Artbooks, Fotografie

Alle Macht geht vom Volke aus

Als die Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in Prag einmarschieren, zeigte der Realsozialismus einmal mehr seine repressive Fratze. Josef Koudelkas Fotografien aus dem umkämpften Prag beweisen eindrucksvoll, dass der Sozialismus nicht im Stande war, Vernunft und Menschlichkeit der Prager Bürger zu zerstören.

Was schrieb noch einst Karl Marx, der Vater alles Kommunistischen in seinem Manifest? Die Kommunisten sollten sich um die Verbindung aller »demokratischen« Parteien bemühen, um ihre Zwecke durch einen »gewaltsamen Umsturz« erreichen zu können. »Mögen die herrschenden Klassen vor der kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.« Als jedoch im Prag des Jahres 1968 die schlauer gewordenen Reformkommunisten die starren Ketten des sowjetischen Urkommunismus abstoßen wollten, waren es die eigenen kommunistischen Brüder und Schwestern in den Ostblockstaaten, die ins Zittern gerieten. Mit der Absicht, die demokratischen Bestrebungen des tschechoslowakischen Volkes niederzuschlagen, fielen die Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 aggressiv und rücksichtslos in das Land des Brudervolkes ein. Dort trafen sie zu ihrer Überraschung auf ein, angesichts des Überfalls, zutiefst einiges, stolzes und friedliches Volk. Der Warschauer Pakt hingegen zeigte sich einmal mehr als ängstliches und wütendes Tier, das in der gefühlten Bedrohung der Reformen wild um sich schlägt.

Begonnen hatte die Zeit der tschechoslowakischen Reformen bereits am 25. Juni 1967 auf dem vierten Schriftstellerkongress, wo der Literat Milan Kundera seine Vorstellungen der landeseigenen »Unerträglichen Leichtigkeit des Seins« skizzierte. Unter Beifallsstürmen forderte er Rede- und Pressefreiheit sowie die Herausgabe aller verbotenen Bücher. Es kam zum Bruch einer Verbindung, wie sie enger in keinem der anderen Ostblockstaaten bestand – der Verbindung zwischen der Kommunistischen Partei (KP) und den Intellektuellen. Im Januar 1968 löste der Slowake Alexander Dubček den bisherigen Parteichef Antonín Novotný ab. Dubčeks »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« machte ihn landesweit zur tschechischen Ikone. Das »Manifest der 2000 Worte«, im Juni 1968 von verschiedenen tschechoslowakischen Intellektuellen unterzeichnet, kritisierte zwar die bisherigen Reformbemühungen als nicht ausreichend, die Verfasser erkannten jedoch die tschechoslowakische Lehre aus den Fehlern des Sozialismus und sicherten der tschechischen Regierung ihre Unterstützung zu, falls es zu einer Bedrohung von außen kommen sollte: »Wir können aber der Regierung versichern, dass wir hinter ihr stehen werden, wenn nötig mit Waffen.«

Von dieser Vorgeschichte findet sich nicht ein Bild in Josef Koudelkas Fotosammlung »Invasion Prag 1968«, doch schwebt sie in jedem seiner Fotografien. Heimlich schmuggelte er diese außer Landes, so dass sie nach New York gelangten. Um seine Familie zu schützen lancierte die weltweit bekannteste Fotoagentur Magnum die Bilder anonym in der Weltpresse. Koudelka wurde für die Bilder, zunächst anonym, mit dem Robert Capa Award, einem der wichtigsten Fotografenpreise weltweit, ausgezeichnet. Die in seinem Fotoband zum Teil erstmals veröffentlichten Abzüge Koudelkas zeugen von einem zusammenstehenden Volk, das trotz aller Widrigkeiten hinter seiner Staats- und Parteiführung steht. Und dies nur, weil Dubčeks KP den Mut aufbrachte, längst überfällige Veränderungen auf den Weg zu bringen. Aus diesem Grund entsandten die sozialistischen »Bruderstaaten« in der Nacht vom 20. zum 21. August fast 400.000 voll ausgerüstete Soldaten in die Tschechoslowakei und es begann die gewalttätige Niederschlagung der samtenen Revolution der Prager Bürger.

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Josef Koudelka: Invasion Prag 1968. Verlag Schirmer/Mosel 2008. 295 Seiten. Mit 250 S/W-Fotografien. 49,80 Euro

Koudelka hielt diese in allen Facetten und Nuancen fest. Er zeigt die Entschlossenheit und den Stolz in den Blicken der Protestierenden, die sich ihrer Mission und ihrem gemeinsamen Willen sicher sind. Er zeigt aber auch die Verzweiflung, die Trauer und den Schmerz, die die zahlreichen Toten und Verletzten unter den Prager Bürgern ausgelöst haben. Vielzählige Augenzeugenberichte geben darüber hinaus einen zusätzlichen Einblick in die individuellen dramatischen Schicksale der Prager Bürger in den Augusttagen des Jahres 1968.

Doch es ist vor allem die Symbolik, die Koudelkas Bilder so einmalig repräsentativ für die kollektive tschechische Vernunft machen. Immer wieder taucht auf seinen Bildern die mit dem Blut eines erschossenen Pragers befleckte tschechoslowakische Nationalflagge auf, die Demonstration um Demonstration mahnend anführte. Man sieht Prager Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und allen Alters, wie sie versuchen, friedlich mit den einmarschierenden Soldaten ins Gespräch zu kommen, um diese von der Torheit ihres Vorgehens zu überzeugen. Die Ereignisse im August 1968 in Prag erzählen viele Geschichten, die Koudelka einzigartig festgehalten hat. Seien es die entfernten oder unkenntlich gemachten Straßen- und Namensschilder in Prag, die die Invasoren orientierungslos machen sollten. Oder die jungen Prager Frauen, die mit kurzen Röcken bekleidet die in den Panzern sitzenden Soldaten des Warschauer Paktes in Verlegenheit bringen wollten. Oder einfach nur die Menschenmassen, die mit ihrer bloßen Anwesenheit Panzerfahrzeuge zum Stillstand brachten und Soldaten zum Ausharren zwangen.

Koudelka war, wie so viele, gefangen zwischen 1938 und 1968. Aufgewachsen mit dem tschechoslowakischen Trauma des Münchener Abkommens, mit dem ein Großteil der Tschechoslowakei an Deutschland abgetreten wurde, erlebte er die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes als einen erneuten Überfall einer wahnsinnig gewordenen Großmacht. Und wie Koudelka ging es einem ganzen Land. Parolen wie »Breschnew = Hitler« »München 1938 – Moskau 1968« oder »Die Deutschen wollten uns für tausend Jahre, die Russen auf ewig« zierten ebenso zahlreich Häuserwände wie Hakenkreuze die russischen Panzer. Und dennoch ging den Pragern nicht der Blick für das Wesentliche abhanden. Eine umfangreiche Sammlung an Pressemeldungen, Zeitungsartikeln, Zeitzeugenaussagen und Parolen machen dies deutlich und Koudelkas Fotoband zu einem historischen Dokument der reflektierten Prager Realität im August 1968. »Wir bewegen das Gewissen der Welt, über uns weiß man das Meiste. Auch deshalb müssen wir durchhalten, ohne das geringste Anzeichen dafür, dass wir uns damit abgefunden hätten, ein – vornehm ausgedrückt – weiteres Gubernium zu sein.«, zitiert der Fotoband einen Artikel aus dem tschechoslowakischen Magazin »Mladý svět«.

Und das ist wohl das Faszinierendste an den Ereignissen im August 1968 – die Prager bewahrten zu jeder Zeit die Übersicht, Ruhe und Besonnenheit, zu der sie ihre Regierung immer wieder aufrief. Sie bewahrten sich so den Blick für das große Ganze, so wie es auch Josef Koudelka mit seinen eindrucksvollen und aufklärenden Fotografien getan hat. Fast 250 Bilder seiner Serie über das Ende des Prager Frühlings sind nun in dem opulenten und erstklassig erweiterten Fotoband »Invasion Prag 1968« versammelt. Sie hinterlassen einen imposanten und nachhaltigen Eindruck der Geschehnisse und Atmosphäre im Prag des August 1968 und geben einen Eindruck dessen wieder, wie es 1989 auch in der ehemaligen DDR hätte enden können. Diese Bilder lassen den Betrachter von der Willenskraft des tschechischen Volkes schwärmen, machen aber auch zu sehr deutlich, wie machtlos der Wille eines Volkes im Angesicht eines martialischen bewaffneten Gegners ist.

Die eingebetteten Bilder sind aus dem Archiv von Magnum Photos zu Josef Koudelka.