Birgit Weyhe erzählt in dem preisgekrönten Comic »Madgermanes« die verdrängte Geschichte der etwa 20.000 mosambikanischen Gastarbeiter in der DDR und lässt dabei die Bilder tanzen. Ein Meisterwerk.
Die DDR hat ihre eigene Gastarbeiter-Geschichte. Was der Bundesrepublik die italienischen, griechischen und türkischen Arbeitskräfte waren, waren in der sozialistischen Republik die Vietnamesen und Mosambikaner. Zu tausenden kamen sie in den ostdeutschen Staat, im Gepäck das Versprechen, im sozialistischen Bruderstaat mit offenen Armen empfangen zu werden, eine Fachausbildung zu erhalten oder vielleicht sogar studieren zu können. Ein leeres Versprechen, wie sich in den allermeisten Fällen herausstellen sollte. Nach der Wende wurde dieses unschöne Kapitel fehlender Bruderliebe eilfertig unter den Teppich gekehrt. In der umgehend aufkeimenden und grassierenden Fremdenfeindlichkeit wurde der kolonial-rassistische Habitus bewahrt.
Die in München geborene und in Ostafrika aufgewachsene Comiczeichnerin Birgit Weyhe erzählt die verdrängte Geschichte der Mosambikaner, die in den achtziger Jahren in der DDR gelebt und gearbeitet haben, in dem Comic Madgermanes. Der Titel spielt auf die Verballhornung von »Made in Germany« an, mit der die Vertragsarbeiter nach der Wende von ihren Landsleuten beschimpft wurden, als sie ohne die erwarteten Reichtümer und Potenziale in ihre Heimat zurückkehrten.
Weyhe lässt die Geschichte der Madgermanes von drei fiktiven Figuren erzählen, in deren Berichte all die Fakten und Details eingeflossen sind, die sie bei ihren Recherchen und in zahlreichen Gesprächen gesammelt hat. Das erinnert an die Vorgehensweise von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die in der Montage von aufgeschnappten Erzählungen und historischen Fakten Meisterwerke der aufklärenden Literatur geschaffen hat.
Einer der Protagonisten ist der sensible Kulturliebhaber José, der Ende 1981 nach Berlin kam. Im Wohnheim lernt er den fidelen Lebemann Basilio kennen, der wie er als Teil der landeseigenen Elite von Mosambiks Präsident Samora Machel in die DDR geschickt worden war, um als Lehrer, Anwalt, Arzt oder Ingenieur zurückzukommen. Zu ihnen stößt später Anabella, die für die Hoffnung auf ein besseres Leben alles auf eine Karte setzt. Statt in einer Fachhochschule oder Universität zu lernen, werden diese drei Madgermanes in die DDR-Betriebe eingegliedert. Der eine wird Gleisbauarbeiter, der zweite Maurer, die dritte stellt (ausgerechnet) Wärmflaschen her.
José und Basilio ziehen durch die Kneipen Berlins, bis es José zu bunt wird und er sich in die Bibliotheken und Kinosäle zurückzieht, um sich linientreu der Kultur seines Gastlandes hinzugeben. Nach drei Jahren lernt er Anabella kennen, die mit einem neuen Schwung angeworbener mosambikanischer Arbeitskräfte in die DDR kam. Sie verlieben sich, doch nach einer unbestimmten Zeit kommt es zur Trennung, an der auch Basilio seinen Anteil hat. José lässt sich erst versetzen, nach der Wende kehrt er in seine Heimat zurück.
Basilio hat in seinen Jahren in der DDR vor allem das Leben und die Liebe genossen. Nach einigen Affären lernt er Trudi kennen, mit der er eine Familie gründet und nach Hoyerswerda zieht. Doch als es zu den gewaltsamen fremdenfeindlichen Übergriffen in der Stadt kommt, packt ihn die Angst und er läuft davon. Über Umwege kehrt er zurück in seine Heimat, in der der Weitgereiste zum Objekt von Neid und Missgunst wird. Von der Regierung und seinen Landsleuten im Stich gelassen und an den Rand gedrängt wird Basilio zum politischen Akteur. »Armut ist wie eine Bestie… kämpfst du nicht, so wirst du gefressen!«
Anabellas Bericht schließt den Comic ab und wühlt als Emanzipationsgeschichte noch einmal all das auf, was man bislang von José und Basilio erfahren hat. Mit ihren Worten erhält die Geschichte der Trennung von José eine völlig neue Wendung, die die Ausbeutung der Vertragsarbeiter durch die DDR vollends einen neokolonialistischen Touch gibt. Denn in ihrer Geschichte geht es nicht nur um die wirtschaftliche Ausbeutung der Mosambikaner und den unterschwelligen Alltagsrassismus in der DDR, sondern es geht vor allem um die Selbstbestimmung über den eigenen (schwarzen) Körper – erst in Mosambik, dann in der DDR. Es ist auch die gewaltvollste Geschichte, in der die verhängnisvollen Geschehnisse in der Volksrepublik Mosambik am stärksten zutage treten. Anabella ist die einzige der drei Figuren, die nicht gescheitert ist. Zugleich hat sie den höchsten Preis dafür gezahlt, um in Deutschland zu bleiben und ihren Traum, Ärztin zu werden, zu verwirklichen. Gewissermaßen ist sie die stille Heldin dieser tragischen Geschichte, über der sie am Ende schwebt, weil sie ihr Schicksal in die Hände genommen und der Fügung wie Phoenix aus der Asche entkommen ist.
Madgermanes bereitet thematisch das Terrain für zwei Comics, die auf dem letztjährigen Internationalen Literaturfestival Berlin vorgestellt wurden. Dabei handelt es sich um einen Doppelalbum zu den Lebenswirklichkeiten in Nigeria, das im Rahmen eines Projekts des Goethe-Instituts entstanden ist und die afrikanische Comickunst fördern soll. Nigerianische und deutsche Künstler haben gemeinsam an den beiden Comics gearbeitet. In der Geschichte German Calendar von Birgit Weyhe und Sylvia Ofili sei eine klassische Coming-of-Age-Erzählung, der Comic Imagined Realities von Elnathan John und Laolo Senbajo erzählt von einem jungen Mann, der seinen Weg in einer Gesellschaft voller Doppelstandards sucht. Die Ästhetik der Bilder, die beim ILB gezeigt wurden, waren überaus vielversprechend.
Weyhes neuer Comic kommt mit einigen (Vorschuss)Lorbeeren in die Buchhandlungen. Im vergangenen Jahr erhielt ein Auszug der Geschichte den erstmals vergebenen Comic-Buchpreis der Berthold Leibinger Stiftung. Der mit 15.000 Euro dotierte Preis wird jährlich »für einen hervorragenden, unveröffentlichten, deutschsprachigen Comic vergeben, dessen Fertigstellung absehbar ist.« Kurz nach der Buchpremiere wurde Madgermanes als bester deutscher Comic beim Comicfestival in Erlangen ausgezeichnet.
Tatsächlich hätte man keine bessere Wahl treffen können, denn Birgit Weyhe hat für diese universelle Geschichte der Suche nach Herkunft und Identität eine sensationell treffende Bildsprache gefunden. Darin führt sie die traditionelle afrikanische Kunst mit dem naiven Realismus der kommunistischen Ikonografie zusammen und arrangiert die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt ihrer Protagonisten sowie den Kunst- und Naturkosmos ihrer Umwelt zu einem wilden rhythmischen Tanz. Das wohlgeordnete Chaos aus quasikommunistischen Tableaus, detaillierten Naturimpressionen, Werk- und Werbegrafiken, traditionellem Kunsthandwerk, Schattenbildern und versteckten Verweisen auf so manchen Comicklassiker ist die auf das Papier gebrachte Variante der afrikanischen Erzähltradition, in der die mündliche Überlieferung einhergeht mit Musik, Tanz und Maskerade. Mit diesem visuellen Trommelwirbel verneigt sich Weyhe vor den Traditionen der afrikanischen Kultur, ohne jemals Gefahr zu laufen, in Exotismus und Kolonialismus abzugleiten. Ihre biografische Verbundenheit mit dem afrikanischen Kontinent und seiner Kultur verleiht ihr das dafür notwendige Gespür, wie sie bereits in Ich weiß hinlänglich belegt hat.
Madgermanes ist Bilderpoesie de luxe, Weyhes Stil abwechslungsreich, vielschichtig und wohltemperiert. Sie beweist, dass sie die Mittel des Mediums in Perfektion beherrscht. Ihre zwischen Wahrnehmung, Reflektion und Fortschreibung pendelnde Erzählweise lenkt den Blick nicht nur auf ferne Länder und fremde Kulturen, sondern vermittelt einen Eindruck des kulturellen Reichtums der Welt. Auf jeder Seite staunt man ob der Fülle ihrer wahrlich genialen Bildlösungen, die die wörtliche Erzählung nicht nur aufgreifen, sondern spielerisch intensivieren, erweitern oder konterkarieren, um diese Geschichte von einer individuellen auf die grundsätzliche Ebene zu heben. Die in weiten Teilen in Schwarz und Braun gehaltenen Zeichnungen heben sich vom weißen Hintergrund des Papiers ab und illustrieren die Ambiguitäten der Erzählung; das Nebeneinander von Erinnerungen und Geschichte, Traum und Realität, Versprechungen und Lügen, Hoffnung und Enttäuschung. Mit diesem Neben- und zuweilen auch In- und Übereinander der Widersprüche und Mehrdeutigkeiten erzeugt die in Hamburg lebende Künstlerin eine ständige Reibung zwischen Text und Bild, die zu einem ständigen Flirren in diesen Rückblicken führt.
Was ist Erinnerung, fragt Weyhe zu Beginn ihres Comics, wissend um die Komplexität der Antwort. In Reigen verknüpfte sie die Schicksale von zehn Menschen mithilfe einer Taufkette, in Im Himmel ist Jahrmarkt rekonstruiert sie ihre Familiengeschichte. In ihrer neuen Arbeit lässt sie ihre drei Figuren ihre jeweilige Antwort auf die Frage geben. Für José ist die Erinnerung eine läufige Hündin, der man nicht trauen kann. Für Basilio ein klarer See, auf dessen Grund er seine Lebensgeschichte lesen kann. Und für Anabella sind Erinnerungen wie Seeigel, in die hineinzutreten höllisch weh tut. Weyhe stellt diesen drei Szenarien ein viertes zur Seite. Demnach sind Erinnerungen komplexe Verstrickungen, chaotische Wollknäuel, die man aufzudröseln und zu ordnen verstehen muss. Birgit Weyhe ist eine Meisterin dieses Fachs.
[…] Dabei reflektiert sie permanent die eigene Situation als weiße privilegierte Künstlerin, der bei »Madgermans« der Vorwurf der kulturellen Aneignung gemacht wurde und dem sie jetzt eine besondere Form des […]