Mit dem norwegischen Film »Utøya 22. Juli« von Erik Poppe war am Montag der bislang stärkste Beitrag im Wettbewerb zu sehen. Die junge Schauspielerin Andrea Berntzen trägt den Film über das Attentat auf das Jugendcamp der norwegischen Sozialdemokraten auf der Insel Utøya im Sommer 2011 in beeindruckender Manier auf ihren Schultern.
»Es ist die Polizei, die auf uns schießt«, sagt der junge blutüberströmte Mann außer Atem, der sich in den Wald zu einer Gruppe verängstigter Jugendlicher geflüchtet hat. Vor etwa zehn Minuten hat Anders Breivik das Feuer auf das Sommercamp der norwegischen Sozialdemokraten eröffnet, das diese auf der kleinen Insel Utøya errichtet haben. Niemand weiß, was da gerade eigentlich geschieht, man hört nur unaufhörlich die Schüsse und sieht verängstigte Jugendliche, die panisch in alle Richtungen vom Zeltlager wegrennen. Ist es nur eine Übung oder hat es etwas mit der Explosion in Oslo zu tun, die wenige Stunden zuvor stattgefunden hat und es gerüchteweise bis ins Zeltlager geschafft hat? Und wie viele Menschen schießen da eigentlich um sich? Und warum? Todesangst und Panik sind in dieser Situation physisch spürbar und greifen auf die Zuschauer über. Angespannt sitzen sie im Kino und sehen (mit dem Wissen, was sich auf Utøya ereignet hat) zu, wie die Jugendlichen um die 19-jährige Kaja versuchen, das Unfassbare zu greifen. Mit der Information, dass die Polizei auf Jugendliche schießt, geht endgültig das verloren, was man Vernunft und Rationalität nennen kann. Dieses Abgleiten in das, was hier als »Vertrauensverlust in die Welt« bezeichnet werden soll, wird sich in der folgenden Stunde noch ein paar Mal beobachten lassen. Denn warum kommt niemand den Kindern zu Hilfe? Wieso dauert es so lange, bis jemand eingreift und dem Blutbad ein Ende macht?
Vom ersten Schuss bis zum Abspann des auf Basis von Zeugenaussagen die Ereignisse nachzeichnenden Films vergehen genau 72 Minuten. Das entspricht exakt der Dauer des Attentats, bis endlich Hilfe kam und dem kaltblütigen Morden des norwegischen Rechtsextremisten ein Ende bereitet wurde. Es sind 72 Minuten Hölle, in die Erik Poppe und seine beiden Drehbuchautorinnen Siv Rajendram Eliassen und Anne Bache-Wilg ihr Filmteam und mit ihnen die Zuschauer stürzen. Die Entscheidung, dabei alles auf eine Karte zu setzen und die Ereignisse aus der Perspektive der 19-jährigen Kaja zu zeigen, ist eine ebenso kluge wie mutige. Aufgrund der beeindruckend emotionalen Verkörperung durch Andrea Berntzen geht das Konzept aber vollkommen auf. Ihr gelingt es, zu zeigen, was es heißt, als Mensch das Schlimmste zu erleben, was man sich vorstellen kann. Und dann erinnert man sich noch einmal an die ersten Sekunden des Films, in denen erst nur der Wald zu sehen ist und dann Kaja vor die Kamera tritt und sich mit folgendem Satz an die Zuschauer richtet: »Das wirst Du nie verstehen, also hör einfach mal zu.« Dann beginnt die Nacherzählung der Ereignisse vom 22. Juli 2011.
Dabei bleibt die Kamera von Martin Otterbeck immer eng an der 19-Jährigen dran. Sie folgt der charismatischen Jugendlichen aus dem Zeltlager in den Wald, wo sie erst mit ein paar Freunden hinter einem Baum Deckung sucht, um sich dann noch einmal allein zu den Zelten zurück zu schleichen, wo sie ihre jüngere Schwester Emilia sucht. Ab diesem Moment ist Kaja auf sich allein gestellt, denn sie trifft Emilia nicht an. Stattdessen stößt sie auf einen kleinen Jungen, der unter Schock zwischen den Zelten sitzt und auf seinen Bruder wartet. Sie schickt ihn in den Wald, wo er sich in Sicherheit bringen soll. Als sie dort selbst wieder Zuflucht sucht, trifft sie auf ein schwer verletztes Mädchen, das sie nicht allein zurücklassen kann. Später flieht sie selbst an den Rand der Insel, um sich im Schatten der Felswände vor den Schüssen zu verstecken. Auf die Idee, ihr bei dieser tour d’horreur den heldenhaften Zug vorzuwerfen, der ihr dabei zukommt, kann nur kommen, wer nicht verstanden hat, dass diese junge Frau von ihrem Selbstverständnis nach ein Charakterkopf ist, der vorangeht.
Nur selten wagt sich Otterbecks Kamera während dieser ewig langen 72 Minuten etwas weiter aus einer Deckung hervor, als Kaja selbst. Und selbst dann zeigt der Bildausschnitt nur den feuchten Wald, durch den immer wieder Schreie und Schüsse hallen. Im Hintergrund laufen immer wieder Jugendliche auf der Flucht vor den Schüssen durch das Bild. Erst am Ende des Films sieht man den Attentäter, wie er auf die Jugendlichen zielt, die versuchen, von der Insel wegzukommen.
Dieser brutale Kampf um Leben und Tod gegen eine unsichtbare und unbekannte Bedrohung wird in langen Takes festgehalten. Erst hier wird die außerordentliche Qualität des Filmes sichtbar, weil es dafür nicht nur einen ausgezeichneten Kameramann braucht, wie man ihn in Martin Otterbeck hier entdecken kann, sondern auch eine Hauptdarstellerin, der es gelingt, in den langen Aufnahmen glaubhaft dieses Wechselbad der Gefühle zu transportieren. In ihrem Debütfilm meistert Andrea Berntzen die Herausforderung, ihrem Charakter – der die anderen aufrichten soll und selbst von Panik geschüttelt wird – Authentizität und Glaubhaftigkeit einzuverleiben. Und bei all dem hat sie auch die Ruhe bewahrt, als sich beim Dreh eine Mücke auf ihrem Arm niedergelassen hat. Der fassungslose Blick angesichts dieses Einbruchs der Normalität in die Extremsituation spiegelt die Schockstarre, in der sich Kaja in diesem Moment befindet. In diesem Moment sieht man sie innerlich förmlich ins Bodenlose fallen. Diese Performanz steht bei der bisherigen Berlinale für sich, Berntzen trägt diesen Film fast im Alleingang auf ihren Schultern.
Auf die Ereignisse auf Utøya angesprochen sagte Erik Poppe auf der Pressekonferenz zum Film: »Worte können nur begrenzt beschreiben, was dort geschah. Es ist nicht in Worten fassbar, was passiert ist«. Ein Spielfilm sei daher nicht das falsche Mittel, um die Erinnerung wach zu halten. Dem pflichtet auch Lisbeth Kristine Røyneland bei, die der norwegischen Opfer-Selbsthilfegruppe vorsteht. Der Film sei sehr wichtig, weil er daran erinnere, was passieren kann, wenn jemand radikalisiert wird und weil er den Fokus weg vom Terroristen Breivik zurück auf die Opfer lenke. »Wir sind es so leid, immer wieder von ihm zu hören«, sagte sie der DPA. »Es ist fast, als sei vergessen, was da draußen geschah.« Erik Poppes Spielfilm sorgt dafür, dass all das, was seit dem 22. Juli 2011 vergessen wurde, wieder in unser Bewusstsein rückt und dort so schnell nicht wieder verschwindet.
[…] die meisten Diskussionen hat Erik Poppes Spielfilm zum Massaker auf der norwegischen Insel Utøya gesorgt. Der packende Thriller zeichnet in Echtzeit die Ereignisse aus Opferperspektive nach, die […]
[…] zudem lohnenswert, sich mit ihren Gedanken zum 22. Juli und dem Komplex des »nationalen Traumas« rund um die Ereignisse von Utøya auseinanderzusetzen. Dafür hat sie die Gedenkstätte Utøya besucht, sich alle Texte zum 22. Juli […]
[…] auf die Leinwand. Dabei geht es nicht darum, das Attentat voyeuristisch nachzustellen, wie es Erik Poppe mit seinem Drama »Utøya« vorgeworfen wurde. Der spanische Regisseur will den emotionalen Verlauf des Abends und die […]
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