Gus van Sant und Joaquin Phoenix erobern auf Rädern die Berlinale. Ihr hinreißender Film »Don’t worry, he won’t get far on foot« erzählt die Geschichte des Alkoholikers, Rollstuhlfahrers und Cartoonisten John Callahan.
Zwei Cowboys stehen ratlos vor einem im Sand steckenden Rollstuhl und schauen in die Tiefe des Bildes. »Mach dir keine Sorgen«, sagt der eine zum anderen, »der wird zu Fuß nicht allzu weit kommen.« Das ist der Witz der einfachen Cartoons, mit denen der 1951 in Portland geborene John Callahan berühmt geworden ist und die Gus van Sant (Promised Land, Milk, Elephant, Good Will Hunting) in seinem herzergreifend tragikomischen Biopic immer wieder einbindet. Denn diese ironische Konfrontation mit der Wirklichkeit ist vielsagend für Callahans Verarbeitung des eigenen Schicksals in seinen Zeichnungen.
Seit einem fatalen Unfall saß Callahan bis zu seinem Tod im Jahr 2011 im Rollstuhl. Seine Biografie ist Grundlage des Drehbuchs für van Sants Film. Demnach wacht Callahan am letzten Tag, an dem er noch auf eigenen Füßen stehen kann, mit einem tierischen Kater auf. Er macht sich umgehend auf die Suche nach etwas Trinkbarem und wird bis zu dem tragischen Unfall, der ihn in den Rollstuhl brachte, keinen nüchternen Gedanken mehr erleben. Dass er das Auto, in dem er verunglückt ist, nicht selbst gefahren hat, ist mehr als nur Ironie des Schicksals. Er wird diesen Umstand viele Jahre vor sich herschieben, um sich vor der eigenen Verantwortung an seinem Leben im Rollstuhl zu drücken. Erst Jahre nach dem Unfall wird er in einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker den Gedanken zulassen, dass er sich nur deshalb neben seinen stockbesoffenen Saufkumpan Dexter (Jack Black) ins Auto gesetzt hat, weil er selbst so betrunken war, dass er kaum mehr aufrecht gehen konnte.
Diese Erkenntnis ist Grundlage für Schritt 10 des zwölf Schritte zählenden Konfrontationsprogramms der Anonymen Alkoholiker, der da lautet »Vergib dir selbst!«. Vorher galt es einzusehen, dass man dem Alkohol gegenüber machtlos ist, dass man einen neuen Sinn im Dasein finden muss und dass man allen anderen vergeben muss, die einen zur Wut und von dort zur Flasche gebracht haben. Dieser Prozess ist hart, aber auch unumgänglich. Nichts für Feiglinge, wie Callahan – grandios von Joaquin Phoenix verkörpert – seine Therapiegruppe klar macht. Diese Ersatzfamilie trifft sich regelmäßig in der Villa des warmherzigen Donnie (in umwerfender Lässigkeit gespielt von Jonah Hill), um über die Bewältigung der Alkoholsucht zu sprechen.
Dort fällt Callahan nicht auf, weil er multipel behindert im Rollstuhl sitzt und auf fremde Hilfe angewiesen ist, sondern weil er eine ordentliche Portion Selbstmitleid vor sich herträgt. Denn er sei eigentlich nicht alkoholkrank, sondern traumatisiert von der Abwesenheit seiner Mutter. Von der wisse er nur drei Dinge: dass sie irisch-amerikanischer Herkunft sei, rote Haare gehabt und als Lehrerin gearbeitet habe. Ach ja, und dass sie ihn nicht hätte haben wollen. Dass all das nicht als Erklärung für seine Sucht reicht, machen ihm die Mitglieder der von Donnie mit der Ruhe des Laotse-Jüngers geleiteten Therapiegruppe deutlich. Beth Ditto in der Rolle der unwiderstehlichen Kratzbürste Reba und Tony Greenland als gelangweilter Pfleger Tim sind nur zwei aus dieser illustren Outsider-Familie, in der John regelmäßig an seine Grenzen geführt wird.
Dass er es überhaupt in diese therapeutischen Sitzungen schafft, ist Annu (Rooney Mara) zu verdanken, die er in der Reha kennenlernt und in die er sich unsterblich verliebt. Mit ihr begreift er, dass auch ein Leben im Rollstuhl lebenswert sein kann, wenn man es nur in seine Hände nimmt und nicht ein zweites Mal fallen lässt. Annu ist es auch, die ihn immer wieder ermuntert, seine Gedanken und Alltagsbeobachtungen in schwarzhumorige Cartoons zu überführen.
Don’t worry, he won’t get far on foot lebt von Joaquin Phoenix’ umwerfenden Spiel. Er taucht in die Rolle des lebenshungrigen, wütenden, leidenden und mit sich und der Welt ringenden Cartoonisten, der entgegen aller Umstände einen Neuanfang sucht, mit Leib und Seele ein. Dem unkontrollierten Zittern vor dem erlösenden Drink und dem Gefangensein in einem zerstörten Körper verleiht er ebenso glaubhaft Ausdruck wie der Freude an den kleinen Dingen des Lebens oder der Kraft, die Freundschaft und Liebe zu geben vermögen. Und wenn er in seinem motorisierten Rollstuhl ohne Rücksicht auf Verluste durch Portland düst, mit Passanten auf der Straße seine neuesten Cartoons diskutiert oder mit einigen Kids auf die Skaterrampe fährt, werden die Wut auf die verpassten und die Lust auf die noch kommenden Chancen gleichermaßen spürbar.
[…] gehören Gus van Sants rasantes Porträt des kanadischen Cartoonisten John Callahan mit dem Titel Don’t worry he wont get to far by foot, Mani Haghighis skurriler Krimi Khook sowie Thomas Stubers bewegendes Großmarktepos In den […]