auf fulminant verwirrenden eintausendundneunzehn Seiten lernen, die Welt so zu sehen, wie sie die junge Frau sieht. Eine Welt, in der es »aurig« und »ummich« zugeht, in der unsichtbare Tiere auf Schultern sitzen oder durch die Wohnung flitzen, in der Gespräche nicht kohärent verlaufen – bei Setz erhalten diese sprunghaft-assoziativen Dialoge die Bezeichnung nonseq, nicht nonsens, weil sie doch einen Sinn haben, den nach und nach zu erforschen eine faszinierende Selbsterfahrung ist – und in der das Internet »immer mit dem vollen Mund« zu den Protagonisten spricht, nonseq natürlich.
Es ist eine irgendwie schräge Wahrnehmung allen Seins, das Natalie Reinegger umtreibt. Da wirken rote Augenränder irgendwie roh, wie »frisch geschlüpfte Papageien« und Herzen sehen aus wie »ausgebrannte Telefonzellen«, schwarz und verkleistert. Wer Setz’ Facebook- oder Twitter-Profil aufmerksam verfolgt, wurdert sich nicht über derlei skurrile Metaphern. Denn er hat nicht nur einen Hang zum Absurden, Obskuren, Hässlichen und Bedrohlichen, sondern auch eine Lust an der Sprache, die selbst unter Literaten selten geworden ist. Seine literarische Sprache verlangt keine Konformität im herkömmlichen Sinne, sondern bedeutungsschwere Passgenauigkeit, nimmt sich selbst im wahrsten Sinne beim Wort, ohne dabei die gewöhnlichen semantischen Grenzen zu beachten.
Diese Passgenauigkeit fern der Alltagssemantik prägt auch die Sprache des Romans und damit die der epileptischen, und vielleicht deshalb so sphärisch-sensiblen, Heldin und Erzählerin. Wenn man ihren Blick auf die Welt beschreiben müsste, würde es Adjektive hageln. Umstandswörter wie hypersensitiv, allumfassend, sprunghaft, wahnwitzig, kontrafaktisch, detailversessen, nerdig, queer, weltaufsaugend, assoziativ, futuristisch, sinnsuchend, sex- und abenteuersüchtig … das alles trifft zu und reicht doch nicht aus, um zu beschreiben, wie besonders die Pflegerin ihre Umwelt betrachtet und auf sich wirken lässt. Die Welt ist ihr im selben Moment zu viel und nicht genug, Last und Lust, der größte Witz und das tiefste Alles. Ihre Sinnsuche ist eine Weltflucht, für die sie bis zum äußersten zu gehen bereit ist. Setz Roman ist eine Art sinn- und synästhetische Wahrnehmung der Welt aus Sicht der Natalie Reinegger, in der Alles mit Allem in Verbindung steht und die Welt zu singen anhebt. Ebenen und Register gibt es in diesem unablässigen Stream of Consciousness der heimlich-unheimlichen Heldin dieses Romans, der keiner ist, nicht mehr. Wie bei einem Dominoeffekt führen selbst die kleinsten Ereignisse in dieser Erzählung zwischen Alltagsflucht, Onlinewahn und Kybernetik zu großen Effekten.
Aber stopp, hier ist ein Fehler unterlaufen, denn der Stream of Consciousness ist kein echter, sondern nur ein vermeintlicher. Wie eine optische Täuschung, ein Knick in der Wirklichkeit. Die Erzählperspektive des Romans ist keine echte Innenperspektive, kein unablässiger Gedankenstrom, sondern vielmehr die Fahrt einer Helmkamera, die ihren Fokus mal nach vorn und dann wieder nach unten, unter den Helm bis unter die Kopfdecke, richtet. Der Erzähler sitzt wie ein Hofnarr auf den Schultern der Heldin, hält die Kamera in den Händen und filmt, was sie sieht und erlebt. Oder er kriecht durch ihr Ohr in den Schädel, filmt ihre Gedanken oder aus ihren Augen heraus das, was sich ihrem Blick bietet. Und wir Lesenden sitzen im Kino, sehen seinen Film und vergessen dabei seine Existenz.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre kann schon jetzt als der superlativierteste Roman des Bücherherbsts bezeichnet werden. Noch nicht einmal eine Woche in den Buchhandlungen haben ihn alle großen Feuilletons besprochen. Die Welt sprach vom »wahnsinnigsten Roman des Jahres«, die FAZ von der »Zumutung« einer »tausendseitigen synästhetischen Gehirnmassage«, die taz von einer »faszinierenden Zumutung«, die Zeit von einem »Kultroman«, der Spiegel von der Fortschreibung seiner »Ästhetik des Unheimlichen« und der österreichische Standard »die Abwege dieser exzentrischen Wahrnehmung zu einem einnehmenden, glaubwürdigen und nicht zuletzt faszinierenden Horizont verschmelzen«.
Entstanden ist der Roman im Wesentlichen vor zwei Jahren, im Jahr des Erscheinens von Indigo. Setz war damals schwer erkrankt und körperlich geschwächt, wie er beim 15. Internationalen Literaturfestival in Berlin im Gespräch mit Zeit-Kritikerin Iris Radisch berichtete. Er habe nicht mehr als zwei Stunden pro Tag Kraft zum Schreiben gefunden. Zum Herumschleppen von Laptops sowieso nicht, weshalb er das komplette Buch auf einem iPad mit Bluetooth-Tastatur geschrieben habe. Diese habe ihm das schnelle Schreiben erleichtert. »Das sind so cembaloartige, butterweiche Bewegungen, da kann man so schnell schreiben, wie man denken kann.«
Der Gedanke, dass ihm dieses schnelle Spiegeln des Inneren auch manchmal Fallen stellt, habe ihn schon so manches Mal beschlichen. Er habe sich dann gefragt, wie viele und welche synästhetischen Wortspiele er eigentlich in erzählende Prosa einbauen kann, ohne den Leser zu verlieren. Auf fast jeder Seite kann man Beispiele dafür finden, bei denen der Text auf Lautsprache, kulturelles Wissen oder assoziative Brücken rekurriert. Über diese Stellen kann man nicht einfach hinweglesen, sondern man muss ihnen nachspüren und Raum geben, um sie ihre Wirkung entfalten zu lassen. Setz‘ Lesung aus seinem Buch machte dies deutlich. Immer wieder hielt er inne und erklärte, was er sich bei dieser oder jenen Phrase gedacht habe und was ihn immer noch daran bewegt. Wenn man etwas aus dieser Lesung mitnehmen kann, dann die Erkenntnis, dass man die eigene Lektüre immer mal unterbrechen sollte, um Metaphern wie dem akustischen Signal der schrumpfenden Mario Brothers nachzuspüren. In ihnen ruhen Witz und Ironie des Romans.
Setz, der es mit seinem neuen Roman zum dritten Mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat (und nach den Shortlist-Nominierungen für Indigo und Die Frequenzen mit Die Stunde zwischen Frau und Gitarre wohl auch einer der diesjährigen sechs Shortlist-Kandidaten sein wird), sprach auch über seinen Platz in der traditionell avantgardistischen Grazer Literatur (Alfred Kolleritsch, Gerhard Roth, Peter Handke). Die Tradition der Grazer Literaten bestehe ja eher in der Ablehnung der Tradition, deshalb habe er nun ein richtig dickes Buch geschrieben, »weil das niemand in Graz macht“.
Graz als Ort des Schreibens spielt augenscheinlich auch eine Rolle für sein ständiges Wandeln zwischen Realität und Imagination, irdischen Abgründen und post-humanen Sci-Fi-Himmeln. »Nirgendwo ist es so real wie in Graz«, sagte er zu Beginn, deshalb spielen seine Romane auch alle in einem Grazer Setting. Vielleicht muss man seine Literatur ja als »Grazwurzelrevolution« lesen – weil er nicht nur Grandioses und Bewundernswertes zu bieten hat, sondern auch viel Hässliches und Abstoßendes, von dem man besser nicht gelesen hätte. Diese Zumutung ist der Setz’schen Prosa eingeschrieben. Und das ist gut so, ist man geneigt umgehend zu replizieren, denn genau diese Konfrontation mit dem Unausweichlichen, dem Extremen, dem Drastischen gehört zu den Qualitäten seines Werks und bewog die Jury des Leipziger Buchpreises, seine Erzählungen Die Liebe zur Zeit des Mahlständer Kindes 2011 auszuzeichnen.
Die Gelegenheitscruiserin Natalie Reinegger (ihre abendlichen Stelldichein-Ausflüge benennt sie mit dem hündischen Begriff »Streunereien«) trifft in diesem Roman auf den homosexuellen Alexander Dorm, der an den Rollstuhl gefesselt ist, und Dr. Christopher Hollberger, der Dorm mindestens einmal in der Woche besucht, weil das diesen glücklich mache, wie er ihr selbst sagt. Die Verbindung beider ist aber von einer Befremdlichkeit, gegen die Natalie Reineggers Blick auf die Welt ein Kinderspiel ist. Denn Dorm ist ein Stalker vor dem Herrn, er hat Hollberger jahrelang verfolgt und dessen Frau erst in den Wahnsinn und dann in den Selbstmord getrieben. Der Romantitel bezieht sich auf eine Aussage von Dorm, für den Frauen- und Gitarrenkörper ein- und dasselbe sind. Der Gedanke an Le Violon d’Ingres von Man Ray und die unzähigen Nachahmungen, auf die man im Netz stößt, liegt nahe.
Was Natalie, Dorm und Hollberger verbindet, ist mit Intrige ebenso wenig beschrieben wie mit Selbsthass. Sie sind Komplizen im Ansinnen, der Welt zu entfliehen, indem sie sich ihrer Logik verweigern und eine neue, eine nonseq-Weltsystematik gründen, in der »sich Worte wie Fühler in die Zukunft strecken und ins Leere greifen«. In seiner Lobrede auf den Japaner Haruki Murakami anlässlich der Verleihung des Welt-Literaturpreises sagte Setz, dass Liebe bedeute, »freiwillig eine Parallelwelt zu teilen«. In dem Sinne ist es keineswegs Liebe, die Natalie, Alexander und Christopher verbindet, aber sie teilen gemeinsam das Wissen, in einer Parallelwelt besser zurecht zu kommen. Es gibt eben »mehr Dinge zwischen Mensch und Mensch als zwischen Himmel und Hölle«, wie Natalie an einer Stelle süffisant bemerkt.
Seine Figuren seien wie Liebesbriefe im falschen Jahrhundert, die an niemanden mehr adressiert sind und dennoch einen Leser finden, sagte Setz in Berlin. Überträgt man die Bedeutung dieser Liebesbriefe auf die Kommunikation im Allgemeinen, stellen sich einige fragen: Gibt es im Internetzeitalter überhaupt fehlgeleitete Kommunikation, und wenn ja, wo landet sie? Was macht sie dort, wo sie landet, und weshalb kann sie an dieser Stelle, obwohl sie dort nicht hingehörte, dennoch wahre Wunder wirken? All das sind Fragen, die Setz in seinem neuen Roman zwischen den feinsinnigen Anspielungen auf von ihm geschätzte Autoren wie Stephen King, John Updike oder Haruki Murakami immer wieder aufwirft und mit denen er bei den Lesenden eine Lust am Sinnieren und Weiterspinnen weckt.
Wie nennt man ein solches Projekt, in dem es kein Einzelnes gibt, das die Welt im Innersten zusammenhält, sondern Alles dazu beiträgt, dass nichts vereinzelt? Kühn? Bahnbrechend? Größenwahnsinnig? Aussichtslos? Setz ist das egal. Er wollte mit seinem Roman einmal all dem Raum geben, »was in einem einzelnen Kopf abgeht«. Dass das unweigerlich zu Brüchen und Gräben führt, nimmt er freiwillig mit, die Literatur entstehe ohnehin im Kopf eines jeden Lesers neu. Einen Allgemeinanspruch verfolgt er nicht. »Nur, weil etwas aussichtslos ist, heißt das nicht, dass es sinnlos ist, auch nicht auf eintausend Seiten.« Diese stehen nun zur Eroberung bereit. Das mag herausfordernd, uferlos und manchmal auch ermüdend sein, aber niemals sinnlos. »Folgen Sie diesem Heißluftballon!«
Zur Unterstützung des Interessierten Lesers hat Dr. Guido Graf von der Universität Hildesheim erneut ein Social-Reading-Projekt gestartet, an dem der Autor mitwirken wird. Unter www.frau-und-gitarre.de werden Kritiker und Kulturschaffende gemeinsam mit Setz dessen neuen Roman online lesen und kommentieren, ähnlich wie das schon bei David Foster Wallace’ Kultroman Unendlicher Spaß der Fall war. Wer also tiefer eintauchen möchte in Clemens J. Setz‘ neuen Roman und die Reflektionen und Assoziationen außerhalb der Buchdeckel, der sollte das Projekt, das Mitte September starten wird, verfolgen.
[…] wie ein neuer Riss im Universum anfühlt«. Den »akustischen Mindfuck«, den dieses Musikstück in clemenssetzhafter Manier bei seinen Hörern hervorruft, hat Jillian Tamaki in solch spektakuläre Bildwelten übertragen, […]
[…] eher Parallelen zu den Dystopien von Dietmar Dath und der Entrückung der Welt, wie sie einem in Clemens J. Setz Romanen […]
[…] mit Clemens J. Setz und seinem neuen Roman »Monde vor der Landung« ein alter Bekannter nominiert. Der Büchner-Preisträger Setz erhielt 2011 für seine schaurig-schönen Erzählungen in »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter […]
[…] »Grazwurzelrevolution« mit Heißluftballon […]
[…] »Grazwurzelrevolution« mit Heißluftballon […]