Auf der Erkundung nach einer neuen Weltordnung orientiert sich Andrea Böhm an alten Weltkarten und neuen Mustern. Unter dem Erbe vergangener Jahrhunderte entdeckt sie neue Konfigurationen, in denen der Westen nur noch am Rande vorkommt.
Schon ihr Debüt Gott und die Krokodile – Eine Reise durch den Kongobrachte Andrea Böhm höchste Anerkennung ein. Ein Erstling, der 2011 zurecht für den Leipziger Sachbuchpreis nominiert wurde. Der Autorin wurde zugutegehalten, ein differenziertes und kritisches Porträt des zentralafrikanischen Landes und seiner Bewohner zu geben, ohne sich von schwarzmalerischen oder abfälligen Ausführungen treiben zu lassen. Ein Porträt, das Sympathie bezeugt, trotz aller Widersprüche, Überforderungen und Dysfunktionalitäten.
Die 1961 in München geborene Journalistin ist aktuell Korrespondentin der ZEIT in Beirut und verfasst für diese Wochenzeitung Berichte, Beobachtungen und Beschreibungen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Nun hat sich Andrea Böhm auf eine Erkundungsreise über vier Kontinenten begeben, um dort den Neukonfigurationen der Welt nach dem Ende der westlichen Weltordnung nachzuspüren. Als Wegweiser dient ihr eine Weltkarte aus dem 15. Jahrhundert, verfasst von einem venezianischen Mönch mit dem Namen Fra Mauro. Der Kamaldulenser Mauro fertigte seinen Blick auf die Welt zwischen 1457 und 1459 im Auftrag des portugiesischen Königs Alfons V. an. Seine Weltkarte beruhte auf der antiken Geographie des Ptolemäus, er ergänzte die Karte mit Erläuterungen und Kommentare, mit denen er seine zeitgenössischen Erkenntnisse, Einsichten und sein Wissen über Länder, Regionen und Orte der damaligen Welt zum Besten gaben. Als Mappa Mundi stellte sie die geographische Quintessenz einer Zeit dar, in der nicht mehr, wie es die mittelalterliche Vorstellung vorsah, Jerusalem das Zentrum der Welt war, sondern Bagdad, und in der nicht der Norden oben stand, sondern der Süden. Der Venezianer beschrieb eine Welt, in der sein Heimatkontinent Europa noch nicht das Zentrum der Welt war, sondern eine randständige Position innehatte, und in der Amerika noch nicht existierte. Keine 40 Jahre später waren die Erkenntnisse des Kamaldulensers obsolet, war ein neuer Kontinent aus den geographischen Untiefen des Globus erschienen, der den Kontinent am Rande des riesigen asiatischen Erdteils in den Mittelpunkt der Welt schob. 500 Jahre lang blieb Europa der Mittelpunkt der Welt, bestimmte die Geschicke und vor allem Ungeschicke anderer Kontinente, bis er nun wieder an den Rand des Weltgeschehens gedrückt wird.
Dass sie in dieser Welt die Orientierung verloren habe, gesteht die Autorin unumwunden. Deshalb macht sie sich auf die Reise, um die Welt nach der westlichen Ordnung kennenzulernen. Nach einem Aufenthalt in der Heimatstadt von Fra Mauro startet Andrea Böhm in Mogadischu, und verweist damit auf den Titel ihres Buches: Das Ende der westlichen Weltordnung. Die Hauptstadt Somalias verweist in der Tat auf ein frühes Ende der westlichen Weltordnung nach 1989. Mit der Operation Restore Hope fand dort im Dezember 1992 die erste humanitäre Intervention des Westens statt, die so bitterlich für die USA enden sollte. Restore Hope implodierte kurz nach der sogenannten Schlacht von Mogadischu am 3. und 4. Oktober 1993, die mit dem Tod von 18 US-amerikanischen Soldaten den bis dahin verlustreichsten Kampfeinsatz des US-Militärs seit dem Vietnamkrieg darstellte. Ins Gedächtnis der Welt brannte sich das Bild eines US-Soldaten ein, der tot durch die Stadt geschleift wurde. Es dokumentierte die Verwundbarkeit des Westens. Ein halbes Jahr später, am 25. März 1994, wurden fast alle US-Soldaten aus Somalia abgezogen. Bill Clinton, der damalige Präsident der USA, zog aus dem Desaster von Mogadischu die Konsequenz, sich in den Folgejahren nur noch zurückhaltend an Blauhelm-Einsätzen zu beteiligen. Als es 1994 zum Völkermord an den Tutsi kam, den 800.000 bis eine Million Menschen mit ihrem Leben bezahlen mussten, schaute die Welt zu.
Die Operation Restore Hopedrückte eine beeindruckende Konstellation von Optimismus, Naivität und Hybris aus. Eine Kombination, die sich womöglich nur während jenes besonderen Zeitgeists jener kurzen Jahre zwischen Herbst 1989 und Herbst 2003 entfalten konnte. Der Hauch historischen Wandels zog sich durch die bipolare Welt. Die Hardrock Band Scorpions – mit ihrer Musik bis dahin frei jeder politischer Betrachtung – verwies auf das grundsätzlich Neue, das sich im Frühjahr und Sommer 1989 – noch vor dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs – Raum bahnte. Sie textete folgende Zeilen:
Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow share their dreams
With you and me
Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change
Allerorten wurde der »wind of change« gefeiert und besungen. Kein Text, keine Schrift steht für diese Zeit so paradigmatisch wie Das Ende der Geschichtevon Francis Fukuyama. Rückblickend stellt sich die Frage, ob man sich mehr über die Naivität Fukuyamas wundern soll oder noch über die naive Rezeption dieses Textes. Es ist wohl vielmehr die naive Rezeption, die nach fast drei Jahrzehnten bitter aufstößt. Rezipiert wurde in Fukuyamas Text die Zwangsläufigkeit, die der Entwicklung von Geschichte angeblich innewohnt. Die Geschichte habe 1989 bewiesen, dass totalitäre Systeme zum Scheitern verurteilt sind und dass die liberale Demokratie war, die den Systemkampf zwischen Liberalismus, Faschismus und Kommunismus gewonnen habe. Mit dem Liberalismus haben sich nun seine Grundgedanken festgesetzt und sind zur gesellschaftspolitischen Norm geworden. 2018 erntet man für diese Thesen nur noch Hohn und Spott, 1990 wirkten sie normativ. Vor allem auch, weil Fukuyama es gelang, ein Gefühl von politischem Wandel zu transportieren, das im Frühjahr und Sommer 1989 um sich griff. Fukuyama dachte noch nicht an ein neues viertes, das den Liberalismus herausfordern könnte. Samuel Huntington sollte dies im Sommer 1993 tun, als er in Foreign Affairs seinen Artikel mit der Überschrift The Clash of Civilizationsveröffentlichte und den Titel noch mit einem Fragezeichen versah. Das Fragezeichen strich er, als drei Jahre später ein Buch mit dem gleichen Titel publizierte.
1993 war das Jahr, in dem die Hoffnungen einer neuen, friedvolleren Weltordnung scheiterte. Somalia ist bis heute gescheitert, es ist weiterhin ein failed state. Geplagt von Hungerkrisen wie in den Jahren 2011 oder 2015/2017. Eines der Länder mit der weltweit größten Bevölkerung an Flüchtlingen und intern Vertriebenen. Eines mit der niedrigsten Bildungsrate: Schätzungsweise 13 Prozent der Jungen und lediglich sieben Prozent der Mädchen besuchen eine Schule. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 51 Jahre. Die Sicherheitslage ist so schlecht und prekär, dass das deutsche Auswärtige Amt für das Land am Horn von Afrika eine Reisewarnung ausgegeben und seine Botschaft geschlossen hat.
In der Hauptstadt Somalias spürt Andrea Böhm den Kriegsgeschehen und den Orten der Schlacht von Mogadischu nach. Unter anderem besucht sie gemeinsam mit ihrem nebenbei mit allerlei Dingen beschäftigten Leibwächter das Quartier, wo Mohamed Farah Aidid, Warlord und somalischer Hauptgegner der Amerikaner, und wichtige Berater aus seinem Clan am 12 Juli 1993 festgenommen werden sollten. Es kam stattdessen zu »einem Massaker an der zivilen Elite eines der mächtigsten Klans« Somalias. Es wurde als Kriegserklärung der USA an das ganze Land wahrgenommen. Als westliche Reporter die Zerstörung dokumentiert wollten, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Vier Ausländer wurden getötet. Sie waren, wie Böhm schreibt, keine neutralen Beobachter mehr, sondern Teil der Besatzungsmacht. Einige Tage später sollte die Journalistin erfahren, dass ihr treuer Begleiter zum selben Clan gehört wie Mohamed Aideed.
Das klägliche Scheitern der USA in Somalia hinderte die letzte verbliebene Weltmacht 2002/2003 nicht, einen ähnlichen Fehler im Irak zu wiederholen. Die Vorzeichen waren nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 verändert, die Hoffnung war dieselbe, über eine militärische Besetzung ein diktatorisches System zu einer demokratischen Gesellschaft zu wandeln. Die Auswirkungen dieses beispiellosen Desasters sind bis heute im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Der Dritte Golfkrieg besiegelte das Ende der kurzlebigen westlichen Weltordnung endgültig.
Auch in den Irak treibt es Andrea Böhm, in das Land, das Fra Mauro als Mesopotamia – das Land zwischen den Flüssen – bezeichnete. Gleich mehrere Geschichten berichtet sie aus diesem Land. Eine Geschichte handelt von ihrer Suche nach der Bagdader Konzerthalle. Dort hatte 1963 Duke Ellington ein begeisterndes und begeistert aufgenommenes Konzert gegeben. Jazz war Bestandteil der damaligen Soft-Power-Strategie der amerikanischen Regierung. Nicht die klassische Musik weißer toter Männer, sondern der moderne Stil junger, farbiger Musiker sollte anziehend und anregend wirken. Diversität als gesellschaftliche Norm, friedvolles Zusammenleben trotz aller Unterschiedlichkeiten als gesellschaftliche Realität. 26 Jahre später spielte sich am gleichen Ort ein politischer Schauprozess ab. Saddam Hussein, gerade eben Staatschef geworden, ließ in der vollbesetzten Konzerthalle die Namen anwesender hoher Politiker verlesen, die Namen vermeintlicher »Verräter«. Diese wurden sogleich verhaftet und kurz darauf »demokratisch hingerichtet«. Die nicht Aufgerufenen stimmten erleichtert in einen Jubelsturm auf den Diktator ein. Auch so kann man Gefolgschaft organisieren.
Trotz alledem ist Das Ende der westlichen Weltordnungein Buch des trotz alledem. Andrea Böhm hat Geschichten voller Hoffnung gesammelt. Geschichten von Menschen, die sich aller Widrigkeiten zum Trotz für eine bessere Welt engagieren. Wie die Geschichte jenes jungen Mannes in Bagdad, der seine Kraft in die Ausrichtung von Marathonläufen einsetzt. In seinen bisher 25 Lebensjahren hat er nur Saddams Gewaltregime und Bombenterror kennenlernen dürfen, und dennoch organisiert er unverdrossen Marathonläufe als Zeichen der Hoffnung und des Widerstands gegen die alltägliche Gefahr. In den arabischen Marschen kommt sie mit einem Ingenieur zusammen, der diese einzigartige Landschaft renaturalisiert. In Somaliland stößt sie auf eine 80-jährige Ärztin, die ein Krankenhaus leitet. Somaliland ist ein Land, das es offiziell nicht gibt, ein Bestandteil von Somalia, das sich unabhängig machen möchte. Ein Land, das erfolgreicher performt als Somalia. Ein Land, das ohne oder nur mit wenig Einmischung durch den Westen entstand und entsteht. Es bestand dort immer der Anreiz, für die Bevölkerung das Land gut zu gestalten, nicht um westlichen Geldgebern zu gefallen. Und so ist ein Staat im Staat entstanden, das eine islamische Verfassung aufweist mit einer Justiz, die modernes Recht mit dörflichen Traditionen kombiniert. Andrea Böhm schreibt: »Vielleicht stehe ich in Hargeisa« – der Hauptstadt Somalilands – »mitten in einem Zukunftsentwurf: Ein Kollektiv von Menschen mit ausgeprägter nationaler und Klan-Identität. Flexibel, an Schocks von außen und Umbrüche von innen gewöhnt, bestens vertraut mit neuesten Kommunikationstechnologien. Ein hybrides Gebilde in Zeiten, da sich die Macht über Geld- und Warenströme immer weiter von der Politik traditioneller Nationalstaaten entfernt. Das funktioniert seit über 20 Jahren erstaunlich gut.«
Auch die Erkundung auf dem vierten Kontinent – Nowa Amerika – ist eine Geschichte voller Hoffnung. Es schildert eine neue Form des Zusammenlebens von Polen und Deutschen. Ein Zusammenleben in einem virtuellen vierten Kontinent, einer Symbiose polnischen und deutschen Lebens, eine Geschichte, wie das Zusammenleben der Menschen westlich und östlich der Oder sich auch gestalten könnte: Fantasiereich, humorvoll, symbiotisch, sympathisch, augenzwinkernd, ernsthaft ironisch, utopisch.
Gegen Ende des Buches reflektiert Andrea Böhm eine Erfahrung, die den Kreis zu ihrer Ausgangstation Mogadischu schließt. Wir erinnern uns an das Bild des somalischen Mobs, der die Leiche des weißen US-Soldaten durch die Stadt schleift. Es hat sich in das kollektive Gedächtnis des Westens auch deshalb fest gebrannt, weil es verdeutlicht, wie ein Herrschaftssystem kippt. Es ist das Herrschaftssystem des Nordens über den Süden, der Weißen über die Schwarzen, der Ausbeuter über die Ausgebeuteten. Die Autorin schreibt: »Mein deutscher Pass, meine Hautfarbe, meine Herkunft erlauben mir eine Bewegungsfreiheit, die für fast alle Protagonisten in diesem Buch unerreichbar ist. Es ist eine Hierarchie, die wir in Europa und Nordamerika nicht mehr hinterfragen. Westliche Mobilität ist weltläufig, afrikanische oder asiatische entweder bedrohlich oder Ausdruck von Not und Verzweiflung.«
Es ist diese Weltordnung, die zu einem Ende kommt. Dank Andrea Böhm ahnen wir, was kommen könnte. es ist eine Welt, in der die westlichen Vorstellungen von einem richtigen Leben nicht mehr selbstverständlich normativ wirken und in der sie nur noch am Rande vorkommen.