Geschichte, Gesellschaft, Sachbuch

Bein zeigen

Ausgehend vom Epochenbruch der Französischen Revolution untersucht die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken in »Angezogen. Das Geheimnis der Mode«, welche Strukturen die Grundlage für die Entwicklung weiblicher und männlicher Mode bereitet.

Beim Verfassen dieser Zeilen trägt der Rezensent ein hellblaues T-Shirt, graue Jeans, rot-blaue Sneaker. Als Beobachtungsgegenstand dürfte er damit für Barbara Vinken nicht wirklich relevant sein. Mode steht für ihn nicht im Mittelpunkt seines Interesses, auch wenn er natürlich darauf achtet, dass das Hemd sauber ist und am Bauch nicht zu sehr spannt. Warum also ist Angezogen. Das Geheimnis der Mode, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, trotzdem eine lohnende Lektüre?

Barbara Vinkens Essay ist der Versuch, »Mode zu denken«, losgelöst von einer einfachen Abhandlung, die sich mit Modeepochen beschäftigt. Vinken, Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie in München, unternimmt es, Mode in die soziologischen, gesellschaftspolitischen Hintergründe einzuordnen. In der diskursiven Betrachtung besetzen die Gender  Studies den zentralen Raum.

Ausgangspunkt ist ein Blick aus einem Fenster in Manhattan, der den zeitgenössischen Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Mode verdeutlicht. Männer im Anzug, in Jeans oder Cordhosen, praktisch gekleidet, aber nicht figurbetont. »Bei den weiblichen Silhouetten geht es nur um Beine, Beine, Beine. Lang, sehr lang, oft bis zum Schritt sichtbar.« Während sich die männliche Erscheinung seit 200 Jahren nur in Details gewandelt hat, verlief der Wandel der weiblichen Mode weitaus drastischer. Für Vinken weist der Modewandel Gesetzmäßigkeiten und zeigt »bestimmte Strukturmerkmale«. »Modewandel hat System« und dieses System ergründet Barbara Vinken.

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Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Verlag Klett Cotta 2014. 255 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Am Beginn steht ein Epochenwechsel. Bis zur Französischen Revolution war modisch ein überwiegend männliches Attribut. Bein zeigte ursprünglich der Mann, die Renaissancemalerei liefert Zeugnisse zuhauf. So wie das weibliche Bein heute durch Absätze verlängert wird, trug vormals der Mann Absatz. Der Ursprung ist ein militärischer; der Absatz bot besseren Halt im Steigbügel. Vinken führt an dieser Stelle einen interessanten Verweis in die Gegenwart an. Waren rote Sohlen und Absätze am Hof Ludwig XIV. Per Edikt geschützt und das Tragen dem Adel vorbehalten, ist die rote Sohle heute wieder zum – rein weiblichen – Statussymbol geworden, indem Christian Louboutin die Farbe gerichtlich schützen ließ. Die Männermode wechselte unmittelbar mit dem Wechsel der Macht. Seitdem der Adel seine Machtposition an den Bürger übergeben musste, hält auch die praktische, auf Funktionalität bedachte Kleidung Einzug. Nichts sollte optisch ablenken vom Wesentlichen, dem Mann als Macht- und Funktionsträger. Weiblich wird Mode, da die Frau aus den Machtzirkeln ausgeschlossen bleibt, der Ablenkung bedarf. Wo der Mann zum Teil eines kollektiven Körpers wurde, bekam der weibliche Körper mehr und mehr eine erotische Komponente, die die Auseinandersetzung mit männlich dominierten Moralvorstellungen einschloss.

Auch am Begriff Unisex arbeitet sich Barbara Vinken ab. Suggeriert er doch ein gleichberechtigtes Nebeneinander oder Zusammen männlicher und weiblicher Elemente. Ausführlich legt sie dar, was an dieser Vorstellung von Unisex falsch ist. Unisex ist eine Einbahnstraße, die ausschließlich vom Männlichen zum Weiblichen führt. Anders: Unisex bedeutet, dass Frauen sich wie Männer kleiden. Unisex bedeutet nicht, dass Männer sich wie Frauen kleiden. Vorreiterin war Coco Chanel. So stellt sie dann auch die Frage, ob es dasselbe sei, wenn frau einen Businessanzug trägt. Antwort findet der Leser.

Schwachpunkt des Buches sind die mitunter ziellos erscheinenden Sprünge in Vinkens Argumentation. In ihrer Argumentation ist sie nicht immer stringent. Aber das ist der Gegenstand der Betrachtung auch nicht. Wenig Beachtung finden auch zeitgenössische Strömungen jenseits der großen Designernamen. Durch die schier unübersehbare Zahl an Fashionblogs, in denen Streetstyles täglich zu Hunderten präsentiert werden, verändert sich auch die Betrachtungsweise und der Zyklus, in dem Mode sich manifestiert. Gaben in Prä-Internet-Zeiten die großen Frühjahrs- und Herbstshows in Mailand und Paris die Richtung für jeweils ein halbes Jahr vor, lässt sich Mode heute nicht mehr in mehr oder weniger begrenzten zeitlichen Rahmen definieren. Schnelllebiger und diffuser wird sie. Zu wünschen wäre gewesen, dass Barbara Vinken diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit gewidmet und ihn in ihr Gedankengerüst eingeordnet hätte. Vollkommen überzeugend hingegen Barbara Vinkens Sprache. Angezogen ist ein Lesevergnügen, wissenschaftliche Betrachtungen sind ein sprachliches Korsett gegossen, das mit hoher Kunst gefertigt wurde. Auf jeder Seite schimmert durch, mit welcher Lust sich die Autorin dem Gegenstand dieses Essays gewidmet hat.

Dass Mode ein eher weibliches Terrain ist, zeigt sich vielleicht auch an einem anderen Punkt. So ist die überwiegende Zahl der Kritiker, die Vinkens Angezogen in den überregionalen Feuilletons besprochen haben, weiblich? Zu Diedrichsens Über Pop-Musik, ebenfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch nominiert, lassen sich (bislang) kaum weibliche Stimmen finden.