Comic

Terror in Berlin

Zwei in Frankreich lebende Deutsche debütieren mit dem herausragend recherchierten Berlin-Comic »Gleisdreieck«, einer Geschichte aus den 1980er Jahren zwischen gewaltbereitem Linksterrorismus und grüner Sonnenblumenrevolution.

1981 war ein Jahr der Friedensdemonstrationen. NATO-Doppelbeschluss, die Ausrufung des Kriegszustands in Polen oder die Wahl des republikanischen Hardliners Ronald Reagan ins Amt des US-Präsidenten waren nur einige Gründe, auf die Straße zu gehen. In dem Berlin-Comic Gleisdreieck spielen sie keine Rolle. Hier ist es die Wohnungspolitik des CDU-geführten Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker, die Proteste und Straßenkämpfe in Westberlin provoziert und es den Nachfolgegruppen aus dem RAF-Umfeld leicht macht, die grün-liberale Hausbesetzerszene zu unterwandern. In authentischen Bildern erzählen die beiden Wahlfranzosen Jörg Ulbert und Jörg Mailliet ihre fiktive Geschichte eines Krieges im Untergrund, der hinter den Kulissen auch ein Kampf der politischen Systeme war.

Die Perspektive, die sie dabei einnehmen, ist eine doppelte. Die Geschichte aus dem deutschen Spätherbst wird zur einen Hälfte aus der Sicht des BKA-Agenten Otto erzählt. Er kommt nach Berlin, um in der linken Szene als Undercover-Agent Informationen zu dem steckbrieflich gesuchten Terroristen Martin »Makarov« Heerleut zu sammeln. Dafür schlüpft er in dessen Rollen, imitiert ihn bestmöglich. Im ersten von insgesamt acht Kapiteln werden die Lesenden in dessen mehrstufige Annäherungsstrategie in simplen Imperativen eingeführt. »Sich in der Scene zeigen«, »Bekanntschaften schließen«, »politisch aktiv werden«, »sich radikalisieren«, »keine Demo verpassen«, »austeilen können… und einstecken« und »dadurch Glaubwürdigkeit gewinnen«.

Die andere Hälfte der Erzählung wendet sich eben jenem Martin Heerleut zu, den Otto ausfindig und dingfest machen soll. Über den »kleinen Bruder« DDR reist er mit Stasi-Schutz nach Westberlin ein, nachdem er für ein paar Jahre in den Jemen fliehen musste. Der nahöstliche Staat war ein bekanntes Rückzugsgebiet der RAF. Heerleut gehört zur linksterroristischen Bewegung 2. Juni, die sich nach dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 gegründet hatte und später teilweise in der RAF aufgegangen ist. Er kommt ohne konkrete Pläne nach Berlin zurück. Insgeheim will er Rache an den Verrätern seiner Mitstreiter nehmen.

Im Wechsel verfolgen die Lesenden das weitere Geschehen aus Ottos oder Martins Perspektive. Für beide spitzen sich am 22. September 1981 die Ereignisse zu, als Berlins selbstherrlicher Innensenator Heinrich Lummer in Schöneberg einige besetzte Häuser räumen lässt. Es kommt zu lautstarken Protesten, die unter dem energischen Einsatz von Schlagstöcken aufgelöst werden. Dabei kommt der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay ums Leben – tatsächlich war Rattay an ebenjenem Abend der erste tote Demonstrant seit der Ermordung Benno Ohnesorgs gewesen. Während Otto danach zum agent provocateur seiner Gruppe wird, die einen Sprengstoffanschlag vorbereitet, plant Martin Heerleuts Trupp die Entführung von Innensenator Lummer.

Gleisdreieck ist geprägt von den realhistorischen Verbindungen zwischen der gemäßigten Linken, der radikalen Linken und dem deutschen Linksterrorismus. Seit der Lektüre von Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex dachte man, alles Notwendige zum Deutschen Herbst zu wissen. Der in Frankreich lehrende Professor für deutsche Landeskunde Jörg Ulbert und sein deutsch-französischer Illustrator Jörg Mailliet zeigen, dass dies nicht vor neuer Erkenntnis schützt. Denn auch wenn ihre an tatsächliche Ereignisse angelehnte Geschichte keine neuen Tatsachen zum deutschen Linksterrorismus und dessen geopolitischen Verstrickungen aufzeigt, lässt sie die Ereignisse in einer Eindringlichkeit an uns vorüberziehen, die Spuren hinterlässt. Da ist es fast nebensächlich, dass bis heute weder zweifelsfrei geklärt ist, ob das BKA in Berlin tatsächlich Agenten eingesetzt hat, um gesuchte Terroristen ausfindig zu machen, noch dass die Verstrickungen der Stasi in den deutschen Linksterrorismus belegt sind. Entsprechende Gerüchte aber existieren seit Jahrzehnten, das Autor-Zeichner-Duo hat sich dieser bedient. In Gleisdreieck wird nicht Geschichte 1:1 aufgearbeitet, sondern die bundesrepublikanische Gesellschaft im Ausnahmezustand porträtiert.

Umso seltsamer ist es, dass der Comic zunächst keinen deutschen Verlag gefunden hat. Gleisdreieck erschien 2013 erstmals in dem kleinen Pariser Verlag Des Ronds dans l’O in einer sehenswerten französischen Hardcover-Ausgabe unter dem Titel Le Théorème de Karinthy. Der ungarische Schriftsteller Frigyes Karinthy stellte die These auf, dass alle Menschen über höchstens fünf Kontakte persönlich miteinander verbunden sind. Da kann das Aufspüren von Terroristen nicht allzu schwer sein, dachte sich damals wohl auch die Polizei der BRD, was der Geschichte ein Motiv und dem Band seinen Namen gab. Ursprünglich ist die »Taxi-BKA-Hausbesetzer-Terroristen-New-Wave-Geschichte« in drei Bänden geplant gewesen, in der Martin, Otto und dessen Führungsoffizier die gleiche Geschichte aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen. Der nun vorliegende schlankere Comic aus zwei Perspektiven überzeugt in der Verbindung von faktenbasierter Erzählung und fiktionaler Aufbereitung als Politthriller, wie ihn nur die Wirklichkeit schreiben kann.

In Frankreich wurde das in matten Farben gezeichnete Comicdebüt von Ulbert und Mailliet begeistert besprochen. Dennoch fand keiner der etablierten deutschen Comicverlage – auch nicht die Berliner Häuser Reprodukt oder Avant – Interesse an der Geschichte. So kommt nun der kaum bekannte Berlin Story Verlag als Herausgeber der im Vergleich zum Original etwas zu dunkel geratenen deutschen Softcover-Ausgabe zu seinem ersten Comic im Programm.

Imposant ist die Authentizität der Erzählung, die sich in Text und Bild wiederfindet. Dafür haben Ulbert und Mailliet nicht nur auf alte SPIEGEL-Ausgaben, Terroristen-Memoiren und die einschlägige Fachliteratur zurückgegriffen, sondern auch eigene Jugenderinnerungen in Berlin. Autobiografisch sind dennoch nur wenige Anekdoten, etwa die „finnische Methode“ des Bierholens sowie der Bezug zu bestimmten Orten wie dem Gasometer, dem Corbusierhaus, der Schiffbauversuchsanstalt der TU, der Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße oder dem ICC.

Cover Gleisdreieck
Jörg Ulbert (Szenario), Jörg Mailliet (Zeichnung): Gleisdreieck. Berlin 1981. Berlin Story Verlag 2014. 128 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Der Landeskundler Jörg Ulbert erweist sich als begnadeter Erzähler und Szenarist, der intuitiv die richtige Mischung aus erläuterten Hintergründen und vorausgesetztem Wissen gefunden hat, um die politischen, gesellschaftlichen und individuellen Prozesse glaubhaft zu vermitteln. Mit Jörg Mailliet hat er einen souveränen Zeichner an seiner Seite, der von der Prince-Denmark-Zigarettenschachtel über alte Zeitungstitel bis hin zu Original-Demo-Plakaten vergessene historische Artefakte wiederauferstehen ließ. Gemeinsam mit den akribisch recherchierten Straßenszenen, Berliner Szene-Etablissements und dem musikalischen Hintergrundrauschen (inklusive Playlist) gibt er der Erzählung den Anstrich einer historischen Berlin-Dokumentation zwischen gewaltbereitem Linksterrorismus und grüner Sonnenblumenrevolution.

Und wenn wir den Redner auf einer Protestkundgebung sagen hören, dass es egal sei, welches politische Lager in Berlin am Ruder sei, weil die Spekulanten und Baubonzen »immer gierig sein« und einen Weg finden werden, »ihre Filzkumpane im Senat für ihre Interessen einzuspannen«, dann rückt dieses Berlin der 1980er Jahre verdammt nah an die Gegenwart heran.