Biografie, Gesellschaft, Sachbuch

Schreiben für die Wiederherstellung der Menschenwürde

Der chinesische Dissident und Schriftsteller Liao Yiwu erhält heute in München den Geschwister-Scholl-Preis 2011. Er sei ein Vorbild für alle, die gegen Ungerechtigkeit und Diktatur aufbegehren. Seine jüngsten Bücher belegen dies eindrucksvoll.

»Ohne Inspiration, ohne Leidenschaft, der Stift kratzte das Papier wund, an manchen Tagen konnte ich mir nur ein paar hundert Zeilen abringen. Nichts half, ich riss die Augen auf, mir lief der kalte Schweiß in Schauern herunter, nichts löste die Verstopfung. Aber ich wettete meinen Atem, ich würde mich nicht geschlagen geben, ich würde auf diese Weise meine einzigartige Art zu leben bezeugen – und ich wettete mit dem Staat. Wenn ich das alles niederschrieb, würden meine Kinder wenigstens nicht glauben müssen, ihr Vater wäre ein Aufschneider.«

Für das Niederzuschreibende, von dem Liao Yiwu hier spricht, erhält der chinesische Autor heute in München den Geschwister-Scholl-Preis. Er folgt damit Joachim Gauck, der wiederum in einer Reihe mit bekannten Verteidigern der Menschenrechte steht wie Roberto Saviano, Anna Politkowskaja oder David Grossman. Mit dem Preis wird jedes Jahr ein Buch jüngeren Datums ausgezeichnet, »das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.« Liao Yiwu erhält den Preis für sein in diesem Herbst erschienenes Buch Für ein Lied und hundert Lieder – Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen.

Für ein Lied und hundert Lieder
Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag 2011. 585 Seiten. 24,95 Euro (TB: 12,99 Euro). Hier bestellen

Fast 600 Seiten umfasst dieser Bericht aus dem chinesischen Gulag, den Yiwu zwei Mal schreiben musste, weil die chinesischen Behörden bei einer Hausdurchsuchung weite Teile der ersten Fassung konfiszierten und zerstörten. In der neu geschriebenen und heimlich ins Ausland geschafften Fassung findet sich auch Yiwus Gedicht Massaker, das in China verboten ist und wegen dem er vier Jahre im Gefängnis saß. Er hatte das Gedicht nach den Ereignissen auf dem Tian’anmen-Platz im Jahre 1989 veröffentlicht. Darin geißelte er die tragischen Ereignisse auf Schärfste:

»Berufskiller schwimmen im Blut, mit Eisen behängt, sie legen Feuer unter verschlossenen Fenstern
sie putzen die Stiefel mit dem Rock toter Mädchen, sie werden nicht zittern.
Roboter haben kein Herz, sie werden nicht zittern!
Ihr Hirn hat nur ein Gesetz, ein Dokument mit tausend Lücken, das bedeutet
Des Vaterlands Massaker an der Verfassung!
Der Verfassung Massaker an der Gerechtigkeit!«

Wegen Zeilen wie diesen wurde Yiwu immer wieder verhaftet und zu absurden Gefängnisstrafen verurteilt. In seinem Zeugenbericht aus den chinesischen Gefängnissen kann man nachlesen, was er in den verschiedenen Gefängnissen erlebt hat, welchen Menschen er begegnet ist und unter welchen unmenschlichen Bedingungen er und seine Zellengenossen dort (über-)lebten. Für ein Lied und hundert Lieder konfrontiert den Leser mit Gewalt, Ignoranz und Kaltblütigkeit, er liest aber auch von dem Kampf der Gefangenen um das letzte bisschen Würde ihres Lebens.

Zahlreiche seiner Mitinsassen verließen die Aborte des chinesischen Gulags nicht mehr, wurden entweder hingerichtet oder überlebten selbst die harmlosesten Infektionen aufgrund ihrer schlechten körperlichen Verfassung nicht. Ihnen und allen anderen gibt Liao Yiwu in seinem Bericht Namen und Identität zurück. Er konfrontiert uns mit ihrem Schicksal, erzählt die Geschichten vom »Toten Liu«, Baby Nr. 7 oder Tang dem Säufer. Yiwus Buch ist ihre Gedenkstätte, auch deshalb bekommt er den Geschwister-Scholl-Preis.

Die Jury sagte zu ihrer Entscheidung, dass der Preis nicht allein dem persönlichen Schicksal des Autors gelte, der wie andere verfolgte Künstler seines Landes vielfach einer existentiellen Unterdrückung ausgesetzt war, sondern der literarischen Leistung, in einer starken, mal illusionslosen, mal bildreichen Sprache, allen Erniedrigten Chinas eine Stimme zu geben.

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Hans Peter Hoffmann & Brigitte Höhenriede. S. Fischer Verlag 2011. 539 Seiten. 10,95 Euro. Hier bestellen

»Der Schriftsteller kämpft einen literarischen Kampf für die Wiederherstellung der Menschenwürde – er ist ein großer Künstler und ein mutiger Chronist zugleich. Liao Yiwu hat seinen eigenen Kopf und seinen eigenen Ton. Gerade damit ist er im Sinne des Vermächtnisses der Geschwister Scholl ein Vorbild für alle, die gegen Ungerechtigkeit und Diktatur aufbegehren. Sein Werk steht in besonderer Weise für moralischen und intellektuellen Mut. Mit der Auszeichnung von Liao Yiwu verbindet sich die mahnende Hoffnung, dass er einmal in ein freies, demokratisches China zurückkehren möge.«

Der 1958 geborene Yiwu ist weltbekannt, weil er die chinesische Gesellschaft von unten genauer beleuchtet und uns mehr Klarheit in das kaum zu durchschauende Informations-Wirrwarr innerhalb der chinesischen Gesellschaft bringt. In den Medien werden teils sich widersprechende Meldungen gebracht, die entweder dramatische politische Ereignisse widerspiegeln oder aus denen man von gigantischen (Bau-)Vorhaben im Land der aufgehenden Sonne erfährt. Yiwu ordnet uns dieses Chaos und zeigt, was sich hinter den glänzenden Fassaden der chinesischen Prachtbauten verbirgt.

So zeigt er auch, wie die einfachen Menschen in China ihre Wirklichkeit erleben. Wir Leser können der Frage nachgehen, ob humanistische Gedanken im Reich der Mitte keine Chance haben oder politische Verwerfungen von den westlichen Medien nur massenwirksam aufgebauscht werden?

In seinen Büchern wird eher die erste These bestätigt. Das in China ebenfalls verbotene Buch Fräulein Hallo und der Bauernkaiser etwa bietet einen interessanten Einblick in den Provinzalltag. Dazu reiste der Autor landauf und landab und sprach mit einfachen Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus.

Liao Yiwu interviewte vor allem jene Menschen, die zu den Verlierern der chinesischen Gesellschaft zählen. Da ist zum einen der alte Dorfschullehrer, der sich eigenmächtig von seiner staatlichen Anstellung entfernte und zu den ersten Wanderarbeitern des Landes gehörte. Oder der Konterrevolutionär, der aus einer roten Familie stammt und nur durch einen Zufall Augenzeuge der »konterrevolutionären« Unruhen in Peking im Jahre 1989 wurde.

Bereits im Oktober 2010 durfte Liau Yiwu schon einmal auf Einladung des Internationalen Literaturfestivals nach Hamburg und Berlin reisen. Hier stellte er sein verbotenes Buch dem interessierten Publikum vor. Nicht zufällig moderierte Wolf Biermann in Berlin den Leseabend. Beide verbindet eine kritische Sicht auf unhaltbare politische Zustände. Das besondere an jenem Abend war, dass Liao Yiwu am nächsten Tag nach China zurückfliegen musste und nicht ahnte, was ihn dort erwarten würde. Trotz der eindringlichen Bitten Biermanns, nicht zurückzukehren, reiste er einen Tag später ab. Im Mai 2011 wurde Liao durch die Behörden verboten, seine Werke im Ausland vorzutragen oder zu veröffentlichen.

Nun ist er dennoch hier. Gemeinsam mit seinen Werken ist Yiwu, der der »Stolz der chinesischen Intellektuellen« ist, wie Yiwus britischer Freund Michael Day einmal feststellte, den Klauen des chinesischen Regimes entkommen. Physisch. Psychisch lassen ihn seiner Erfahrungen im chinesischen Knast nicht los. Oder wie er es in seinem Zeugenbericht schreibt: »Seelisch bin ich bis heute nicht aus dem Gefängnis herausgekommen.«

1 Kommentare

  1. […] Einerseits wurden wir Zeugen der Verfolgung des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei und des schreibenden Friedenspreisträgers Liao Yiwu – beides engagierte Gegner der chinesischen Führung. Andererseits erlebten wir die Auszeichnung […]

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