Comic

Showdown im Tal der Könige

Die drei jungen Wilden der französischen Comicszene Bastien Vivès, Michaël Sanlaville und Yves Bigerel revolutionieren mit einer Franco-Manga-Serie den europäischen Comic und legen eine Abenteuergeschichte vor, die die Leser nicht mehr loslässt. In Frankreich gerade beim Comicfestival in Angoulême als beste Serie ausgezeichnet, geht »LASTMAN« nun in Deutschland an den Start.

Man stelle sich vor, ein Filmproduzent würde Quentin Tarantino, Ang Lee und Martin Scorcese davon überzeugen, gemeinsam eine Serie zu drehen. Storyboard, Texte, Besetzung – über all diese Fragen könnten sie selbst entscheiden. Die einzige Bedingung würde lauten: alle vier Monate muss ein neuer, abendfüllender Film abgegeben werden, in dem die speziellen Talente der drei Ausnahmeregisseure zur Entfaltung kommen.

Ein solches Projekt, das für die Filmbranche utopisch ist, ist in der französischen Comicszene seit zwei Jahren Wirklichkeit. Mit Bastien Vivès, Michaël Sanlaville und Yves Bigerel alias Balak zeichnen seit Ende 2012 drei Ausnahmetalente der jungen französischen Comicgeneration an einer Geschichte, deren epochale Gestalt man bislang nur aus der Welt der japanischen Mangas kannte. Zwanzig Seiten pro Woche, drei Alben pro Jahr, zwei Zyklen à sechs Alben – willkommen bei LastMan, einem gigantischen Abenteuerroman in Text und Bild, mit dem sich die drei Franzosen vor dem dynamischen Stil der Mangas, der erzählerischen Magie des Märchens und der Spannung des Science-Fiction-Genres verneigen.

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Bastien Vivès, Michaël Sanlaville, Yves Bigerel (Balak): LastMan 1. Reprodukt Verlag 2014. 216 Seiten. 18 Euro. Hier bestellen

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der junge Kampfschüler Adrian Velba, dessen unwiderstehliche Mutter Marianne und der geheimnisvolle Richard Aldana. Es geht um Vertrauen und Geheimniskrämerei, um Loyalität und Verrat, Ehre und Ruhm – bis schließlich alles auf dem Spiel steht. Der Verlag war begeistert und startete eine Werbekampagne, wie sie Frankreichs Comicszene noch nicht gesehen hat.

Der gerade in Deutschland erschienene erste Band von LastMan erzählt von dem Jungen Adrian Velba und seiner attraktiven Mutter Marianne, die im mittelalterlich anmutenden Tal der Könige leben. Adrian träumt davon, ein großer Kämpfer zu werden. Als das alljährliche Turnier um den Großen Preis der Könige ­– ein Teamwettbewerb – ansteht, sieht er seine Chance gekommen, sich zu beweisen. Doch sein Partner lässt ihn im Stich, Adrian droht den Wettkampf zu verpassen. In dieser Situation tritt Richard Aldana in sein Leben, ein gestählter, aber im Tal der Könige vollkommen unbekannte Hüne, der ebenfalls am Wettbewerb teilnehmen will. Richard und Adrian beschließen, als Team anzutreten, um die Trophäe davonzutragen. Adrians Mutter ist alles andere als begeistert, lässt sich aber zugunsten ihres Sohnes darauf ein. Doch schon zu Beginn des Turniers muss das ungleiche Team gegen eines der stärksten Duos im Wettbewerb antreten.

Um die Serie selbst hat der herausgebende Verlag Casterman einen Mythos gestrickt, der auf allen Kanälen bedient wurde. Dass der Druck und Stress, der damit einhergeht, nicht spurlos an den drei Zeichnern und Freunden vorbeigehen wird, konnte man ahnen. Folgt man der Legende des Verlags (nachzuvollziehen in vier Episoden auf dem Casterman-Youtube-Kanal), ist es zu nach einigen durchgezeichneten Nächten zu lautstarken Auseinandersetzungen gekommen, weil Wunderkind Bastien Vivès verbissen die Storyboards und Zeichnungen seiner Mitstreiter korrigiert hat.

Das Projekt drohte schon vor dem ersten Band zu scheitern, als Projektleiter Didier Bosch eine vermeintliche Managerin aus Japan einfliegen lässt, um das Team zu coachen. Die attraktive und überaus resolute Madame Hitomi (im bürgerlichen Leben die japanische Portodarstellerin Hitomi Tanaka) bringt die drei Zeichner in unnachahmlicher Manier dazu, sich am Zeichentisch auf die eigenen Stärken zu konzentrieren. Diese hübsche Geschichte trägt ihren Teil zum legendenbildenden Werbekonzept des Verlags bei. Dass es aber beim Aufeinandertreffen von drei Ausnahmetalenten auch mal ordentlich kracht, verwundert nicht.

Ausnahmekünstler sind Vivès, Balak und Sanlaville zweifellos. Vivès ist der Shootingstar der französischen Comicszene. Das Werk des erst 30-jährigen Comiczeichners umfasst preisgekrönte Alben wie Der Geschmack von Chlor oder Polina und besticht durch seine einzigartige stilistische Bandbreite, ohne dabei willkürlich zu wirken. So erklärt in schnellen Strichen eben mal die Liebe oder präsentiert mit Die große Odaliske die Geschichte eines Kunstraubs à la Drei Engel für Charlie. Es gibt scheinbar nichts, was man ihm nicht zutraut. Deshalb ist LastMan nicht das einzige Großprojekt, an dem der langhaarige Pariser Hipster beteiligt ist. Auch bei Thomas Cadènes gezeichnetem Comicroman 6 aus 49, an dem über einhundert Zeichner mitwirken, mischt Vivès mit.

An seiner Seite stehen mit Balak und Michaël Sanlaville zwei Comickünstler, die aus dem Vollen schöpfen können, wenn es um Action und Bewegung geht. Balak ist künstlerischer Berater des US-amerikanischen Comicverlags Marvel und hatte seine Finger bei Guardians of the Galaxy und Avengers vs. X-Men im Spiel. Bei LastMan hat er das packende Storyboard geschrieben und der Erzählung ihren Drive gegeben. Ursprünglich wollten Vivès und Balak allein eine kleine Abenteuergeschichte zeichnen. Doch weil sich der Genius beider am Ende zu einer epischen Sage auswuchs, brauchten sie einen dritten Zeichner im Bunde. So kam Michaël Sanlaville ins Spiel, der die Ideen seiner Kompagnons als Seiten- und Bildarchitekt perfekt in Szene setzt. Seine in der Filmbranche angeeignete Intuition für Perspektiven und Bewegungen lässt er hier zur vollen Entfaltung kommen.

Schon auf den ersten 200 der am Ende wohl knapp 2.500 Seiten umfassenden Erzählung rammen Vivès, Balak und Sanlaville die tragenden Pfeiler ihres Epos in den Boden. Zum einen verankern sie die Geschichte räumlich in einer fiktiven Welt aus Gut und Böse. Die Welt im Tal der Könige ähnelt dem Kontinent Westeros aus der erfolgreichen US-amerikanischen Fernsehserie Game of Thrones – wenngleich hier keine Reiche miteinander in Konflikt liegen. Vielmehr ist das Tal der Könige eine abgeschiedene Insel der Glückseligkeit, in der das Mittelalter noch lebendig ist. Der Frieden in diesem Reich wird jedoch von der Welt außerhalb des großen Nebels bedroht, weshalb hier die hohe Kunst des Kampfes praktiziert wird. Das alljährliche Turnier dient dem ständigen Vergleich, um die besten Kämpfer in den eigenen Reihen zu Wissen.

Zum anderen lösen sie den Gut-Böse-Dualismus figurativ auf. Der einzige unschuldige Held in dieser Geschichte ist der kleine Adrian, der in einer Mischung aus Ehrgeiz und kindlicher Naivität das Vorhaben, den Turniersieg davonzutragen. Adrian ist das emotionale Zentrum dieser fulminanten Story; an ihm und seiner liebevollen Mutter Marianne, die eine geheimnisvolle Vergangenheit umgibt, werden sich die Leser immer wieder gerührt das Herz wärmen, wenn es kalt wird in dieser Welt. Richard Aldana ist der Draufgänger, hinter dessen harter Schale sich ein weicher Kern verbirgt. Dennoch sieht man ihm an, dass er nicht Teil dieser Welt ist, in die er hier gelangt, sondern aus dem finsteren Reich hinter den nebligen Sümpfen kommt. Neben diesen drei Hauptfiguren werden in diesem märchenhaften Prequel zahlreiche der kleinen und großen Helden und Antihelden eingeführt, die im Laufe der Erzählung – die sich zu einem dystopischen Science-Fiction-Epos über Martial Arts, mafiaartige Geheimbünde, wirre Beziehungen, geheime Liebe, tiefen Hass, skrupellose Gewalt sowie Ehre und Anstand auswachsen wird – auftauchen und tragende Rollen übernehmen.

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Mit Blick auf den kompletten ersten Zyklus ist der erste Band jedoch kaum mehr als eine Ouvertüre für das Spektakel, das in der weiteren Erzählung mit dem Verschwinden Richard Aldanas (2), der Verlagerung der Handlung in die lasterhaften Metropolen Nillipolis (3) und Paxtown (4), dem Aufstieg Adrians zu einem geheimnisumwobenen Kämpfer (5) und der Zuspitzung der Erzählung in einer geheimbündlerischen Verschwörung (6) noch folgen wird.

Auch wenn LastMan 1 als Eröffnung daherkommt, sollte man keineswegs auf darauf verzichten. Er vermittelt nicht nur die Grundlagen der weiteren Erzählung, sondern setzt stilistisch mehr als nur ein Ausrufezeichen. Die Erzählung ist als Manga inszeniert und wird, ob die Autoren das wollen oder nicht, unzählige Vergleiche mit Akira Toriyamas legendärer Serie Dragon Ball provozieren. Kein Wunder, denn Vivés, Balak und Sanlaville fahren mit den konkurrierenden Kampfschulen, der Inszenierung des gefallenen und sich wieder aufrichtenden Helden, mit sich über Seiten erstreckenden Kampfszenen, ständig wechselnden Perspektiven und schnellen Schnitten all das auf, was man bislang besser den Mangakas überlassen hat. Sie mixen dies ab mit dem Karneval des Wrestling-Sports, der westlich-kapitalistischen Variante der Martial Arts, die die Kunst vergessen und das Hauptaugenmerk auf das Spektakel legt. Zugleich wird dies in eine semireale Kulisse gestellt, die mal mittelalterlich und dann wieder dystopisch anmutet.

Sie verneigen sich mit ihrer Serie aber nicht einfach nur vor der asiatischen Erzählkunst, sondern drücken ihrer hauptsächlich in Grautönen gehaltenen Comicsaga auch ihren eigenen Stempel auf. Die Figuren haben sie deutlich realistischer gezeichnet, als es bei den oft überzeichneten Mangas der Fall ist. Ferner haben sie auf die genretypischen Bewegungslinien und andere Effekte weitgehend verzichtet. So entsteht ein von allen Nebengeräuschen bereinigtes Manga, das sich auf das Wesentliche konzentriert, alle Distanz beseitigt und gerade deshalb den Leser voll erwischt.

LastMan ist ein Mix aus Game of Thrones und Dragon Ball. Stilistisch werden hier Vivès’ sinnlicher Strich mit dem Schwung von Akira Toriyama sowie dem Realismus von Osamu Tezuka und Jiro Taniguchi gekreuzt. Diese magische, zeit- und grenzenlose Geschichte hält mit jedem neuen Band zahlreiche überraschende Wendungen bereit. Während andere Comicserien mit jedem neuen Album abbauen und an Strahlkraft verlieren, geschieht hier genau das Gegenteil. Die Distanz zwischen Leser und Lektüre wird mit jeder Seite geringer. Es ist kein Zufall, dass der sechste, den ersten Zyklus abschließende Band gerade beim Comicfestival in Angoulême mit dem Preis für die Beste Serie ausgezeichnet wurde. Angesichts des grafischen und erzählerischen Feuerwerks, das die drei Franzosen in jedem einzelnen Band abbrennen, gilt die Auszeichnung auch den fünf vorhergehenden Teilen. Der erste Band bietet nun den märchenhaften Einstieg in diese epochale Geschichte des Adrian Velba, die im europäischen Comickosmos einzigartig ist.

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