Wie erzählt man vom lärmenden Brand des Zweiten Weltkriegs? Marcel Beyer fand in seinem als Sprachkunstwerk gerühmten Roman »Flughunde« die richtigen Worte. Die preisgekrönte Comiczeichnerin Ulli Lust hat den Roman nun mit den noch besseren Bildern als Comic adaptiert.
Grau ist die Farbe der Weltkriegsbomber, die ihre vernichtende Fracht auf die Erde niedergehen lassen. Grau ist die Farbe des Himmels, aus denen es ununterbrochen Bomben und Wasser regnet. Grau ist der Matsch der Schützengräben, in denen Stunde um Stunde gestorben wird. Und grau sind die Wände der Bunker, die noch jene schützen, die das verheerende Sterben des Zweiten Weltkriegs verursacht haben. Grau ist der Ton des Weltuntergangs, und auch die dominierende Farbe in Ulli Lusts Comicadaption von Marcel Beyers verstörendem Weltkriegsroman Flughunde. Die in Berlin lebende Österreicherin sorgte 2009 mit ihrer aufregenden autobiografisch geprägten Comic-Erzählung der Selbstfindung und Emanzipation einer jungen Frau mit dem Titel Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens für Aufsehen. Für den Comic erhielt sie 2010 den ICOM-Preis 2010 für die beste deutsche Comicpublikation und den Max & Moritz-Publikumspreis beim Erlanger Comicsalon im Jahr darauf gewann sie den Preis für die größte Entdeckung bei Europas wichtigsten Comicfestival in Angoulême (Prix révélation). Der 450-Seiten-Band ist inzwischen ein internationaler Spitzentitel und einer der erfolgreichsten Comic-Exporte deutscher Sprache. Im renommierten Suhrkamp-Verlag ist nun ihre grandiose Comic-Adaption von Marcel Beyers Roman erschienen.
Dieser ist vor allem aufgrund seiner akustischen Komponenten verstörend. Die Fragen von Schall und Akustik, von Sprache und Geräusch, von Lärm und Stille stehen im Zentrum von Beyers Roman. Seine Geschichte lebt von dem, was ans und ins Ohr dringen kann. Er ist, wenn man so sagen will, kein visueller Roman, evoziert kaum direkte Bilder. Vielmehr lässt Beyers Werk die Welt, von der seine beiden Erzähler berichten, über einen Umweg vor unserem inneren Auge entstehen: Sie dringt durch das Ohr in unseren Kopf. Diese auditive Qualität verunmöglicht auf den ersten Blick eine Comicadaption, lebt doch die Neunte Kunst vor allem vom Bild und seiner Wirkung im Zusammenspiel mit der Sprache. Ulli Lust aber ist es gelungen, einen akustischen Comic zu zeichnen, indem sie sich auf den Gipfel der Onomatopöie begeben hat. Es gibt keine Seite, auf der nicht von Geräuschen erzählt wird, die uns visuell-grafisch an unser inneres Ohr herangetragen werden. Der Klang des europäischen Weltenbrands, von dem Ulli Lust hier in dem ihr eigenen naiv-wildem Strich erzählt, ist gewaltig. Mit einem dröhnenden »ROOAAARRRR« fliegen die Bomber über Berlin, mit einem gewaltigen »WWAM« und »KAWUMM« schlagen die Bomben ein und die Flugabwehr durchbricht mit einem unaufhörlichen »RATATATAT« die Nacht.
Flughunde wühlt aber auch aufgrund der erzählerischen Perspektiven auf. Beyer lässt seinen Roman um den Schall- und Akustikforscher Hermann Karnau aus zwei Perspektiven erzählen – aus der des fanatischen Wissenschaftlers und aus der von Helga Goebbels, der ältesten Tochter von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Karnau erzählt zunächst, wie er eine »Lautsammlung« erstellt und alltägliche Geräusche »gnadenlos« auf Schellackplatten speichert, vom Hüsteln, Räuspern oder Nasehochziehen bis hin zum Schnaufen und Stöhnen von Bordellbesuchern. Karnau fragt sich, ob es Aufnahmen gibt, die er nicht durchführen würde, und kurz darauf sehen wir ihn über die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs eilen und Mikrophone aufstellen. Er will die »Totengesänge« der jungen Soldaten aufnehmen und »die ganze Nachtlandschaft« des Sterbens akustisch entstehen lassen: »Ein Nachtgesang, der langsam schwächer wird. Doch: Auf dem Tonband flimmern unbeirrt die magnetisierten Teilchen und richten sich je nach Klanglage aus. Jetzt kehren sie an ihren Ursprung zurück, die Sterbenden, da sie ihre Stimme nicht mehr halten können, die Stoßseufzer in verschiedenen Tonfärbungen, das Ächzen, Gurgeln, das Erbrechen von Dreck und Finsternis. Welch ein Geschehen. Welch ein Panorama.« Ulli Lust zeichnet hier nahezu schwarze Bilder, das schmutzige Rostrot der Menschenschlächterei im Graben durchzieht die Seiten und wie neblige Rauchschwaden steigen leere Sprechblasen aus der Dunkelheit auf – der schwächer werdende Nachtgesang der sterbenden Soldaten.
Karnau beschreibt sich selbst als »Stimmenstehler« und noch bevor er bei den Nationalsozialisten zum skrupellosen Wissenschaftler wird spricht er von sich vom »Landvermesser des Menschenmaterials«. Im Auftrag der SS wird er zum Erforscher des artikulatorischen Apparats und wird mit medizinischen Eingriffen untersuchen, an welchen Organen welche »Modifikationen« und »Manipulationen vorgenommen werden müssen, um bestimmte Effekte zu erzielen. Mit absurden Menschenversuchen wird er zum Experten für alles Akustische, für die Wirkung der Stimme und Sprache, für den Rhythmus aus lärmender Urgewalt und betörender Stille. Er wird der theoretische Vater einer ebenso perversen wie törichten Wissenschaft, die die Instrumentalisierung der Sprache auf die Spitze treiben will. Karnau vertritt allen ernstes die Ansicht, dass er mit dem Erfassen der Stimme »bis in die Tiefe eines jeden Menschen greifen« und von diesem Besitz ergreifen kann. Er wird von Goebbels Tontechniker zum Rhetoriklehrer und wandelt sich dabei vom skeptisch-distanzierten Akustiker zum skrupellos-bestialischen Forscher. Dabei schwindet nicht nur seine Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie, es wächst auch seine Nähe zur Familie Goebbels.
Dass mit der Stimme der Griff in die Tiefe eines Menschen möglich ist, dieser Ansicht war zweifellos auch Hitlers oberster Propagandist Joseph Goebbels, der mit seinen wutschnaubenden Reden die deutsche Bevölkerung erst zum »totalen Krieg« aufrief und dann den fanatischen Glauben an einen »Endsieg« selbst dann noch eintrichterte, als die Menschen schon längst in Schutt und Trümmern lebten. Umso beklemmender ist Beyers Kunstgriff, die älteste Tochter von Goebbels davon erzählen zu lassen, wie der vom Vater beschworene Krieg ein ganzes Land ergreift. Naiv lässt Beyer die anfangs achtjährige Helga vom oft abwesenden Vater, der depressiven Mutter und den verschwindenden Nachbarn erzählen, lässt im Laufe der Erzählung ihren Blick weiter und reifer werden, bis sie am Ende wissend als Zwölfjährige von ihren Eltern im Führerbunker neben ihren Geschwistern umgebracht wird. Zwar wird Helga im Laufe des Romans ahnen und begreifen, aber dennoch bleibt sie naives Kind und politisch blinde Tochter. Beyer lässt mit ihr aus dem Zentrum des nationalsozialistischen Lärms eine vollkommen unschuldige Stimme berichten. Lust gibt dieser Stimme eine eigene visuelle Sprache, nimmt ihr das dunkle des faschistischen Lärms. Nur wenn diese direkt aufeinanderprallen, kann dies nur sprachlich gelöst werden: »Es wird auch Zeit, dass wir nach Hause können. Unsere Geschwister werden gar nicht glauben, was wir hier erlebt haben«, denkt Helga am Ende der rasenden Rede vom »Totalen Krieg« ihres Vaters kindlich pragmatisch.
Parallel zu dieser tobenden Rede sieht man Karnau seine absurden Experimente durchführen. Er sperrt Menschen in Käfige und lässt sie in der absoluten Dunkelheit vor sich hin vegetieren, um zu sehen, wann sie zur Verständigung ihre Stimme erheben. Er schnippelt an dem Stimmband eines Häftlings herum, bringt Mikrophone in seinem Hals an, um dessen Schreie direkt am Stimmband aufzuzeichnen – »in nächster Nähe zur Schallquelle«, um eventuelle Sonderfrequenzen aufzufangen. Und als er Stromstöße in die Stimmorgane leitet, entfährt seinem Versuchssubjekt ein verzweifelt kreischendes Brüllen »ARRR ROOOO AORRR« – das Dröhnen der Flieger am Himmel klingt ähnlich.
Die Faszination von Lusts Adaption besteht darin, dass sie mit ihren Bildern genau das aus Beyers Roman kitzelt, was der Vorlage fehlt – Visualität. Sie führt die erzählerisch getrennten Erzählstränge wieder zusammen (ohne sie zu vermengen!) und lässt zugleich die dem Kriegslärm zugrundeliegende Grausamkeit des nationalsozialistischen Furors vor unseren Augen entstehen. Ihre düsteren Bilder der Ereignisse rund um Karnau und seine abgrundtiefen Erforschungen gehen uns ebenso unter die Haut wie die im naiven altrosa gezeichneten Schilderungen aus dem Mund der kleinen Helga Goebbels, die in einer Art Schulheft-Optik eine klare erzählerische Zuordnung erhalten. Ulli Lust durchbricht hier auch immer wieder die Naivität und lässt einen Blick in den Abgrund zu, etwa wenn die Grausamkeit des Nationalsozialismus auf die Goebbels-Kinder übergreift und diese zu den KZ-Aufsehern der eigenen Geschwister macht. Überhaupt ergreift der lärmende Wahn des Nazi-Terrors alle und jeden in diesem Comic. Die nationalsozialistische Gewalt ist nicht nur grenzenlos, sondern auch in jeder Hinsicht entgrenzend. Auch das macht Ulli Lust in ihrer kongenialen Adaption deutlich.
Grandios, anders kann man diese Adaption nicht nennen, ist das vielfältige Stimmen- und Geräuschinventar, welches Lust eigens für diese Adaption entwickelt hat. Es »krick-krackt«,»wampt« und »schlascht«, »flattert« und »bzzzt« überall. »Ssswwwsssswwwww« rauscht die elektrische Spannung aus den schweigenden Lautsprechern im Führerbunker, »Tak-Tak« hallen die Hackenschläge durch die leeren Flure und mit einem klatschenden »Flack« schlägt der Blitz des Fotoapparats sein helles Licht in den Raum. Und der Flügelschlag der Flughunde, die Roman und Comic ihren Namen leihen, durchbricht mit »Flap-Flap« die Stille, die das menschliche Ohr umgibt. Sie selbst hören natürlich noch viel mehr. »Die Welt der Geräusche ist sehr viel größer, als wir uns vorstellen können«, heißt es dazu in Beyers Roman. Ulli Lust lässt uns mit ihrer Comic-Adaption diese Größe erahnen – nachhaltiger und treffender, als dies Beyer allein mit Worten vermochte.
Homepage von Ulli Lust: www.ullilust.de
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