Comic

Die Hoffnung auf eine zweite Chance

Bryan Lee O’Malleys »Scott Pilgrim« ist einer der erfolgreichsten US-Comicserien der vergangenen Jahre. Seit 2010 war es still um den kanadischen Cartoonisten. Vor wenigen Monaten ist mit »Seconds« seine erste abgeschlossene Geschichte erschienen. Ein Geniestreich.

In Guillermo del Toros bildgewaltigem Panoptikum Pans Labyrinth nimmt eine bluthungrige Alraune magisch Einfluss auf die sich überschlagenden Ereignisse. In Seconds, der neuen, epischen Erzählung von Scott-Pilgrim-Autor Brian Lee O’Malley, sind es keine mystischen Wurzeln, sondern Pilze, die den Lauf der Welt verändern. Deshalb passt es ganz gut, dass Oscar-Regisseur del Toro neben Scott McCloud auf der Banderole von O’Malleys neuem Comic eine Lobeshymne anschlägt.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der quirlige Rotschopf Katie, die mit ein paar Freunden ein kleines Szene-Restaurant gegründet hat. Vier Jahre später ist Katie ausgebrannt, das Gemeinschaftsrestaurant Seconds ist mehr Last als Lust. Katie war der Star des Restaurants, alle haben davon profitiert, doch sie will ihren Ruhm nicht länger teilen. Deshalb will sie ein neues Restaurant aufmachen. In einem alten, aber majestätischen Gebäude laufen bereits die Sanierungsarbeiten, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Noch ist ihr Lebensmittelpunkt aber das bestehende Restaurant, über dem sie in einer kleinen Wohnung lebt. Diese Welt ist geprägt von dysfunktionalen Beziehungsgeflechten. Von ihrem Ex-Freund Max kommt sie nicht los, mit dem neuen Chefkoch Andrew verbindet sie eine leidenschaftliche Hassliebe und die unscheinbare Kellnerin Hazel wirbelt ihr Leben mit Geistergeschichten durcheinander. Um dieses Beziehungstriumvirat ordnen sich weitere Sidekicks wie Katies künftiger Geschäftspartner Andrew, ihr aktueller Chef Ray, Patrick der Hilfskoch und Yana, die Vorzeigekellnerin.

Und dann ist da noch Lis, der blonde Hausgeist, den Katie eines Nachts leuchtend auf ihrer Kommode erblickt. Lis lässt ein Notizbuch, einen Pilz und einen Zettel mit folgender Nachricht zurück: »1. Schreib Deinen Fehler auf! 2. Iss einen Pilz! 3. Geh schlafen! 4. Wache neu auf!« Hinter diesen vier Imperativen verbirgt sich die Zauberformel, mit der Katie die Zeit zurückdrehen kann, um einen bereits begangenen Fehler auszumerzen. Katie entdeckt den Pilzvorrat und korrigiert fortan unaufhörlich ihr Schicksal. Aber mit jeder neuen Welt, die sie sich erschafft, verirrt sie sich mehr im Labyrinth des Lebens.

Der Titel dieses Comics ist ein semantisches Spiel. In Seconds steckt nicht nur die Sekunde, sondern auch die zweite Chance. Katie greift in die Sekunden ein, die jedem Leben eine Richtung geben. Sie sucht ihre zweite Chance. Dieses Thema hat einen autobiografischen Touch, denn die riesige Anerkennung, die der schwarzweiß gezeichneten Scott-Pilgrim-Reihe zuteil wurde, lastete schwer auf den Schultern O’Malley. Mit Seconds tritt er – wie Katie mit ihrem neuen Restaurant – die Flucht nach vorn an, um sich neu zu erfinden.

Seconds 7

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Bryan Lee O'Malley

Es spricht einiges dafür, dass es ihm gelingt. Als der Comic Ende Juli 2014 herauskam, gehörte er beim Marktbeobachter ICv2 auf Anhieb zu den fünf bestverkauften Alben in der Kategorie »Graphic Novels«. Zwischen August und November hielt sich der Comic auf der New York Times Bestsellerliste ohne Unterbrechung unter den Top-Ten Hardcover Graphic Books, anfangs lag er wochenlang unangefochten auf Platz eins. Beim einflussreichen The Comic Journal erschien schon am Tag nach Erscheinen der US-Publikation ein begeistertes Gespräch mit O’Malley.

Die neue Erzählung des Amerikaners ist zugleich Abschied und Fortschreibung der Scott-Pilgrim-Serie. Wurden darin die Chancen und Grenzen der Twentysomethings gezeigt, beleuchtet Seconds die Hoffnungen und Zwänge der Dreißiger. In beiden Comics zeichnet O’Malley das Porträt seiner Generation und macht deutlich, dass auch er älter wird. Katie scheint die reifere, wenngleich immer noch nicht erwachsene Version von Scott Pilgrim zu sein, die ihren Weg sucht. Zugleich verabschiedet die Erzählung die nerdige Gamer-Szene von Scott Pilgrim und begrüßt die Leser im Hipster-Ambiente von Katies Szene-Restaurant. Der Kanadier holt seine Leser atmosphärisch da ab, wo sie sind. Das klingt einfach, ist aber große Kunst.

9780345529374
Brian Lee O’Malley: Seconds. Ballantine Books 2014. 323 Seiten. 17,99 $. Hier bestellen

Wie bewährt arbeitet der Kanadier auch hier mit Überzeichnungen. Seine Charaktere bewahren durch die Manga-Optik zwar ihren kindlichen Charme, stecken aber bis zum Hals in den Nöten der Erwachsenen. Dies trifft insbesondere auf Katie zu, die kleiner als alle anderen Figuren gezeichnet ist (ihre Mähne ruft zusätzlich Akira Toriyamas kindliche Dragon-Ball-Helden in Erinnerung), sich emotional aber in einer ausgewachsenen Midlife-Crisis befindet. Bei ihr beweist sich O’Malley einmal mehr als Meister des Gefühls. Ihre Emotionen bleiben nicht verborgen, sondern brechen mit der raumgreifenden Dynamik mangaesker Kampfszenen aus.

Obwohl hiesige Kritiker und Experten von der grafisch-erzählerischen Genialität überzeugt waren, fand die bei Panini erschienene Scott-Pilgrim-Serie hierzulande nur mäßig Absatz. Ob der neue Titel des Kanadiers den Sprung auf den deutschen Markt schafft, ist daher unklar. Der Verlag hält sich bedeckt, der Titel sei »bislang nicht geplant«, so Panini-Sprecher Steffen Volkmer. Eine Nachfrage bei Carlsen, Reprodukt und avant ergab, dass Seconds dort nicht überzeugt hätte.

Eine deutsche Ausgabe wäre wünschenswert, denn O’Malleys naiver Stil ist detaillierter, runder und ausgereifter geworden. Die Farbgebung von Nathan Fairbairn erinnert ferner an die Ästhetik von Hayao Miyazaki und trägt zum surrealen Gesamteindruck der Geschichte bei. So zeigt Seconds das halbreale Paralleluniversum, das die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit füllt.

Hier in den Comic hineinlesen.

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