Comic

Zwischen Gegenwartskritik und Weltflucht

Das Comic(früh)jahr 2020 wird so bunt wie die Szene. Ein Blick auf die wichtigsten Themen, Genres und Publikationen – vom Newcomer bis zum Klassiker.

Vatermilch

Auf diesen Comic haben viele gewartet: zehn Jahre nach »Hector Umbra« erscheint im Juni Teil Eins von Uli Oesterles auf vier Bände angelegte Erzählung »Vatermilch« (Carlsen). Autobiografisch motiviert erzählt der Münchener darin von abwesenden Vätern und dunklen Lebenswegen. Oesterles Vater verließ die Familie in den 70ern, der Künstler war damals sieben Jahre alt. Erst viele Jahre später erfuhr er von der schweren Krankheit seines Vaters, dem Korsakow-Syndrom, das insbesondere Alkoholiker trifft. In seinem Comic macht sich Oesterle auf die Suche nach der Vaterfigur Rufus Himmelreich und füllt die Lücken in dessen Lebenslauf mit erfundenen Ereignissen. Der Comic, im Entstehen mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet, ist sicherlich der deutschsprachige Comic-Spitzentitel 2020, der am meisten diskutiert wird. Autobiografisch ist auch Claudia Ruschs Bestseller »Meine freie deutsche Jugend«, den Thomas Henseler und Susanne Buddenberg (»Grenzfall«, »Tunnel 57«) als Comic adaptiert haben (Ch. Links) sowie Wiebke Peters Wendegeschichte »Im selben Boot« (Schreiber & Leser). Außerordentlich persönlich ist Melanie Garanins Drama »Nils« (Carlsen). Die im Berliner Umland lebende Zeichnerin verarbeitet darin berührend den Krebstod ihres jüngsten Sohnes. Erst im Herbst 2019 hatte Tina Brenneisen in dem eindringlichem Comic »Das Licht, das Schatten leert« (Edition Moderne) den Verlust des eigenen Kindes reflektiert.

Unfollow

Andere Zeichner:innen verhandeln aktuelle gesellschaftspolitische Themen. In Lukas Jüligers digital-ökologischer Fabel »Unfollow« (Reprodukt) sucht eine Art Messias die Erde auf, um die Menschheit zu einem alternativen Leben zu bekehren. Begleitend lohnt sich hier sicherlich Jérémy Perrodeaus SciFi-Comic »Dämmerung« (Edition Moderne), das vom Kollaps einer künstlichen Welt handelt, in die sich die Menschheit angesichts einer untergehenden Welt flüchten wollte, sowie die dystopische Sci-Fi-Geschichte »The End« (Splitter) von Zep und Dominique Berteil. Kathrin Klingners Heldin kämpft in »Über Spanien lacht die Sonne« (Reprodukt) mit der dunklen Seite der digitalen Gesellschaft, als Redakteurin geht sie gegen Hasskommentare und Verschwörungstheorien vor. Ins Mittelreich von Fantasie und Science Fiction führen Merwan und Bastien Vivès – Mit-Autor der hinreißenden Fantasy-Saga »Lastman« – mit dem Heldenepos »Für das Imperium« (Reprodukt), das nun als Gesamtausgabe erscheint. Bei Schreiber & Leser erscheint zudem »Mechanica Caelestium«, eine Art »Die Tribute von Panem«-Erzählung von Merwan. Bei Cross Cult erscheinen mit der Fortsetzung der bildmächtigen »Isola«-Saga von Brenden Fletcher und Karl Kerschl (Cross Cult) sowie dem japanischen Manga-Hit »Demon Slayer« (Cross Cult), der 2019 sogar Dauerseller »One Piece« in den Schatten stellte, gleich zwei beeindruckende Fantasy-Comics.

Tales from the loop

Blicke in die düstere Zukunft eröffnet auch der Schwede Simon Stålenhag mit »Tales from the Loop« (neben Franz Kafkas »Der Prozess« und Margaret Atwoods »Der Report der Magd« vom Guardian als eine der zehn besten Dystopien benannt) und »Things from the Flood« (TOR), zwei weiteren illustrierten Romanen zwischen Wissenschaft und Weltuntergang, während man mit den eindrucksvollen H.P. Lovecraft-Adaptionen von Gou Tanabe, die mit »Berge des Wahnsinns« (Carlsen) fortgesetzt werden, schlicht und einfach in den Abgrund des Menschlichen blickt. Für Superhelden-Fans zelebriert Panini in »Marvel Comics 1000« die Meilensteine der 80-jährigen Geschichte des amerikanischen Comicverlags und bringt zum Kino-Hit »Birds of Prey« zahlreiche Sammelalben mit den Abenteuern der Serienheldinnen rund um Harley Quinn, Huntress und Black Canary heraus. Aus dem Spiderman-Universum erscheint zudem Chip Zdarskys »Die Geschichte eines Lebens«, ein voluminöses Album mit alternativen Echtzeit-Interpretationen aus dem Leben von Peter Parker.

Ich fühls nicht

Feminist:innen können sich 2020 auf »Julie Doucets Allerschönste Comicstrips« (Reprodukt) oder auf Lisa Frühbeis gesammelte Comickolumnen »Busengewunder« (Carlsen) freuen. Die schwedische Feministin Liv Strömquist legt mit »Ich fühl’s nicht« (avant) ein Plädoyer für eine von konsumbefreite Liebeskultur vor. In ähnliches Terrain wagen sich Reed Waller und Kate Worley mit ihrer »Omaha the Cat Dancer« (Schreiber & Leser) vor, ein weiblicher und überaus expliziter Blick auf Nacktbars und das Leben der dort tätigen Tänzerinnen im Crumb’schen Underground-Comix-Stil. Die Französin Pénélopé Bagieu präsentiert nach ihren Porträts außergewöhnlicher Frauen nun eine Adaption von Roald Dahls Kinderbuchklassiker »Hexen hexen« (Reprodukt). Fernando Gonzáles Viñas und José Lázaro legen zudem mit »Alles ist Dada« (avant) eine beeindruckende Biografie der avantgardistischen Dichterin Emmy Ball-Hennings vor (Ball-Hennings 1919 erschienener Roman »Gefängnis« erscheint als eingesprochenes Hörbuch fast parallel bei Speak Low). Wer einen kleinen Schritt aus dem Genre hinaus wagt, findet in den von Line Hosen illustrierten »Paargesprächen« (C.H. Beck) zwischen Adam und Eva, Caesar und Kleopatra, Miss Peggy und Kermit oder Batman und Robin, die Jochen Schmidt imaginiert hat, eine wunderbare (queer)feministische Abwechslung. In zwei weiteren Comics geht es um die Verarbeitung sexueller Gewalterfahrungen. Nina Bunjevac stellt sich in »Bezimena« (avant) den eigenen traumatischen Erfahrungen, Quentin Zuttion porträtiert in »En Garde« (Splitter) drei Frauen, die sich zurück ins Leben kämpfen.

Bowie

Comics eignen sich wunderbar für Charakterstudien. Ein Paradebeispiel ist Shane Simmons Meisterwerk »Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers« (avant). Nachdem das minimalistische Album jahrelang vergriffen war, wird es nun neu aufgelegt. Der Schweizer Martin Panchaud erzählt in »Die Farbe der Dinge« (Edition Moderne) im außergewöhnlichen Infografik-Stil, wie der minderjährige Simon ohne Eltern an seinen Wettgewinn kommen will. Sonderlich sind auch Anna Haifischs »The Artist« (Reprodukt) sowie Moa Romanovas Alter Ego »IdentiKid« (avant), die als Millenials zwischen Party und Panikattacken hin- und herpendeln. Etwas für Fans der Netflix-Serie »Atypical« ist »Trubel mit Ted« (Edition Moderne). Die in Mexiko geborene belgische Zeichnerin Emilie Gleason erzählt grafisch außergewöhnlich vom Alltag ihres autistischen Helden. David Bowie war in vielerlei Hinsicht eine Lichtgestalt. »Madman«-Macher Michael Allred zeichnet in »BOWIE – Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume« (Cross Cult) die Karriere der Pop-Legende nach. Im Licht des Ruhms stand Zeit seines Lebens auch »Asterix«-Autor René Goscinny, der 1977 bei einer Routineuntersuchung viel zu früh stirbt. Seine Tochter Anne geht in »Die Geschichte der Goscinnys. Geburt eines Galliers« (Carlsen) gemeinsam mit der Zeichnerin Catel der Lebensgeschichte ihres berühmten Vaters auf den Grund.

Sacco

Viel Aufmerksamkeit bekommen zweifellos auch die neuen Titel von renommierten Autoren wie Joe Sacco, der in »Wir gehören dem Land« (Edition Moderne) von den indigenen Bewohnern Kanadas erzählt. Von Charles Burns, dem Meister des Surrealen, erscheint mit »Daidalos« (Reprodukt) ein neuer surrealer Alptraum. Erfolgsautor Riad Sattouf (»Der Araber von morgen«) schreibt »Esthers Tagebücher« (Reprodukt) fort, seine junge Heldin wird im neuen Band zahnbespannt Teil der schrägen Teenager-Welt. Mit dem 18. Band endet die legendäre Zombie-Serie »The Walking Dead« (Cross Cult) von Robert Kirkman und Charlie Adlard, während Frank Miller mit seiner Illustration von Thomas Wheeler »Cursed« (TOR) die grafische Vorlage für die gleichnamige Netflix-Verfilmung liefert. Erstmals deutschsprachig entdecken kann man zudem den amerikanischen Indie-Autor Noah von Sciver, dessen voluminöse Satire auf den amerikanischen Literaturzirkus »Fante Bukowski« (avant) 2020 erscheint. Und wenn dem Japaner Yoshiharu Tsuge beim Comicfestival in Angoulême eine große Werkschau gewidmet wird, kann man hierzulande nach »Rote Blüten« mit »Der nutzlose Mann« (beide Reprodukt) seine Geschichte eines gescheiterten Zeichners mit dem Titel entdecken. Parallel führt der Reprodukt-Verlag die Werk-Ausgabe von Shigeru Mizuki mit den Erinnerungen an seine »Kindheit und Jugend« fort.

Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien im tip Berlin 1-2020.

6 Kommentare

  1. […] die Erzählerstimme im ersten Kapitel, die klingt, als gehörte sie einem seiner Jünger. Jüligers hoch gehandelter Comic, der es 2019 unter die Finalisten für den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung geschafft […]

  2. […] Figuren für Irritation sorgt, spricht Bände. Und bestätigt im Grunde auch das, was die schwedische Comiczeichnerin und Feministin Liv Strömquist in ihren Comicalben immer wieder zeigt. Die hatte in Ihrem vorletzten Comic »Ich fühl’s nicht« […]

  3. […] hat nicht wenige Feminist:innen ihr letzter Comic »Ich fühl’s nicht«, ein Plädoyer für die Liebe und damit ein Gegenentwurf zu ihrer kritischen Analyse von Rollenmustern und Liebesfallen in »Der […]

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