Comic

Die faszinierende Welt der Minicomics

Zines sind ein Kulturgut der Neunten Kunst, das dank Hipstertum und Kunsthochschulen an Aufmerksamkeit gewinnt. In dieser unterschätzten Subkultur wächst seit Jahren der Comic-Nachwuchs heran. Porträt einer Szene, die sich am Wochenende bei der Comicinvasion Berlin versammelt.

Sie liegen in kleinen Stapeln neben der Kasse oder werden in versteckten Kramkisten gesammelt. Meist sind die kleinen Heftchen geklammert, manchmal werden die kopierten Seiten von einem Pflaster zusammengehalten, hin und wieder findet man auch Exemplare mit einer liebevollen Fadenheftung. Die Rede ist von Minicomics, auch (Comic-)Zines oder DIY-Comics genannt. Die Abkürzung steht für Do-It-Yourself, denn genau das ist es, was Zines ausmacht. Die unkommerziellen Heftchen werden in gemeinhin in kleiner Auflage von einer Person oder einer kleinen Gruppe selbst produziert. Von weird-sexistisch über simpel-narrativ bis hin zu bis kunstvoll-avantgardistisch hält dieses anarchistische Medium alles bereits, was man sich vorstellen kann. So wurden Zines für Subkulturen wie Punk oder Gothic, Hooligans oder queer-feministische Gruppen zu einer relevanten Informationsquelle.

Nur wenige in Berlin kennen die Szene so gut wie Carolin Wedekind. Sie betreibt den feministischen Minicomic-Zine-Illustration-Blog foxitalic mit und organisiert federführend das Zinefest Berlin, das wichtigste Treffen der Berliner Zinester (so nennen sich die Verfasser der DIY-Heftchen). Seit vier Jahren findet es immer im November statt. Das Zinefest ist ein echter Publikumsmagnet geworden. Fast eintausend Menschen kamen im November 2014, um sich mit den neuesten Fan- und Perzines auseinandersetzen. Die Comic-Zines bildeten in diesem vielfältigen Kosmos der Subkultur aber nur einen kleinen Ausschnitt. Wie viele davon Zines machen, kann sie nicht genau sagen, Wedekind schätzt die Aktiven allein in Berlin auf eine mittlere dreistellige Zahl.

Comicinvasion Berlin 2014
Comicinvasion Berlin 2014

Marc Seestaedt ist nah an den Comic-Zinestern dran. Als Macher der Berliner Comicinvasion bindet er die Zine-Kultur bewusst in das Indie-Comicfestival ein, dass er als »Förder- und Vernetzungsfestival« für den Nachwuchs verstanden wissen möchte. Es gehe ihm darum, »die zu supporten und zu featuren, die sonst vor allem allein zu Hause rumsitzen, Stories kritzeln und dabei denken, dass sich das am Ende eh keiner anschaut.« Dabei seien diese Geschichten nicht selten besser als die von so manchem Profi. In Seestaedts Augen kommen einige »Erfolgszeichner« nicht über Hobby-Niveau hinaus, während er im Zine- und Do-It-Yourself-Comicgenre immer wieder Leute entdeckt, »die ganz billig kleine Zines machen, die mich total beeindrucken.« Vor allem deren Arbeiten müsse man zeigen, da die wenigen Comicprofis »von Goethe in die ganze Welt verschickt« würden und die meisten Preise erhielten, »weil sich Jurys ungern mit unbekannten Namen befassen«.

Die Macher der Comicinvasion haben das hingegen getan und ihren letztjährigen Zine-Preis an Lisa Neubauer und ihren Einhorn-Berlin-Strip verliehen. Auch bei der diesjährigen Comicinvasion, die an diesem Wochenende stattfindet, wird wieder die Szene zum Klassentreffen zusammenkommen und sich selbst feiern (siehe Titelbild). Auch das macht den Charme dieser unabhängigen Szene aus.

In Berlin ist dieser Ausschnitt von einiger Bedeutung, von nicht wenigen der namhaften Comiczeichner gibt es noch irgendwo selbstverlegte Kopierhefte der ersten Tage. Eine gute Anlaufstelle, um auf solche Raritäten zu stoßen, ist das Kreuzberger Archiv der Jugendkulturen, wo nach Auskunft von Peter »Auge« Lorenz knapp 500 Comic-Fanzines existieren.

Comicinvasion Berlin 2014
Comicinvasion Berlin 2014

Lorenz selbst betreibt in Mitte die Comicbibliothek RENATE, die so etwas wie das Berliner Zentrum der Comic-Zinester ist. Hier treffen sich erfolgreiche Zeichner und Nachwuchskünstler einmal im Monat zum Comicstammtisch, um sich auszutauschen, Kooperationen zu suchen und Projekte anzustoßen. In der Bibliothek findet man alte Zines von Mawil und Co., im angrenzenden Shop auch selbstverlegte Neuerscheinungen. Seit 1990 gibt Lorenz auch das RENATE-Fanzine heraus, eine Art thematische Anthologie von Arbeiten aus dem RENATE-Umfeld. In den bislang erschienen 22 Ausgaben haben sich »etablierte« Comickünstler wie OL, Mawil, Reinhard Kleist, Isabell Kreitz, Andreas Michalke, ATAK und Ulli Lust verwirklicht. Selbst Stereo-Total-Sängerin Francoise Cactus und Chuckamuck-Frontmann Oska Wald sind in mehreren Ausgaben vertreten. Einige von ihnen fühlen sich nach wie vor in der anarchistischen Szene der Fanzines am wohlsten und zeichnen trotz Verlagsbindungen für die Fanzines. Mawil hat das den Gerüchten zufolge sogar mal ein zwischenzeitliches Fanzine-Verbot seines Verlags eingebracht.

Eine der wichtigsten Vertreterinnen der aktiven Berliner Zinester ist Ulla Loge. In regelmäßigen Abständen bringt die Berliner Zeichnerin ihre kleinen, selbst kopierten Hefte heraus. Dabei begeistert sie jedes Mal das Durchlaufen des kompletten Produktionsprozesses, das Zeichnen, Kopieren, Schneiden und Binden. Danach wird es aber anstrengend, das Verteilen und Abrechnen der verkauften Hefte in den jeweiligen Läden gehört nicht zu ihren Lieblingsaktivitäten. »Ich bin da ein bisschen nachlässig und hätte schon gern jemanden, der das für einen macht. Nicht alle sind so, aber ich glaube, es gibt viele Hobbyzeichner, die ihr Geld nicht abholen«, meint Loge. Wegen fünf bis zehn Euro durch ein paar verkaufte Hefte führen halt nur wenige durch die halbe Stadt.

Dennoch wächst die Szene, weil Zines vor allem für Anfänger ein tolles Trainingsgelände sind. »Fast alle, die Comics machen, haben auch mal Zines gemacht«, meint Loge. Die meisten begännen mit Kurzgeschichten und Anekdoten, bevor sie sich an den umfangreichen, mehrere hundert Seiten umfassenden Riesencomic wagen und an einen Verlag wenden. Ganz nebenbei lerne man eine Menge über Reproduktion und Zeichentechniken.

Das Comickollektiv Treasure Fleet ist neben der RENATE-Crew eine weitere Institution in der Berliner Zine-Szene. Zinester wie Anna Haifisch und Sharmila Banerjee sowie die drei Macher der Edition Biografiktion Ana Albero, Till Hafenbrak und Paul Paetzel gehören zum festen Kreis der hier versammelten DIY-Comicriege, die zum Teil beim britischen Verlag nobrowpress versammelt sind. Aber auch Comicautoren wie Brecht Vandebroucke, Mikkel Sommer, Marjipol, Geneviève Castrée, Michael DeForge, Julia Gordon oder Aisha Franz, die alle auch mit einem Bein in der etablierten Comiclandschaft stehen, sind Teil dieses Zusammenschlusses. Ihre Arbeiten erscheinen hauptsächlich bei den beiden Berliner Verlagen Reprodukt und avant sowie im Stuttgarter Verlag Zwerchfell, im amerikanischen Sprachraum sind die meisten beim kanadischen Verlag Drawn & Quarterly beheimatet. Renommierte Autoren wie Adrian Tomine, Sarah Glidden, Jason Lutes oder Chester Brown sind hier zuhause, viele haben eine Smallpress-Vergangenheit hinter sich. Tomines längst nicht mehr selbst gedruckten Optic Nerve-Hefte (im Oktober gibt es das neue, 14. Heft) etwa sind feine Sammlerstücke in der Comicszene.

Einer der Köpfe hinter Treasure Fleet ist Till Thomas, der 2010 Treasure Fleet als Onlinehandel für Mini- und DIY-Comics gegründet hat. Mit den Produzenten des Sortiments entstand das Comickollektiv, das im Gegensatz zum Onlineshop noch aktiv ist. Dem Wahlberliner ist mit seinen Minicomics ebenfalls der Sprung in die Verlagslandschaft gelungen. Seine eigenwillig-schräge Abenteuergeschichte der Bibliothekarin Elisabeth und ihres vierbeinigen Lovers Rezzo ist im vergangenen Frühjahr bei avant erschienen. Rezzo und Elisabeth hatte er zuvor unter dem Titel Zirp im Eigenverlag als Minicomic-Serie herausgegeben.



Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin
Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin

Fast alle Comiczeichner hätten mit selbstverlegten Kopierheften begonnen, meint Thomas. Gelungene Zines und Minicomics könnten seiner Ansicht nach in keiner anderen Form existieren. »Junge Autoren machen hier ihre erste Schritte bevor möglicherweise Verlage auf sie aufmerksam werden aber auch ältere Semester kehren für Projekte wieder zu dieser Veröffentlichungsform zurück, weil sich hier unmittelbarer, kompromissloser arbeiten lässt.« In den letzten zehn Jahren habe sich die Zine-Kultur aber enorm verändert, es habe ein Qualitätssprung stattgefunden. »Viele Produzenten scheinen gleichermaßen um Form wie Inhalt bemüht zu sein. Das Internet hat mit seiner Vielzahl von Beispielen gelungener Hefte und Bücher sicher seinen Teil  zu einer Professionalisierung in der Herstellung beigetragen.« So gut wie aktuell sei die Szene noch nie gewesen, räumt auch Comicverkäufer Christoph Wienke vom Comicladen Grober Unfug ein. Gut gemachte Zines, die in das Sortiment passen und zu einer sinnvollen Durchmischung beitragen, kauft der Laden deshalb an.

Eine weitere bemerkenswerte Basis für den Indie-Comic ist die Comic-Anthologie SPRING, die ausschließlich von Comiczeichnerinnen aus dem Umfeld der Hamburger Design-Professorin Anke Feuchtenberger herausgegeben wird. Erfolgreiche Künstlerinnen wie Birgit Weyhe, Marjipol, Ulli Lust oder Barbara Yelin gehören dazu. Wie eng das Verhältnis von Zine-Kultur, Fachhochschulen und Kunstakademien zuweilen ist, macht auch das Verlagsprojekt Slalompress deutlich, das der Illustrator und Grafiker Joe Villion 2010 ins Leben gerufen hat. Bei den hier verlegten Arbeiten gehe es nicht um Vermarktung, sondern um das Experimentieren mit ästhetischen Herangehensweisen und Produktionsmöglichkeiten, erklärt Villion auf seiner Seite. Nichts anderes will die Zine-Kultur erreichen.

Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin
Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin

Das Internet spielt dabei eine immer größere Rolle, weil es die Möglichkeit einer größeren medialen Verbreitung sowie zur besseren Vernetzung bietet. Ulla Loge etwa ist Teil des internationalen Zusammenschlusses von Frauen, die den feministischen Comicblog Chicks on Comics betreiben. Ulli Lust betreibt ihren Blog electrocomics, wo regelmäßig bemerkenswerte Comics und Strips erscheinen, die nicht den Weg in die Verlage finden. Ein Phänomen, auf das man immer öfter stößt, ist der Weg aus dem Internet in einen Verlag. Die Kanadierin Kate Beaton etwa hatte 2007 ihren ersten Netzcomic online gestellt, inzwischen wird sie von Drawn & Quarterly verlegt. Ihre ironischen Anekdoten zwischen Politik, Geschichte und Kultur sind unter dem Titel Obacht! Lumpenpack vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung bei Zwerchfell erschienen.

Die Comicläden in Berlin gehen auf ganz unterschiedliche Weise mit Zines um. Oft nehmen Comicläden die Do-it-yourself-Comics nur gegen Kaution an und behalten bei Verkauf einen Teil des Erlöses ein. So etwa das neurotitan im Haus Schwarzenberg in Mitte, wo Zines, Minicomics und Siebdruckhefte zum Standardsortiment gehören. Als »Umschlagplatz für experimentelle und ungewöhnliche Waren« wolle man so wenig bekannten Künstlern sowie Studenten und Absolventen von Kunsthochschulen eine Verkaufsplattform bieten, erklärt Meike Danz. Ähnlich geht der Geschäftsführer von Modern Graphics in Kreuzberg Michael Wießler vor. Als Kulturgut der Neunten Kunst will er die Zines mit ihrem »Retrocharme« in seinem Laden nicht missen, allerdings habe er kaum noch Zeit, sich mit der Szene intensiv auseinanderzusetzen, erklärt er mir. Die DIY-Comics wirken hier als in Kisten und Boxen gelagerte Heftchen wie eine Hommage an eine Zeit, die es so nicht mehr gibt.

Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin
Zinefest Berlin 2014 | Foto: Zinefest Berlin

Allerdings kann man mit Minicomics kein Geschäft machen, viele der Aktiven haben Brotjobs, um ihr Hobby zu finanzieren. Das ist kein deutsches oder europäisches Phänomen, sondern liegt in der Natur dieser irgendwie anarchistischen Sache. Das meint auch Ulla Loge. »Eigentlich will man nur die Druckkosten wieder reinbringen, die je nach Format und Umfang bei unter fünf Euro liegen. Gesichert ist dieses Einkommen jedoch nicht, so dass sie, um sich dieses Hobby auch weiterhin leisten zu können, aktuell an einer ersten Verlagspublikation arbeitet und nebenher bei Modern Graphics aushilft.

Warum man Zines nicht kommerziell machen kann, erklärt Carolin Wedekind. Es gehe darum, sich selbst zu verwirklichen, ohne Rücksicht auf Wirtschaftlichkeit oder verlegerischen Wohlgefallen. DIY eben, ein Produkt von Anfang bis Ende durchgestalten und dabei nur den eigenen Ansprüchen genügen (im Rahmen der produktionstechnischen Möglichkeiten). Um Geld gehe es dabei nicht, das Ganze sei ein schönes Hobby, von dem sich manche mehr erhoffen und einige auch mehr schaffen, erklärt Wedekind. Die meisten wollen aber einfach nur das »merkwürdige kleine Heft, wo einem niemand reinredet« machen.

Wer sich in diese merkwürdigen kleinen Hefte vertiefen und die Vielfalt der nicht-kommerziellen Comic- und Illustrationsszene kennenlernen möchte, sei auf die verschiedenen Zine-Feste verwiesen oder sollte am Wochenende bei der Comicinvasion in Berlin vorbeischauen.

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