Die argentinische Regisseurin Celina Murga dechiffriert in ihrem abendfüllendem Spielfilm »La Tercera Orilla« die gesellschaftlichen Umstände, aus denen der südamerikanische Machismo hervorgeht. Ihr Hauptdarsteller Alián Devetac beeindruckt als sensibler Vaterersatz und wütender Sohn.
Gerade noch hat Jorge (Daniel Veronese) mit der Mutter (Gaby Ferrero) seiner drei Kinder geschlafen, schon ist er auf dem Weg zu Frau Nummer zwei (Gabriela Perinotto) und Kind Nummer vier. Der wohlhabende Arzt leistet sich ein veritables Doppelleben, für das er sich weder schämt noch rechtfertigt. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er als kerniger Mann, der weiß, was er will, vier Kinder mit zwei Frauen hat, die für seine Polyamourie Verständnis und Entgegenkommen aufbringen. Schließlich gibt es aus seiner Perspektive für niemanden etwas auszusetzen. Er versorgt beide Seiten mit den notwendigen Finanzen, verteilt vermeintlich großzügige Geschenke und verbringt mit beiden Familien angeregt seine Freizeit. Für Jorge besteht »die Aufgabe« eines Mannes darin, mit stolzgeschwellter Brust und dicker Brieftasche durch die Straßen zu laufen und den großzügigen Gockel im Hühnerstall zu geben. Dass Verantwortung auch etwas damit zu tun hat, Zeit und Verständnis statt Geld und Erwartungen zu investieren, ist ihm fremd.
Sein ältester Sohn Nicolás (Alián Devetac) muss das ausbaden. Er ersetzt seinen jüngeren Geschwistern den Vater und seiner Mutter den Mann im Haus. Ihre Sorgen sind seine Nöte und ihr Verzicht ist seine Pflicht. Er bringt die Sensibilität und Empathie für seine Nächsten auf, die sein Vater nicht hat. Das was er sieht, beobachtet und begreift, stimmt ihn nachdenklichen und traurig.
Jorge ist von seinem still-melancholischen Sohn nicht sonderlich angetan. Nicht dass er wahrnehmen würde, was er seinem Sohn zumutet. Er nimmt ihn als unmotivierten Weichling war, der nicht weiß, was er will. Das bereitet ihm Sorgen. Denn Nicolás, in dessen Adern sein Blut fließt, soll eines Tages in seine Fußstapfen treten – beruflich und persönlich. Er vermisst die Männlichkeit in seinem Spross. Als sein Sohn mit Spuren einer Prügelei in seinem Büro auftaucht, huscht ein stolzes Lächeln über sein Gesicht. Jorge wüsste in seinem ältesten Sohn daher gern einen ebenbürtigen Gewährsmann an seiner Seite, der mit ihm erhobenen Hauptes auf die Jagd geht – ganz gleich, ob es sich bei der Beute um Tiere oder Frauen handelt.
Nicolás versucht, so weit es ihm möglich ist, diese Erwartungen zu erfüllen. Gleichzeitig stellt sich sein Gewissen gegen die selbstgefällige Haltung des Vaters, und die Konsequenzen, die diese Haltung für seine Umwelt hat. In ihm wachsen Wut und Rebellion. Es braucht einen Schauspieler wie Alián Devetac, um die innere Diskrepanz dieses zerrissenen Sohnes, das Ringen zwischen Vaterliebe und Vaterhass, glaubhaft zu vermitteln. Devetac, der zuvor als Sänger und Musiker aktiv war, bringt eine Aura mit, in der sich die Zerbrechlichkeit des jungen Mannes wunderbar spiegelt. In seinen stechend blauen Augen spiegelt sich das Meer der angestauten Tränen, das zwischen ihm und seinem Vater liegt.
Symbolcharakter gewinnt eine Szene in einer Karaoke-Bar, in der Nicolás gemeinsam mit seiner Schwester die Zeile »Ich bin gestorben ohne zu sterben« singt. Während seine Schwester über das lustige Zusammensein mit Freunden herzhaft lacht, schreit Nicolás seinen Schmerz in die Welt. Wenn er diese Zeile brüllt, dann hat er sich und sein Leben als Ersatzvater und Mann im Haus vor Augen. Er muss dieses Leben von sich abschütteln. Für den verantwortungs- und pflichtbewussten jungen Mann ist das einfacher gesagt als getan.
Celina Murgas legt in ihrem Wettbewerbsbeitrag La Tercera Orilla den südamerikanischen Machismo im Mikrokosmos dieser Doppelfamilie offen. Sie demonstriert, wie jeder in dieser Gesellschaft sein Rollenbild erfüllt. Auch Nicolás bemüht sich weitgehend, seine Zerrissenheit den Erwartungen seines Vaters und seiner Mutter unterzuordnen. Bis er sich in einem radikalen Akt befreit.