Philipp Weiss ist eine Art österreichisches Pendant zu Dietmar Dath, Genialität und Wahnsinn liegen bei ihm nah beieinander. Gelangweilt von der besten aller Welten debütiert der Wiener Schriftsteller mit einem fünfhändigen Romanzyklus »Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen«. Ein Gespräch über grenzenloses Schreiben, die gestaltende Kraft des Menschen und den Wert der Wissenschaft.
Philipp Weiss, Ihr Debütroman, ein fünfteiliger Romanzyklus, umfasst über eintausend Seiten. Fünf Bände, fünf Stile, sogar einen Manga. Wen wollen Sie eigentlich mehr provozieren? Sich selbst? Ihren Lektor? Ihre Leser oder die Kritik?
Mir geht es nicht um Provokation, sondern um die Freiheit des Entwurfs. Ich habe mir selbst keine Grenzen gesetzt. In meiner Arbeit gibt es immer diese Überschreitungstendenzen, dieses Wuchern. Ich interessiere mich für das Umfassende. Ich schreibe auch für das Theater, wo ich umsetzungsbedingt natürlich eingeschränkt bin. Vielleicht hat sich da nach mehreren Jahren der Theaterarbeit einfach ein gewisser Furorangestaut. Mir war ja auch lange nicht bewusst, was ich da eigentlich mache. Ein solches Werk ist womöglich schnell konzipiert, es in der Folge aber umzusetzen…
Wie viele Jahre haben Sie an dem Werk geschrieben?
2012 habe ich begonnen, also etwa sechs Jahre.
Da gab es sicher Höhen und Tiefen. Wie muss ich mir das vorstellen?
Insgesamt war es eine ganz ungewöhnliche und innerlich reiche Zeit. Diese Jahre der Isolation sind ja auch ein Selbstexperiment. Man stößt an seine Grenzen, an Grenzen des Denkens und des Schaffens, aber auch an physische Grenzen. Mich hat das Schreiben teils so stark gefordert, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Tag und Nacht habe ich an den Roman gedacht, konzipiert, fabuliert. Neben meinem Bett lag mein Handy und wenn ich nachts einen Einfall hatte, nahm ich ihn auf, tippte ihn am kommenden Tag ab. Die Erholungspausen wurden immer kürzer und die Momente, in denen ich in meiner Erschöpfung dachte, es würde niemals enden, nahmen zu.
Solche Momente gab es?
Natürlich gab es die. Bis man weiß, dass das Schreiben irgendwohin führt, vergeht viel Zeit. Das ist lange ein sehr fragiler Prozess. Irgendwann, relativ spät, stellt sich eine intuitive Gewissheit ein, dass man es mit Geduld zu einem guten Ende bringen wird. Aber bis zu diesem Punkt ist der Druck sehr groß. Man darf den Text in dieser Zeit nicht aus den Augen lassen, sonst, so die Angst, könnte alles in sich zusammenbrechen. Deshalb musste ich alles andere außen vorlassen, auch die Gesundheit oder den Schlaf, selbst mein persönliches Glück. Ob es mir gut ging oder nicht, spielte dann keine Rolle.
Hat Sie das Buch noch mehr gekostet als Schlaf?
Ich habe in den letzten sechs Jahren phasenweise als Mensch nicht wirklich existiert, wurde zum Gespenst, habe soziale Kontakte vernachlässigt. Meine Figuren haben mein Leben bestimmt. Urlaub, Freunde treffen, meine Beziehung – alles musste sich dem Schreibprozess unterordnen, weil mich alles potentiell aus dem Schreiben herausgerissen hätte.
Woher wissen Sie, wenn Sie sich auf so einen grenzenlosen Schreibprozess einlassen, dass ein Teil fertig ist?
Der Prozess ist ja nicht linear. Ich schreibe nicht eine Seite und dann die nächste, sondern ich schreibe eine Seite, überarbeite sie und schreibe zwei Sätze dazu. Dann überarbeite ich die Seite und die zwei Sätze und schreibe dabei zwei weitere Sätze dazu. Es ist also ein zirkulärer Prozess, der sich immer nur dann fortbewegt, wenn das Fundament, das da ist, trägt.
Was hat ihr Verlag eigentlich gesagt, als sie ihm fünf Bände mit über eintausend Seiten als Debütroman präsentiert haben, der jetzt im Verkauf 48 Euro kostet? Haben die gleich gesagt, dass ist ein Liebhaberstück oder hofft man auf einen Bestseller?
Suhrkamp nimmt enormes Risiko in einer Zeit, in der der Buchhandel bekanntlich in der Krise ist und Verleger immer weniger Wagemut an den Tag legen. Das Projekt hat den Verlag auch an die Grenzen des Machbaren gebracht. Die Produktion ist natürlich aufwendig und teuer. Aber ich glaube, es gehört zum Selbstverständnis des Suhrkamp-Verlags, neue Wege zu gehen, Risiko zu nehmen – und einen Roman wie meinen im Notfall etwa mit den Erlösen von Elena-Ferrante-Büchern zu finanzieren. Es war immer klar, dass ich damit nicht reich werde, aber im Idealfall passieren damit wundersame Dinge. Wer weiß?
Haben Sie auf eine Nominierung zum Deutschen Buchpreis gehofft?
In der Ausschreibung des Preises steht, pro Verlag könnten maximal zwei Bücher eingereicht werden. Man könnte sagen: Mein Roman ist mit seinen fünf Büchern schon an den Statuten gescheitert. Ich bin natürlich ein wenig enttäuscht, andererseits habe ich Vertrauen, dass der „Weltenrand“ die Maschine, die der Buchpreis ist, als Krücke und Starthilfe gar nicht braucht.
Lesen Sie selbst eher schmale Bücher oder sind Sie ein Fan dicker Wälzer?
Ich lese grundsätzlich als Autor – und nicht als Leser. Das heißt, ich lese sehr erratisch und nach ganz eigenen Gesetzen. Wenn ich arbeite, dann vor allem Unmengen an Fachliteratur. Romane und Prosa lese ich allein zur Form- und Sprachfindung meines eigenen Prozesses. Bücher sind mir Schreibanlässe und Dialogpartner. Ich lese immer dutzende parallel und eigentlich keines zu Ende. Gerade die Bücher, die mir am besten gefallen, lege ich nach ein paar Seiten weg, weil sie mich inspirieren. Man könnte behaupten, ich habe dieses Verfahren auf meinen Schreibprozess angewandt, denn ich lese nicht nur mehrere Bücher gleichzeitig, ich schreibe auch mehrere parallel.
Wie soll man denn Ihr fünfbändiges Werk lesen?
Ganz so, wie es einem gefällt! Man kann kreuz und quer darin lesen, man kann die Bücher nebeneinanderlegen und parallel lesen, man kann einen Band für sich herausgreifen, man kann aber auch klassisch linear lesen. Wobei die Reihenfolge dann selbst erfunden werden muss, denn die Bände sind nicht nummeriert. Ein Sherlock Holmes unter den Lesern kann aber leicht herausfinden, welche Reihenfolge ich selbst vorschlage – etwa auf den Bildern des Schubers im Internet.
Wenn Sie fünf Sätze hätten, um zu erklären, worum es in Ihrem Roman geht, was würden Sie sagen?
Eine ordentliche Aufgabe. Solche Versuchsanordnungen wie mein Roman bringen es ja mit sich, dass jede Reduktion scheitern muss.
Sie weichen der Aufgabe aus.
Für jeden Band einen Satz? Also gut! In den „Enzyklopädien eines Ichs“ geht es um die Grundlegung unserer kapitalistischen, globalisierten, technologisierten Welt im langen 19. Jahrhundert und eine Figur, die durch die Wirren dieser Zeit von Paris, über Wien bis nach Japan gelangt. In „Terrain vague“ geht es um den Verlust des geliebten Menschen ebenso wie um den Verlust der Koordinaten der Wirklichkeit, um die Suche nach Halt, um Fukushima und das Glück der unerwarteten Begegnung. In den „Cahiers“geht es um die Herleitung der eigenen nichtigen Existenz aus dem ganz Großen des kosmologischen Zusammenhangs und um die Auflösung im Denken. In „Akios Aufzeichnungen“geht es um das Erdbeben, den Tsunami, die Fukushima-Katastrophe, das Erzählen als Trost und die Phänomenologie der kindlichen Wahrnehmung, in der alles mit allem zusammenhängen kann. In den „Glückselige Inseln“ schließlich geht es um die Erosion von Wirklichkeit in einer medialisierten Welt und die Zukunft des Ichs als leerlaufende Echokammer.
In der Ankündigung heißt es, dass es um den Menschen im Anthropozän geht, also um jene Zeit, in der der Mensch zur gestaltenden Kraft des Planeten geworden ist. Spannend ist ja, dass bei allen Figuren, die Sie auftreten lassen, etwas eintritt, das außerhalb ihres Einflussbereichs liegt. Politische Umstürze, Umwelt- und Naturkatastrophen, die überbordende Liebe. Hat der Mensch vielleicht gar nicht die gestaltende Kraft, sondern bildet er sie sich nur ein?
Unsere gesamte menschliche Zivilisation ist ein Kampf gegen die Willkür der Natur, gegen die Willkür des Schicksals, gegen all das Unberechenbare, das dem Individuum und einer Gesellschaft widerfahren kann. Wir errichten gigantische technische Bastionen gegen die Unkontrollierbarkeit der Welt. In diesem immer komplexer werdenden Prozess, im Versuch, alles kontrollieren zu wollen und dabei eine zweite, eine technische Natur zu schaffen, gerät das Projekt ironischerweise wieder außer Kontrolle – durch Revolutionen etwa, durch Finanzkrisen oder technische Unfälle. Die Erfahrung der Ohnmacht wiederholt sich, es ist eine dialektische Bewegung, der wir nicht entkommen.
Ist der Versuch, Kontrolle über die Dinge zu bekommen, aussichtslos?
In gewisser Hinsicht, ja. Aber ich würde meinen, dass es schön ist und wir froh sein können, dass wir in einer noch nicht völlig beherrschten Welt leben. Denn das ist ja der Zustand, auf den wir zusteuern: eine völlig rationalisierte und algorithmisierte Welt, in der sich nicht nur die Maschine dem Menschen, sondern auch der Mensch der Maschine immer mehr angleicht. Zum Glück ist dieses kommerzielle Projekt unserer Gegenwart zum Scheitern verurteilt. Wir Menschen sind irrationale Wesen. Und was wir erschaffen, ist im Großen komplex und unkontrollierbar.
Geht Ihnen das mit Ihrer Literatur ähnlich? Können Sie die auch nicht kontrollieren?
Es gibt Momente des Kontrollverlusts, die sind konstitutiv und gut. Würde ich immer alles konzipieren und im Griff haben, es wäre leblos und uninteressant – für mich beim Schreiben, aber auch für den Leser.
Am Rand welcher Welt sitzen Ihre Figuren eigentlich? Am Rand der besten oder der schlechtesten aller Welten?
Ich glaube, diese Welt ist weder gut noch schlecht, sondern verdammt komplex. Es ist eine Welt, die grausam ist und wunderschön. Es ist sicher nicht die beste aller Welten, aber es wäre auch todlangweilig, in der besten aller Welten zu leben.
Warum wäre das langweilig?
Weil sich das Glück aus dem Unglück und dem Mangel konstituiert. Der Mensch braucht eine permanente Reibung, um sich zu entwickeln. Er braucht Widerstände, er braucht Hindernisse, er braucht Tiefpunkte. Das ist das, was Geschichten ausmacht. Eine Welt aus permanenten Likes hat keine Geschichten, die ist eigentlich tot.
Über die fünf Bände hinweg fällt auf, dass Grafik und Visualität wichtig für den Roman sind. Warum?
In den »Cahiers« etwa ging es mir in der Tradition der Bewusstseinsprosa von James Joyce, Virginia Woolf und Samuel Beckett um den Versuch, den Denkprozess abzubilden, gleichsam eine Bilderschrift zu erschaffen. Dazu kommt, dass es sich bei Chantal um eine Figur handelt, die in Mustern denkt und unter visuellen Migräne-Halluzinationen leidet. Dieses Denken in Raum und Sprache gleichermaßen eröffnet eine Mehrdimensionalität, die mich fasziniert hat. Und man darf nicht vergessen, dass Notizbücher generell Räume des visualisierten Denkens sind. Es gibt einen berühmten Tagebucheintrag von Darwin, wo er das erste Mal den Stammbaum der Evolution zeichnet und daneben schreibt »I think!«. So etwas hat mich inspiriert. In den »Glückseligen Inseln«, dem Graphic Novel-Band, wiederum bin ich von der Beobachtung ausgegangen, dass das Sehen in unserer visuell geprägten Gesellschaft die Hauptversicherung für die Realität ist. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«, ruft man und ist über jeden Zweifel erhaben. Auch der Verlust dessen, was wir Wirklichkeit nennen, manifestiert sich heute auf Bildschirmen. Es ist die Macht der Bilder, der Medien, die uns permanent belagert und in verschiedene Welten entrückt. Insofern lag es für mich auf der Hand, das als Comic umzusetzen.
Die Geschichte von Paulette Blanchard wird später in der Erzählung ihrer Urahnin Chantal aufgegriffen. Zusammengenommen ergeben die Biografien dieser beiden Figuren so etwas wie die Geschichte von Aufklärung und Wissenschaft, also des Fortschritts durch den Menschen. Doch Chantal sagt in der Erinnerung von Jona, dass Sie gut auf Menschen verzichten könne. Denn: »Es wird nichts besser. Durch keinen noch so edlen Willen wurde je etwas besser. Im Gegenteil. Durch jedes Eingreifen wird alles nur noch verheerender. Es wird schlimmer. Unweigerlich. Es wird komplexer! Es wird gewaltsamer! Es wird grässlicher! Es gibt keine Heilsgeschichte, keinen Fortschritt, keinen privilegierten Standpunkt…« Hier klingt ein Zweifel an der Wissenschaft an. Was ist Wissenschaft in ihren Augen? Ein von Fake News und Verschwörungstheorien bedrohtes Gut oder der Anfang vom Ende des Menschen?
Die Wissenschaft, die Rationalität, die Aufklärung – sie sind das beste Fundament, um eine Gesellschaft auf gerechtem Boden zu errichten. In dem Moment, in dem ich mit wissenschaftlichen Methoden verifizierbare Fakten generiere, kann ich nicht mehr willkürlich behaupten, es gäbe etwa Unter- und Übermenschen. Was wir heute allerdings erleben, ist eine Antiaufklärung, ein Angriff auf dieses Modell, eine Verdunkelung, die sich sehr deutlich etwa im Klimaskeptizismus manifestiert. Die Medien haben daran großen Anteil, indem sie das Bedürfnis nach Information und dasjenige nach Fiktion vermengen. Zugleich behaupte ich aber auch, dass sich der Mensch durch den rationalen Zugang zur Welt in eine Sackgasse manövriert hat. Die Erkenntnis, die in der Antike noch als Weg zum Guten, Wahren und Schönen galt, wird zur erschütternden Einsicht in die eigene Nichtigkeit. Der Mensch, so erklärt uns die Wissenschaft, ist ein besserer Affe, ein Bioautomat ohne freien Willen, der in einem unbedeutenden Winkel des gleichgültigen Universums vegetiert, als Ergebnis unzähliger Zufälle. Eine Folge dieser Einsicht ist eine Art neuer Wahn, eine große Verdrängung. Sie erlaubt es, dass wir uns weiter Allmachtsphantasien überlassen und dabei selbst zerstören. Meine Figur Chantal reagiert darauf mit Zynismus. Wenn sie ein Faktum – »Zerstört euch!« – gelassen ausspricht, wird es aufgefasst als Provokation. Das ist doch interessant.
Chantal schreibt in Ihrem Notizbuch: »Das ist das Gegenteil eines Tagebuchs. Es setzt nichts zusammen. Es dient nicht der Erbauung, dem Trost, nur der Auflösung.« Man könnte meinen, es geht ihnen dort auch um die Auflösung der klassischen Literatur beziehungsweise ihrer Grenzen. Um ein Durchbrechen des Texts, eine Auflösung von Kohäsion und Kohärenz. Ist das der Fall oder lese ich das falsch?
Jeder Schöpfungsprozess impliziert auch Zerstörung. Den Versuch einer solchen schöpferischen Zerstörung unternimmt mein Roman sicherlich.
Wenn man so will, vollzieht sich diese Auflösung des klassischen Textes auch durch die fünf Bände. Die Bücher von Paulette Blanchard und Jona Jonas sind noch eher klassische Texte, während Chantal Blanchards Notizbücher eher als Textcollage zu begreifen sind und wir es am Ende mit einem Comic zu tun haben, in dem das Bild die Sprache ablöst.
Mir gefällt, dass sie eine Lesereihenfolge vorschlagen und aufgrund ihrer Eindrücke eine Interpretation vorlegen. Das ist genau das, was ich erreichen möchte. Man könnte den Roman aber auch ganz anders lesen und damit auch interpretieren.
Es ist ein irrer Mix, den Sie vorlegen. Die fünf Bände bewegen sich stilistisch zwischen Proust’scher Enzyklopädie, experimenteller Textcollage und Manga. Was davon hat Ihnen am meisten Spaß gemacht und woran hatten Sie am meisten zu knabbern.
Das ist schwierig zu sagen. Am intensivsten erlebt habe ich die »Enzyklopädien« von Paulette, weil mir die Arbeit daran eine neue Erfahrung bereitet hat, dass nämlich eine Figur mich an der Nase herumführen kann. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, mich mit Paulette zu bewegen, mit ihr zu lachen und zu weinen – und ich war ungemein traurig, als das vorbei war. Aber natürlich sind Chantals »Cahiers« das dunkle Herzstück des Ganzen, wo alles kulminiert und der Roman die größte Tiefe erreicht. Am leichtesten und fröhlichsten war es, mit dem kleinen japanischen Jungen Akio zu reisen und dessen kindlichen Blick einzunehmen.
Haben Sie eine Lieblingsfigur in diesem Werk?
Chantal verachte ich und in Paulette bin ich verliebt. Das sind schon die zwei stärksten Figuren für mich.
Was halten Sie davon, wenn ich Ihren Roman einen politischen, wenn nicht gar hochpolitischen Roman nenne?
Das höre ich gern. Der Roman ist ja in zweifacher Hinsicht politisch. Zum einen behandelt er politische Themen wie die Frage der Zukunft des Menschen, die Frage der Klimapolitik oder die Frage der Überlebensfähigkeit unserer Zivilisation. Das sind alles Fragen, mit denen sollte sich Politik zumindest auseinandersetzen, auch wenn sie es momentan kaum tut. Auf der anderen Seite ist für mich das Schreiben per se ein politischer Akt, weil es eine Art Grundlagenforschung am Denken und der Sprache ist. Ich sehe meinen Roman aber auch auf einer formalen Ebene als politisch an. Denn auch die Formen des Erzählens zu überprüfen und zu erweitern, ist in meinen Augen eine der wesentlichen Aufgaben von Literatur. Wir können doch nur so viel von unserer Welt verstehen, wie wir formulieren und versprachlichen können. Mein Roman ist ein Versuch, ein neues formales Angebot zu machen, über Wirklichkeit nachzudenken – netzwerkartig und eben nicht linear, weil das meines Erachtens unserer Zeit angemessener ist.
Japan als Handlungsort zieht sich durch alle fünf Bände. Was ist so faszinierend an Japan?
Im Gegensatz zum Klischee, Japan sei so anders und konträr zu Europa, habe ich Japan als sehr verwandt erlebt. In Japan habe ich etwas Vertrautes gefunden, das aber so übersteigert und verzerrt ist, dass es mich in einen entrückten Raum versetzte – vergleichbar mit der Wirklichkeit eines Kafka-Romans. Diese Wahrnehmung kann ich, glaube ich, historisch begründen. Es gibt schließlich einen über 150 Jahre währenden westlichen Einfluss auf Japan, beginnend mit der sogenannten Meiji-Restauration, welche die Jahrhunderte der japanischen Isolation unter militärischem Druck beendete. Japan hat sich dem Westen nicht wie andere Staaten als Kolonie unterworfen, es hat die Ideologie des Westens vielmehr inkorporiert und überboten. Die Aneignung des Fremden gehört, so paradox das klingen mag, zum japanischen Wesen. „Oitsuke, oikose!“, heißt es im Japanischen: Aufholen, überholen!
Verzweifeln Sie manchmal an der Welt, die Sie umgibt?
Ich würde verzweifeln, hätte ich die Literatur nicht.
Die Fotos dieses Interviews sind von Helmut Lackinger.
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