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»Ein Akt der seelischen Gewalt«

Ein Gespräch mit dem Feuilletonchef der FAZ Patrick Bahners über das Kopftuch, falsche Integrationsthesen und die Folgen der gesellschaftlichen Säkularisierung. In seinem jüngsten Buch »Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam« setzt sich Bahners mit dem Phänomen der Islamkritik auseinander. Der Titel war für den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Sachbuch nominiert.

Herr Bahners, Ihr Buch »Die Panikmacher« ist eine scharfe Kritik der Islamkritik. Warum war es notwendig, diese vorzunehmen?

Die Religionsfreiheit ist in Gefahr. Wenn Muslime heute eine Moschee in Deutschland bauen wollen, dann haben sie es mit Nachbarn zu tun, die davon überzeugt sind, dass ein solches Haus des Gebets ein Fremdkörper im sozialen Organismus sein muss, ein Versteck für Verfassungsfeinde und Brückenkopf des verdeckten Bürgerkrieges. Jedes Bauprojekt löst skeptische Anfragen der Anwohner aus, auch ein Supermarkt oder ein Fitnessstudio, und wenn im Neubau nicht verkauft oder trainiert, sondern gepredigt werden soll, dann richtet sich auf den Inhalt der Predigten eine ganz natürliche kritische Neugier. Aber es ist schon so weit gekommen, dass eine kritische Masse beunruhigter Bürger sich ihre Beunruhigung gar nicht mehr nehmen lassen will. Die Leute haben sich einreden lassen, dass Muslime gegenüber »Ungläubigen« im Zweifel die Unwahrheit sagen und dass der Imam, der sich ohne Vorbehalt zum Grundgesetz bekennt, besonders verdächtig ist. Diese Vergiftung der alltäglichen Kommunikation ist ein Erfolg der radikalen Islamkritik.

Sie werfen den »Panikmachern« vor, ihre Kritik am Islam schade dem Rechtsstaat. Zuvor konnten nicht wenige derer, die Sie jetzt kritisieren, ihre Thesen prominent in der FAZ, für die Sie arbeiten, verkünden. Was ist passiert, dass Sie nun die Autoren ihres Blattes angreifen?

Meine Einwände gegen Alice Schwarzers Forderung nach einem Kopftuchverbot für Schülerinnen oder meine Bedenken gegen Necla Keleks Ruf nach einer Religionspolizei mit säkularisierender Mission habe ich seit Jahren immer wieder in Artikeln in der F.A.Z. dargelegt. Die politische Wirkung der Islamkritik, wie sie sich in der Sarrazin-Affäre manifestiert hat, war dann der Grund, meine Kritik einmal im Zusammenhang zu entfalten. Islamkritiker werden auch künftig im Feuilleton der F.A.Z. zu Wort kommen.

Es ist eine illustre Gruppe, die Sie in Ihrem Buch zu den »Panikmachern« zählen: SPD-Mitglied Thilo Sarrazin zählt ebenso dazu wie Pax-Europa-Mitgründer Udo Ulfkotte. Mit der Atheistin Necla Kelek poltert der bekennende Katholik Matthias Matussek. Altkanzler Helmut Schmidt und Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck scheinen in die gleiche Kerbe zu schlagen wie Deutschlands Feministin Nr. 1 Alice Schwarzer und Euroislam-Verfechter Bassam Tibi. Was macht den typischen »Panikmacher« aus?

Gauck und Schmidt würde ich eher den verirrten Sympathisanten zuschlagen. Beide haben Solidarität mit Sarrazin geübt, aus einem Reflex heraus, ihm die Rolle des Unbequemen abzunehmen, der wegen des freimütigen Gebrauchs der Meinungsfreiheit von einem Kartell der Mächtigen gemaßregelt worden sei. Gegenüber all denen, die mit empirischen Argumenten Sarrazin geduldig widersprechen, lässt sich die Position, man könne ihm gar nichts entgegensetzen, nur mit gehöriger Herablassung durchhalten. Ein anti-elitäres Ressentiment findet in der Islamkritik ein Ventil, das man eher aus der amerikanischen politischen Öffentlichkeit kennt. Und seltsamerweise wird es auch von höchstplatzierten Insidern der politischen Führungsschicht wie dem früheren Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten der Herzen artikuliert.

Gibt es bei der Islamkritik einen gemeinsamen Nenner?

Als Weltreligion mit missionarischem Selbstverständnis ruft der Islam seiner Natur nach Kritik hervor. Jeder Mensch, der die Botschaft des Propheten hört und ihre Wahrheit nicht bekennt, ist ein Islamkritiker – ich auch. In meinem Buch verwende ich den Begriff der Islamkritik in einem engeren Sinne, wie er sich im Meinungskampf der Gegenwart eingebürgert hat. Er bezeichnet dann eine Spielart der Ablehnung des Islams, die ihrerseits einen weltanschaulichen und sogar quasi-religiösen Charakter hat. Der Islam wird als apokalyptischer Widersacher, als Hauptfeind der freien Gesellschaften identifiziert – und zwar nicht nur der politische Islam von Ahmadinedschad und Bin Laden, die uns tatsächlich den Krieg erklärt haben, sondern auch die Volksreligion der Einwanderer. Die Muslime kommen als Eroberer: Das ist der Hauptsatz der Islamkritik, die als politische Bewegung den Widerstand des Westens gegen Überfremdung und Selbstaufgabe organisieren will. Thilo Sarrazin hat diesen Satz in seinem Interview mit Lettre International formuliert und Necla Kelek hat ihn in ihrem Buch »Die fremde Braut« geschmackloserweise ihrem kleinen Sohn in den Mund gelegt.

Sind diese Argumente aus der Luft gegriffen oder handelt es sich dabei eher um Umdeutungen der gesellschaftlichen Realität?

Die gesellschaftliche Realität von Eingliederungsschwierigkeiten muslimischer Zuwanderer mit niedrigem Bildungsstand wird umgedeutet im Sinne einer Theorie der islamischen Weltverschwörung, die alle Merkmale des »paranoiden Stils« des politischen Denkens zeigt, den der amerikanische Historiker Richard Hofstadter anhand der Beispiele des McCarthyismus und des Antikatholizismus definiert hat. Der Preis der schlichten Totalerklärung sind empirische Unwahrscheinlichkeiten und logische Brüche. Das ostentative Nichtlernenwollen eines Schülers in Berlin-Neukölln wird als Weltbürgerkriegshandlung gedeutet – nun, ein Dschihad mit so fußlahmen Truppen sollte uns keinen Schreck einjagen.

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Provozieren diese »Panikmacher« eine Paranoia vor dem Islam oder bedienen sie sich einer vorhandenen Angst, wenn sie ihre islamophoben Thesen in die Welt setzen?

Man unterscheidet in der moralischen Psychologie gerne zwischen der Furcht, die sich auf eine definierte Gefahr konzentriert, und der diffusen Angst. Die eine möchte man für rational halten, die andere für irrational. In der Welt nach dem 11. September genügt diese Maxime nicht mehr. Die iranische Atomrüstung und die Anschlagsplanungen von Al Qaida müssen wir fürchten, und der politische Islam muss uns Angst machen. Mein Buch spielt entgegen den Behauptungen einiger Rezensenten diese Gefahren nicht herunter. Ganz im Gegenteil. Ich fürchte nur, dass die von der Islamkritik empfohlenen Gegenmittel wirkungslos und sogar gefährlich sind. Wenn der Historiker Hans-Ulrich Wehler den Islamismus die Pest des einundzwanzigsten Jahrhunderts nennt, ist das eine drastische Formulierung, die ihren Zweck als Alarmglocke tatsächlich erfüllen mag. Ich erlaube mir lediglich die Anmerkung, dass man die Pest nicht eindämmen wird, indem man alle Muslime in Deutschland unter Quarantäne stellt.

Die Islamkritik ist ein recht junges Phänomen und stößt immer wieder auf ein breites Echo in der Bevölkerung. Wie kommt das?

Für die historische Einordnung des Phänomens der Islamkritik ist wichtig, dass es ihre Thesen schon vor dem 11. September gab, als komplettes Paket, etwa im Programm christlicher Splitterparteien. Sie war aber ein Ladenhüter. Heute wirken ihre schlichten Erklärungen auf viele Leute überzeugend, aber dabei handelt es sich nur um eine vordergründige Plausibilität. Ein Grund der Anziehungskraft der Islamkritik ist die allgemeine Vertrauenskrise des politischen Systems. Sarrazin fand viel Zustimmung bei Zeitungslesern, die von Frau Merkel verlangten, sie hätte das Buch lesen müssen, bevor sie ein Urteil abgab. Viele dieser Sarrazin-Unterstützer legen Wert darauf, dass sie ihm in der Sache gar nicht zustimmen. Andererseits werden sie glauben, so ganz falsch liege Sarrazin in der Sache des Islam nun auch wieder nicht. Der Islam stört die säkulare Selbstzufriedenheit, ohne dass von ihm wie von früheren Herausforderungen des abgeklärten Konsenses – dem christlichen Sozialismus, der dialektischen Theologie oder dem Zionismus – eine moralische und intellektuelle Faszination ausginge. Er wird einfach nur als Störung empfunden, als Irritation.

Wie kommt es, dass bei der Islamdebatte statistische Evidenz und soziale Wahrnehmung derart weit auseinanderfallen? Sarrazins Buch ist voller fehlerhafter Ableitungen.

Sarrazin behauptet, sein Buch biete gar keine Thesen, nur Tatsachen. Wissenschaftstheoretisch ist das Quatsch. Aber ein Buch, das gar keine Hypothesen formuliert, kann auch nicht durch Empirie falsifiziert werden. Bei jedem Gegenbeispiel werden die Sarrazin-Gläubigen darauf beharren, das Gesamtbild sei aber unzweifelhaft wahr. Daher die vielen Appelle an den gesunden Menschenverstand, auch in Necla Keleks Plädoyer für das Buch. Und doch ist die Simulation von Wissenschaftlichkeit, der von Sarrazin getriebene Aufwand, für den Erfolg sehr wichtig. Die Lektüre ist anstrengend. Viele Leser bleiben stecken, sind aber stolz darauf, wie weit sie gekommen sind. Und sind erst recht zornig auf die Kanzlerin, die sich die Mühe gespart hat.

Der These der Islamkritiker, der Islam sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, halten Sie entgegen, dass die Islamkritik als präventiver Akt dem Grundgesetz schade. Wie ist das zu verstehen?

Das Grundgesetz bedarf der praktischen Aneignung, der belebenden Interpretation durch die Staatsbürger. Der eine oder andere konservative Staatsrechtslehrer bedauert, dass der Katalog der Grundrechte nicht sogleich durch eine Aufzählung der Grundpflichten relativiert wird. Ich halte es dagegen für die liberale Pointe der Verfassungsarchitektur, dass das Grundgesetz Spielräume eröffnet: Seine Wirklichkeit hat es im Streit und als Experiment. Es wäre voreilig, der Tradition einer Weltreligion zu bescheinigen, sie habe zur Ausdeutung des Grundgesetzes gar nichts beizutragen.

In Ihrem Buch kritisieren Sie die Einschränkung der Rechte der Muslime, ihre Religion auszuüben. Bestes Beispiel sei das Kopftuchverbot, das Sie als »Akt der seelischen Gewalt« gegenüber muslimischen Frauen bezeichnen.

Ein Kopftuchverbotsgesetz trifft diejenigen Frauen, die das Gebot der Bedeckung des Haupthaars als unbedingt verpflichtend empfinden. Sie käme sich nackt vor, wenn sie ohne Kopftuch das Haus verließe, hat die Beschwerdeführerin im Karlsruher Verfahren zu Protokoll gegeben. Betrachtet man das Gesetz vor dem Horizont der Lehrerin, nötigt es sie, sich entweder zu entkleiden oder auf ihren Beruf zu verzichten.

Verstößt es tatsächlich gegen das Grundgesetz, von Lehrerinnen und Lehrern das Ablegen sichtbarer religiöser Symbole im Rahmen ihres Dienstes zu verlangen?

Ich bin kein Jurist und möchte dem Bundesverfassungsgericht nicht widersprechen, das entschieden hat, dass ein solches Verbot nicht gegen das Grundgesetz verstoßen muss – sofern es Gesetzesform hat. Max Weber nennt den Typus des Asketen, der seine gesamte alltägliche Lebensführung nach Glaubensgesetzen ordnet, den Religionsvirtuosen. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Lebensmodell die Ausübung des einen oder anderen bürgerlichen Berufes unmöglich macht und dass dieser tatsächlichen Unmöglichkeit im Zweifel auch die rechtliche Unvereinbarkeit entsprechen muss. Die Orientierung am Überweltlichen hat eben weltliche Kosten. Wer etwa die fünf dem Muslim täglich vorgeschriebenen Gebete so fixiert, dass er keinen Stundenplan einhalten kann, ist für den Lehrerberuf und wahrscheinlich für jede Büroexistenz ungeeignet. Eine solche Beeinträchtigung ist allerdings mit dem Kopftuch nicht verbunden, hier geht es um das bloße Zeichen einer religiösen Verpflichtung. Meinem Verständnis von Demokratie widerstrebt es, allzu viele Gestaltungsverbote ins Grundgesetz hineinzulesen. Eher möchte ich von den praktischen Konsequenzen der konkurrierenden Verfassungsinterpretationen her argumentieren. Was bedeutet ein bestimmter Begriff von Beamtenpflichten oder Selbstdarstellungsrechten für unser Gesellschaftsideal und Menschenbild?

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Die Frage »Was sagt das Grundgesetz?« kann man immer übersetzen in die Frage »In welchem Land wollen wir leben?« Für die Kopftuchfrage heißt das: Was bedeutet ein Kopftuchverbot für die Chancengleichheit muslimischer Frauen, für das Projekt der Emanzipation durch Bildung, für das Interesse der Gesellschaft an der Durchlässigkeit frommer Milieus? Und was bedeutet es für die Schule? Der Düsseldorfer Staatsrechtslehrer Martin Morlok hat in diesem Zusammenhang den Satz formuliert, der Lehrer erteile den Unterricht nicht nur in Person, sondern auch als Person. Er ist nicht die Verkörperung eines Staates, der über den Menschen schwebt. Unser Staat besteht aus Personen. Die Lehrerin mit Kopftuch zwischen Lehrerinnen ohne Kopftuch macht sichtbar, dass jeder Bürger seine Überzeugungen hat, die er nicht verleugnen muss, wenn er sie anderen nicht aufdrängt.

Verteidigen Sie das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, weil sich andere Beamte auch mit christlichen Symbolen schmücken können?

Zunächst einmal geht es um Grundrechte. Die Grundrechte der Lehrerin, vorrangig aber – hier stimme ich dem Sondervotum der Richter Di Fabio, Jentsch und Mellinghoff zu: der Beamtendienst ist nicht um der Selbstverwirklichung willen da – die Grundrechte der Eltern und Schüler. Merkwürdigerweise wird im Karlsruher Urteil gar nicht angesprochen, welche Botschaft ein kopftuchlos uniformierter Lehrkörper den Kindern vermittelt, in deren Familien die erwachsenen Frauen Kopftücher tragen. Sollen sich die Kinder ihrer Mütter schämen, die Lehrerinnen ersichtlich nicht hätten werden können? Ist das Kopftuch ein böses Familiengeheimnis wie der Alkohol?

Inwiefern ist die Kopftuchdebatte eine heuchlerische Diskussion?

Andere Lehrer mit starken Überzeugungen werden nicht schon durch ihre Kleidung auffällig und können daher nicht schon an der Schultür abgewiesen werden. Das möchte ich aber noch nicht Heuchelei nennen, diese Ungleichbehandlung ergibt sich aus der Natur des Kopftuchs. Wohl aber wünsche ich mir eine Schule, in der der Sozialist nicht verhehlen muss, dass er an das Gemeineigentum glaubt, und in der die Vegetarierin ihren Schülern auf Nachfrage eröffnen darf, dass ihrer Überzeugung nach die Welt eine bessere wäre, wenn niemand mehr Fleisch äße. Eher schon erfüllt es den Tatbestand der Verlogenheit, dass das religiös motivierte Zurückbleiben hinter dem Ideal vollkommener Gleichberechtigung nur in der muslimischen Variante bekämpft wird. Darauf hat die heutige Verfassungsrichterin Gabriele Britz aufmerksam gemacht: Eine Lehrerin, die sich mit einer halben Stelle begnügt, um ihrem Mann nach christlich-patriarchalischer Sitte den Haushalt zu führen, muss keine Sanktionen fürchten.

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Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. C. H. Beck 2011. 320 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Verlangt die moderne Zivilisation nicht auch das Überwinden religiöser Traditionen und Verhaltensweisen zugunsten einer aufgeklärten Weltsicht?

Das ist eine geschichtsphilosophische Maxime nicht ohne soziologische Plausibilität. Der Rechtsstaat kann sie allerdings nicht verbindlich machen. Überdies verwendet einen Parteibegriff von Aufklärung, wer sie in dieser Weise in Gegensatz zur Religion setzt.

Sie kritisieren, dass an den Islam und die Muslime andere Maßstäbe angelegt werden als beispielsweise an das Christentum und gläubige Christen. Woran machen Sie das fest?

Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmt, dass ein Verbot religiöser Zeichen alle Religionen gleichermaßen treffen muss. Dennoch haben mehrere Bundesländer für christliche Symbole eine Ausnahme ins Gesetz geschrieben – getarnt als Prämie für den Kulturwert des Christentums, der mit dem christlichen Beitrag zur Aufklärung identifiziert wird. In der Praxis des Religionsverfassungsrechts schlägt es dem Islam immer noch zum Nachteil aus, dass er sich nicht wie die Kirchen als Anstalt organisiert – obwohl die freie Assoziation als Prinzip der Moscheegemeinden dem liberalen Gesellschaftsideal doch viel besser entspricht als die hierarchische Korporation. Gemäß Artikel 7 des Grundgesetzes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Meiner Meinung nach sind hier auch die organisationsrechtlichen Grundsätze zu berücksichtigen: Die Länder dürfen die Anforderungen an muslimische Veranstalter von Religionsunterricht nicht unerreichbar hoch schrauben.

Besonders stark kritisieren Sie in Ihrem Buch Necla Kelek. So ganz weiß man am Ende nicht, wofür? Für ihre dramatisierende Islamkritik? Für die Pathologisierung der eigenen Biografie in der Islamdebatte? Oder für ihre säkulare Haltung?

Ihre säkulare Haltung fordert als kämpferische politische Position zur Stellungnahme heraus. Im Buch ging es mir insoweit nur darum, diese Haltung ideengeschichtlich zu konturieren. Nicht allen ihren Fans dürften ihre kemalistischen Hintergrundannahmen deutlich sein, die in der Konsequenz das Christentum ebenso aus der politischen Wirklichkeit hinausdrängen müssten wie den Islam. Necla Kelek hat die Wirkungen einer islamischen Sozialisation am Beispiel ihres eigenen Lebens demonstriert. Liest man, von ihr angeleitet, ihre Biographie, mag man sich fragen, wie repräsentativ dieses Beispiel ist, und wie gut sich die Lektionen, die sie ja nicht nur für sich, sondern für alle Muslime daraus gezogen hat, wirklich verallgemeinern lassen. Die Dramatisierungen in Frau Keleks Beschreibung des heutigen Islams in Deutschland sind in der Tat kritikwürdig. Hartnäckig ignoriert sie Tatsachen und verbreitet Legenden – mit ihrem Selbstverständnis als Aufklärerin ist solcher Antipositivismus schlecht in Übereinstimmung zu bringen.

Der säkulare Staat und die »säkularen Religionsverächter« kommen in Ihrem Buch nicht gut weg. Ist die Säkularisierung der Welt schuld an der Islamkritik?

Islamkritik als gesetzgeberisches Programm ist halbierte, autoritäre Säkularisierung, Unterdrückung der Religion durch eine neue Staatsreligion. Islamkritiker berufen sich immer wieder auf die christlich-jüdischen Traditionen Deutschlands oder Europas. Scheinen die Probleme nicht eher im religiösen Bereich zu liegen? Die christlich-jüdische Tradition ist ein Kampfbegriff, der ursprünglich der ökumenischen Sammlung im Kalten Krieg gedient haben mag und heute den Zweck der Ausgrenzung des Islams hat. Inwieweit dieser erfundenen Tradition eine »authentische« religiöse Dimension zugewachsen ist, inwieweit man also von einem christlich-jüdischen Synkretismus sprechen kann, ist schwer zu beurteilen.

Sie behaupten, dass das Bekenntnis zum »säkularen Gesetz« noch keinen Rechtsstaat mache. Braucht ein Rechtsstaat religiöse Rechtsnormen?

Die Behauptung, das Bekenntnis zum säkularen Gesetz mache noch keinen Rechtsstaat, werden Sie in meinem Buch nicht finden. Oder welche Stelle haben Sie im Auge? Ich kann mir sehr wohl einen Staat von Atheisten denken. Mein Rechtsstaatsverständnis ist durch den liberalen Positivismus Hans Kelsens geprägt. Das weltliche Recht ist etwas Gemachtes, Änderbares, auf Zeit Gültiges. Es beruht auf Vereinbarung. Das Bewusstsein dafür, dass Rechtsetzung und Rechtsfindung praktische Aufgaben sind, dass es um belastbare Kompromisse geht, nicht um Deduktionen aus ewigen Wahrheiten, wird gestärkt, wenn man sich vor Augen führt, dass die Bürger moralische Überzeugungen in den Staat mitbringen und nicht so einfach loswerden.

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Religiöse Rechtsnormen wurden in letzter Zeit eher im Zusammenhang mit Missbrauch diskutiert. Ihre Anwendung führte keineswegs zur Festigung des Rechtsstaats, sondern vielmehr zu dessen permanenter Unterwanderung.

Diese Deutung der Missbrauchsskandale greift zu kurz. Sexuelle Gewalt unter Berufung auf religiöse Rechtstitel dürfte nur in extremen Ausnahmefällen vorgekommen sein. Das kirchliche Recht hat die gesamte abendländische Strafrechtspflege geprägt. Ob die kirchliche Strafgerichtsbarkeit zur Bestrafung von Sexualdelikten benötigt wird, ist die Frage. Die Parallelstrukturen begegnen in der Tat rechtsstaatlichen Bedenken – entscheidendes Stichwort: Verbot der Doppelbestrafung. Bedenken Sie aber, dass das kirchliche Disziplinarrecht wie jedes Dienstrecht Sanktionen in Fällen ermöglichen kann, in denen nach weltlichem Strafrecht Verjährung eingetreten ist oder die Beweisschwelle zu hoch liegt.

Brauchen wir eine deutsche Leitkultur?

Im Begriff der Kultur liegt das zwanglos Vorbildliche. Das Wort »Leitkultur« ist hoffnungslos verkrampft. Es zementiert den Glauben an selbstverständliche Verhaltensregeln, den es verkündigen soll.

Gehört der islamische Glaube zu Deutschland?

Welche Weltreligion gehört zu einem bestimmten Land? Frankreich als erste und treueste Tochter der Kirche – das ist die Vorstellungswelt der Konfessionskriege. Eine Nation, die sich die Islamkritik auf ihre Fahnen schriebe, wäre allerdings ebenfalls ein Anachronismus.

Sind in einer globalisierten Welt Leitkulturdebatten nicht zum Scheitern verurteilt?

Durch die monotone Beschwörung der deutschen Leitkultur haben sich einige christdemokratische Politiker den Blick dafür versperrt, was das abendländische Erbe Deutschlands tatsächlich ausmacht: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das den mittelalterlichen Universalismus in die moderne Welt herübertrug, hat sich der rechtlichen Organisation des religiösen Pluralismus gewidmet. Friede durch Recht: das hieß, dass Leute, die einander wechselseitig das ewige Leben in der Hölle prophezeiten, es miteinander aushalten konnten.

Ist die Islamkritik selbstreferenziell und damit sinnentleert?

Zu den parareligiösen Zügen der Islamkritik gehört, dass sie auf empirische Bestätigung nicht angewiesen und durch empirische Widerlegung nicht zu erschüttern ist. Sie produziert sozialen Sinn für Gläubige.